Vortrag von Florian Warweg auf der Nürnberger Literaturmesse zum Nordstream-Anschlag und seinen Folgen

Vortrag von Florian Warweg auf der Nürnberger Literaturmesse zum Nordstream-Anschlag und seinen Folgen

Vortrag von Florian Warweg auf der Nürnberger Literaturmesse zum Nordstream-Anschlag und seinen Folgen

Ein Artikel von: Redaktion

NachDenkSeiten-Redakteur Florian Warweg war vom Promedia-Verlag eingeladen worden, auf der „Linken Literaturmesse Nürnberg“ am 4. November zum Thema mediale und politische Aufbereitung des Nordstream-Anschlags zu sprechen. Hintergrund war die Vorstellung des Sammelbands „Kriegsfolgen – Wie der Kampf um die Ukraine die Welt verändert“. Die NachDenkSeiten dokumentieren für ihre Leser den Vortrag in der verschriftlichten Fassung. Von Redaktion.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Noch vor wenigen Jahren herrschte in der LNG-Branche der USA Katastrophenstimmung. Der Fracking-Boom Ende der 2010er-Jahre hatte für ein massives Überangebot von Erdgas gesorgt. Ab Beginn der 2020er-Jahre lag beispielsweise der Spotmarktpreis am US-Knotenpunkt Henry Hub bei nur noch knapp fünf Euro pro Megawattstunde. Die mit vielen Milliarden US-Dollar vom Finanzsektor ausgestattete US-Fracking-Branche und in logischer Folge auch signifikante Teile des US-Finanzsystems standen angesichts dieser Preisentwicklung vor dem Bankrott.[1] Denn die Investitionen waren, wie im Big Business der USA üblich, mit wenig Eigen-, aber sehr viel Fremdkapital getätigt worden. Zur Verhinderung des sich anbahnenden Zusammenbruchs gab es eigentlich nur eine Möglichkeit: Expansion auf den EU-Markt und hier insbesondere auf den mit Abstand größten Erdgasimporteur mit einem jährlichen Bedarf von ungefähr 100 Milliarden Kubikmetern: die Bundesrepublik Deutschland.[2] Doch welches Interesse sollte Deutschland und sein Industriesektor haben, US-amerikanisches LNG-Gas zu importieren, welches (wohlgemerkt vor Kriegs- und Sanktionsbeginn) um den Faktor 7 teurer war als das via Pipeline ins Land strömende russische Erdgas ? Auf freiwilliger und rationaler Entscheidungsgrundlage natürlich erst mal gar keins.

Wie unter anderem der auf Energiefragen spezialisierte Journalist Jens Berger (Transparenzhinweis: zugleich mein NachDenkSeiten-Kollege) umfassend darlegte, hat erst seit der Eskalation des Ukrainekrieges und den damit verbundenen EU-Sanktionen gegen Russland der Preis für Fracking-Gas ein Niveau erreicht, das es den US-Energiekonzernen ermöglicht, Geld zu verdienen und nicht – wie die Jahre zuvor – massiv Geld zu verlieren.

Doch selbst diese Entwicklung stand bis zum Sommer 2022 noch auf einer nicht besonders nachhaltigen wirtschaftlichen Grundlage. Erst die Sprengung der Nord-Stream-Pipelines hat letzten Endes den Weg frei gemacht, um die EU und insbesondere Deutschland langfristig zu Abnehmern der US-amerikanischen Erdgas-Überschüsse zu machen und den Preis auch langfristig auf einem für US-Frackinggas-Produzenten profitablen Niveau zu halten. Die damit verbundene neue Erdgas-Abhängigkeit ihres EU-„Partners“ passt den US-Amerikanern fraglos ebenfalls ins globalstrategische Dominanz-Konzept. Nach einer Studie des Energiewirtschaftlichen Instituts an der Universität Köln (EWI) werden die USA demnächst nicht nur Russland als wichtigsten Energielieferanten ablösen, sondern nehmen dann für den EU-Gasmarkt mit einem antizipierten Importvolumen von rund 40 Prozent dieselbe dominante Rolle ein wie Russland vor dem Ukraine-Krieg.[3]

So viel zur angeblichen „Reduzierung“ der energiepolitischen Abhängigkeit der EU, die Washington ebenso angeblich am Herzen liegt.

Vieles deutet vor diesem Hintergrund auf eine Täterschaft der USA hin. Der renommierte US-amerikanische Investigativjournalist Seymour Hersh, der unter anderem das My-Lai-Massaker der US-Armee in Vietnam aufdeckte, veröffentlichte am 8. Februar 2023 einen aufsehenerregenden Artikel unter dem Titel „Wie Amerika die Nord-Stream-Pipeline ausschaltete“. Die meisten von Ihnen werden diesen Artikel kennen. Mit Verweis auf einen Whistleblower legt er detailliert dar, wie die USA und Norwegen die Sprengung der Nord-Stream-Pipelines durchführten.[4] Der US-Auslandsgeheimdienst CIA dementierte erwartungsgemäß und erklärte: „Diese Behauptung ist völlig und vollkommen falsch.“ Wie unkritisch dieses CIA-Narrativ dann von deutschen Leitmedien wiedergekaut wurde, ist nochmal ein ganz eigenes Thema, auf das ich später auch noch eingehen werde.

Doch ganz unabhängig davon, ob die USA für die Sprengung von Nord Stream verantwortlich zeichnen oder nicht, sie sind nachweislich die größten wirtschaftlichen Profiteure der Tat. Vor diesem Hintergrund erlangt die Bemerkung von US-Außenminister Blinken wenige Tage nach dem Anschlag noch mal eine ganz andere Relevanz. Blinken hatte am 30. September 2022 auf einer Pressekonferenz anlässlich des Besuches seiner kanadischen Amtskollegin Mélanie Joly die Zerstörung der Nord-Stream-Pipelines unumwunden zu einer „enormen strategischen Chance“ für die USA erklärt.[5]

Ich zitiere:

„Wir sind jetzt der führende Lieferant von Flüssigerdgas für Europa […]. Dies ist auch eine enorme Chance. Es ist eine enorme Chance, die Abhängigkeit von russischer Energie ein für alle Mal zu beseitigen. Das ist sehr bedeutsam und bietet eine enorme strategische Chance für die kommenden Jahre.“

Worin die „enormen strategischen Chancen“ für die USA bestehen, habe ich ja bereits ausgeführt.

Polen, der unterschätzte Akteur in der Causa Nordstream

Der Beschluss zum Bau von Nord Stream 1 fiel in den beginnenden polnischen Wahlkampf des Jahres 2005 und wurde insbesondere von der rechtskonservativen Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (allgemein als PiS bekannt) entsprechend genutzt. Das regierende katholisch-nationale Lager nannte das deutsch-russische Pipelineprojekt wortwörtlich eine „Existenzbedrohung“. Die Kaczyński-Brüder sprachen in diesem Zusammenhang von einem „Schröder-Putin-Pakt“, in direkter Anspielung auf den „Ribbentrop-Molotow-Pakt“ von 1939.[6]

Tatsächlich dürfte die polnische Ablehnung des gesamten Nord-Stream-Projektes aber weniger von sicherheitspolitischen Überlegungen bestimmt gewesen sein als von handfesten finanziellen Interessen – getragen von der Sorge, durch die Ostseepipeline perspektivisch die millionenschweren Transitgebühren zu verlieren, die Warschau Jahr für Jahr aus Moskau erhielt. Denn unabhängiger will man in Warschau nur von Gas-Importen für den eigenen Verbrauch werden. Beim Transit hat Polen sehr wohl Interesse an möglichst hohen Gasmengen, denn diese sorgen für entsprechende Gebühreneinnahmen. Damit wird auch klar, weshalb Polen zwar alles in seiner Macht Stehende tat, um die Ostseepipeline zu verhindern, sich aber gleichzeitig nachdrücklich für den Ausbau der mit russischem Gas gespeisten landgebundenen Jamal-I-Pipeline mit einem zweiten Strang einsetzte, der natürlich über Polen verlaufen sollte.

Zum anderen und wohl noch relevanter sind die seit Jahren in Warschau gehegten und zum großen Teil schon umgesetzten Pläne, wie etwa die taz in einem Artikel von Anfang Februar 2022 mit dem Titel „Polen hofft auf Geschäft mit Gas“ ausführt. Ich zitiere, wohlgemerkt aus der taz:

„Polen will gemeinsam mit den USA den zentraleuropäischen Gasmarkt neu aufrollen und den Deutschen das bisherige Transfergeschäft abnehmen. Zu diesem Zweck hat Polen in Norwegen ausgedehnte Gasförderfelder gekauft, baut zurzeit die Baltic Pipe durch die Ostsee und errichtete an der Ostseeküste bereits gigantische Gaszisternen, in denen das Flüssiggas aus den USA wieder in Gas verwandelt und dann vor allem exportiert werden soll. Das seit vielen Jahren geplante Geschäft wird aber nur dann ordentlich Gewinn abwerfen, wenn Nord Stream 2 nicht an den Start geht und so kein günstiges Gas nach ganz Europa liefert.“

Diese immensen, von Polen mit expliziter US-Unterstützung seit Jahren getätigten Investitionen in Gas-Infrastruktur hatten, wie die taz ja auch ausführt, von Beginn an eigentlich nur wirtschaftliche Erfolgsaussichten, wenn Nord Stream 2 nicht an den Start geht. Und wirklich Gewinn abwerfen könnte dieses Projekt nur, wenn auch Nord Stream 1 nicht mehr in Betrieb wäre.

Bezeichnenderweise eröffneten Regierungsvertreter Polens, Dänemarks und Norwegens die explizit als Alternativ-Pipeline zu russischem Gas konzipierte „Baltic Pipe“ just am 27. September 2022, also nur einen Tag nach dem Sabotageakt gegen Nord Stream. Anlässlich der Einweihung erklärte der polnische Ministerpräsident Morawiecki:

„Diese Gaspipeline bedeutet das Ende der Ära der Abhängigkeit von russischem Gas. Sie ist auch eine Gaspipeline der Sicherheit, Souveränität und Freiheit nicht nur für Polen, sondern in Zukunft auch für viele andere.“[7]

Damit ist wohl der Kern des massiven polnischen Widerstands gegen das Nord-Stream-Projekt offengelegt.

Lasst mich kurz ein Zwischenfazit ziehen:

Während die deutsche und russische Wirtschaft sowie Politik ein nachvollziehbares Interesse hatten, ab Anfang der 2000er-Jahre ihre Energiepartnerschaft zu verstärken und mit Nord Stream über eine Pipeline zu verfügen, die sie unabhängig macht von unzuverlässigen Transferländern mit ganz eigenen Agenden, sieht es insbesondere im Falle der USA und Polens genau spiegelverkehrt aus. Sowohl in Washington wie in Warschau sah und sieht man eine zunehmende Zusammenarbeit von Berlin und Moskau seit Jahrzehnten mit Argusaugen und versucht alles, um diese zu verhindern.

Wenn Drohungen in der Vergangenheit nicht halfen, wurde auch auf Gewalt zurückgegriffen. Erinnert sei nur an die Explosion der sowjetischen Tscheljabinsk-Pipeline im Sommer 1982 aufgrund einer CIA-Operation mit manipulierter Software. Diese brachte die Einstellungen von Pumpen, Turbinen und Ventilen der Gasversorgung so durcheinander, dass die Leitung explodierte. Die Explosion soll eine Sprengkraft von vier Kilotonnen gehabt haben.[8] Zuvor hatten die USA ab Februar 1982 der Bundesrepublik Deutschland massiv mit Konsequenzen gedroht, würde man das im November 1981 mit der Sowjetunion abgeschlossene Industrieabkommen zum Bau von Pipelines und der Lieferung von sibirischem Erdgas im Gesamtvolumen von jährlich 16 Milliarden Mark nicht aufkündigen. Der Unterschied zu heute?

Der damalige Kanzler Helmut Schmidt ließ sich nicht einschüchtern und erklärte an die USA gewandt:

„Da können andere noch so viel quaken, es bleibt bei dem Geschäft.“

Jetzt bin ich weit davon entfernt, einen Helmut Schmidt zu idealisieren, aber der Unterschied zur Reaktion des amtierenden Kanzlers ist schon eklatant.

Aufschlussreich ist übrigens auch die damalige Hauptbegründung des US-Kongresses für das Missfallen an dem Deal:

„Unsere Geschäftsleute werden aus dem östlichen Markt heraus sein.“[9]

Und damit sind wir auch wieder bei einem der Schlüsselergebnisse der Zerstörung von Nord Stream und des Sanktionsregimes gegen Russland. Es fällt ins Auge, dass sowohl das gesamte Business-Modell für das US-amerikanische Frackinggas als auch die im Verlauf der letzten Jahre getätigten umfassenden Investitionen auf polnischer Seite in LNG-Infrastruktur mit dem Ziel des weiteren Exports wirtschaftlich eigentlich nur Sinn machen, wenn die entsprechenden Akteure bereits bei der Planung davon ausgingen, dass man zeitnah in der Lage wäre, den deutschen sowie den weiteren EU-Gas-Markt für sich zu gewinnen. Dieses Ziel war aber nur erreichbar, wenn es Washington und Warschau gelingen würde, Russland als zentralen und etablierten Exporteur aus diesem Markt herauszudrängen. Was vor Kurzem noch in den Augen vieler Experten als US-amerikanischer und polnischer Wunschtraum galt, ist nach den Ereignissen des 24. Februars und 26. Septembers 2022 zu einer Tatsache geworden.

Kommen wir jetzt zur medialen und politischen Aufbereitung des Vorfalls

Zunächst fällt auf, dass außer der Linkspartei und der AfD keine einzige Bundestagsfraktion Interesse an einer Aufklärung zeigt. Entsprechende Anfragen an die Bundesregierung kommen nur von diesen beiden kleineren Oppositionsparteien. Wobei die meisten Fragen, wie etwa auch nach entsprechenden Radaraufnahmen von der BR mit Verweis auf „Geheimhaltungsinteressen“ oder „Staatswohlgefährdung“ schlicht nicht beantwortet werden. Die mit Abstand größte Oppositionsfraktion im Bundestag, die CDU/CSU, hat keine einzige Anfrage dazu an die amtierende Bundesregierung formuliert.

Die Grünen zeigen sich, obwohl das von Ihnen geführte Bundesumweltministerium auf Anfrage erklärte, dass das aus den Pipelines entwichene Gas wohl zu Emissionen von 7,5 Millionen Tonnen CO2-Äquivalenten führen wird, ebenso wenig an Aufklärung interessiert.

Sinnbildlich für die Haltung der Ampelkoalition ist die Aussage des SPD-Bundestagsabgeordneten Timon Gremmels, der am 28. September 2022 im Namen der Koalition anlässlich einer einberufenen „Aktuellen Stunde“ wegen der Zerstörung der Nord-Stream-Pipelines erklärte:

Es ist völlig gleichgültig, ob Nord Stream 1 und Nord Stream 2 nun Lecks haben, wie diese Lecks entstanden sind, ob das Anschläge waren, wer hinter den Anschlägen steckt, weil aus der einen Pipeline noch nie Gas gekommen ist und es aus der anderen seit Wochen kein Gas mehr gegeben hat. – Das ist völlig irrelevant.“

Das muss man, finde ich, erstmal sacken lassen. Der Vertreter der größten Regierungspartei erklärt im Rahmen einer extra einberufenen Aktuellen Stunde im Bundestag wegen eines mutmaßlichen Terroranschlags gegen zivile Infrastruktur wortwörtlich: 

„Es ist völlig gleichgültig, wer hinter den Anschlägen steckt.“

Und an dieser Haltung hält man in der Ampel bis heute fest.

Die Justiz verhält sich ähnlich indifferent. Hier sei beispielhaft darauf verwiesen, dass im Oktober 2022 die russische Generalstaatsanwaltschaft die BRD um Zusammenarbeit bei der Aufklärung des Nord-Stream-Anschlags ersucht hat. In einer diplomatischen Provokation, die ihresgleichen sucht, hat das deutsche Justizministerium zunächst erstmal drei Monate gar nicht reagiert und dann ein Schreiben aufgesetzt, in welchem eine Zusammenarbeit abgelehnt wird. Begründung: „Beeinträchtigung wesentlicher Interessen der Bundesrepublik“. Den sehr aufschlussreichen Schriftverkehr zwischen deutschen und russischen Behörden bzgl. der #NordStream-Ermittlungen kann man im Dokumentensystem der UN nachlesen. Darüber, dass dieser Schriftverkehr im UN-Dokumentensystem veröffentlicht wurde, zeigte sich das deutsche AA übrigens sehr empört.

Medial sieht das Aufklärungsinteresse nicht besser aus

Monatelang zeigten sich bundesdeutsche „Leitmedien“ komplett desinteressiert an der Aufklärung des Terroranschlags gegen eines der teuersten zivilen Infrastrukturprojekte Europas. Das änderte sich schlagartig, als am 8. Februar 2023, wie bereits erwähnt, der bekannte Investigativjournalist Seymour Hersh eine Recherche veröffentlichte, in welcher er nachzeichnete, wie laut seinen Informationen US-Spezialeinheiten auf direkten Befehl von US-Präsident Joe Biden die Sprengung durchführten. Danach gab es kein Halten mehr. Erst wurde versucht, Hersh und seine Recherche zu diffamieren, dann wurde mit eigenen „Recherchen“ nachgelegt. Keine „Theorie“ war zu abwegig, Hauptsache die USA waren nicht mehr als potenzieller Täter im Fokus. Sie kennen alle die von Tagesschau und Zeit als „investigativ“ verkaufte Segelschiff-Nummer mit zwei Tauchern, die dann direkt nach Veröffentlichung korrigiert werden musste, weil man „plötzlich“ nach Leserhinweisen u.a. bemerkte, dass die unter Verweis auf angeblich mehrere Quellen angegebene Route über den Bodden am Wieck am Darß mit einer maximalen Wassertiefe von 2 Metern bei einem Boot mit einem Tiefgang von 2,3 Meter schlicht unmöglich war.

Den mit Abstand absurdesten Erklärungsansatz präsentierte im März 2023 dann die Süddeutsche, die mit Verweis auf „nordische Geheimdienste“ erklärte, ein ukrainischer Oligarch hätte sich den Terrorakt anlässlich seines Geburtstages am 26. September gegönnt und privat organisiert und finanziert. Der einzige bekannte ukrainische Oligarch, der an diesem Tag Geburtstag hat, ist übrigens der ehemalige ukrainische Präsident Poroschenko. Danach wurde angefangen, ausgehend von t-online, mit erneutem Verweis auf nordische Geheimdienste, den Finger wieder ganz direkt auf Moskau zu richten, denn „russische Kriegsschiffe“ hätten sich in mittelbarer Tatortnähe befunden. Betitelt wird das Ganze dann mit „Spuren des Anschlags führen nach Russland“. Als Seymour Hersh dann Ende September 2023 wiederum nachlegte und mit Verweis auf CIA-Quellen erklärte, dass Kanzler Olaf Scholz „voll im Bilde“ gewesen sei „über die geheimen US-Pläne zur Zerstörung der Pipeline“, herrschte wieder mehrheitlich Schweigen im bundesdeutschen Blätterwald. Auf meine diesbezügliche Frage in der Bundespressekonferenz Ende September, ob die Bundesregierung diese Darstellung von Hersh bestätigen könne, hieß es lapidar von der Regierungssprecherin Christiane Hoffman, man wolle solche Berichte nicht kommentieren.

Fazit:

Der Umgang mit dem Nordstream-Terrorakt wirft ein erschreckendes Licht auf den Zustand der deutschen Medienlandschaft. ARD, ZDF, ZEIT, Süddeutsche, Der SPIEGEL, kurz gesagt das gesamte Spektrum der deutschen „Leitmedien“ hat sich im Zuge der Nordstream-Ermittlungen dafür instrumentalisieren lassen, von Geheimdiensten und anderen staatlichen Behörden durchgestochene „Informationen“ in die Öffentlichkeit zu streuen, ohne dies in irgendeiner Form kritisch zu reflektieren. Im Gegenteil, die genannten Medien haben sogar die Unverfrorenheit, das allem Anschein nach völlig unverifizierte Durchreichen von Informationen „aus Ermittlerkreisen“ (siehe das schon erwähnte Beispiel „Wieck am Darß“) dem Leser als eigene „Recherche“ und „exklusiv“ zu verkaufen.

Dass staatliche Behörden und insbesondere Geheimdienste ihre ganz eigenen Agenden haben und dafür auch im Zweifel Journalisten missbrauchen, scheint den sonst so auf ihre Reputation bedachten Redaktionen in Berlin, Hamburg, München oder auch hier in Nürnberg nicht in den Sinn zu kommen. Doch muss man sich mittlerweile fragen, ob das wirklich nur Naivität ist oder ob sich hier ein signifikanter Teil der Medienschaffenden bewusst instrumentalisieren lässt.

Foto1: Zuhörer warten am 4. November 2023 bei der Literaturmesse Nürnberg auf den Beginn des Vortrages von Florian Warweg – Quelle: Florian Warweg

Titelbild: Shutterstock / Frame Stock Footage


[«1] Michael Mazengarb: Climate friend or carbon bomb? Global gas market faces $1.3trn stranded asset risk, in: Renew Economy, 3. Juli 2019

[«2] Jens Berger 2022: Die USA haben den Gaskrieg gegen Russland gewonnen, 9. November 2022

[«3] EWI-STUDIE 2022: Entwicklungen der globalen Gasmärkte bis 2030. Szenarienbetrachtung eines beschränkten Handels mit Russland

[«4] Seymour Hersch: How America Took Out The Nord Stream Pipeline, 8. Februar 2023

[«5] U. S. Department of State, 30. September 2022

[«6] Helmut Fehr: Der Missbrauch der Vergangenheit – politische Kampagnen und Machtstrategien der nationalen Populisten in Polen, in: Frankfurter Rundschau, S. 5, 22. November 2005.

[«7] Wprost: Morawiecki o wybuchach w Nord Stream w dniu otwarcia Baltic Pipe: Bardzo dziwny zbieg okoliczności, 27. September 2022

[«8] Peter Welchering: Hacken im Kalten Krieg – Von den Anfängen des Cyberwars, in: DLF, 13. Februar 2019

[«9] Werner Meyer-Larsen: Der unverziehene Strang nach Osten, in: Spiegel, 21. März 1982