Eine Welle namens Cancel Culture rollt durch das Land – jetzt hat es einen berühmten, verstorbenen Künstler erwischt: Herbert von Karajan.

Eine Welle namens Cancel Culture rollt durch das Land – jetzt hat es einen berühmten, verstorbenen Künstler erwischt: Herbert von Karajan.

Eine Welle namens Cancel Culture rollt durch das Land – jetzt hat es einen berühmten, verstorbenen Künstler erwischt: Herbert von Karajan.

Ein Artikel von Frank Blenz

Das geht heutzutage im deutschen Kulturbetrieb ruckzuck: Fällt eine bekannte, berühmte Person (eine lebende, eine historische), die im Licht der Öffentlichkeit steht, in Ungnade der moral- und meinungsführenden Klasse, wird diese Persönlichkeit ausgegrenzt. Die Formen dieses Cancel-Culture-Treibens sind häufig, vielfältig und besorgniserregend zu beobachten. Das Ausladen, Diffamieren gehören dazu oder ein Sturz, indem ein Denkmal einer missliebigen Person, hier konkret das von Herbert von Karajan, Musiker, Dirigent, einst und bis heute bekanntes und ungestraftes NSDAP-Mitglied, entfernt wird – an dessen alter Wirkungsstätte, dem Theater in Aachen. Dass von Karajan eine ambivalente Vergangenheit bis 1945 hatte, war stets bekannt, es hat ihm in der Bundesrepublik nicht geschadet, er wurde berühmt und verehrt bis heute. Doch jetzt packt Cancel Culture zu und die Büste Karajans ein. Ein Kommentar von Frank Blenz.

Es gibt ihn wieder – den Denkmalsturz

Der Deutschlandfunk hat in seinen aktuellen Kulturnachrichten einen Denkmalsturz mitten in Deutschland gemeldet, eine Aktion, die zu der durch das Land rollenden Cancel-Culture-Welle passt. Was immer mal wieder aus anderen Ländern berichtet wird, zum Beispiel aus der Ukraine, wo Statuen von Puschkin verschwinden, geschieht jetzt bei uns.

Das Theater Aachen hat eine Büste von Herbert von Karajan aus dem Foyer entfernt. Karajan, der 34 Jahre als Chefdirigent die Berliner Philharmoniker leitete, war von 1935 bis 1942 Generalmusikdirektor in Aachen. Kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten trat er in die NSDAP ein, sowohl in Deutschland als auch in Österreich – und bis Februar 1945 dirigierte er in der NS-Diktatur Konzerte.

Das alles ist seit vielen Jahren, wenn nicht Jahrzehnten bekannt. Das Theater Aachen beruft sich aber jetzt erst auf Forschungsergebnisse, die zur Entfernung der Büste geführt haben. Stattdessen soll nun Wolfgang Amadeus Mozart im Foyer platziert werden.

(Quelle: deutschlandfunk.de)

Der Sturz eines Denkmals wie hier einer Musiklegende an seiner alten Wirkungsstätte ist auch Thema in weiteren Medien. So schreibt der Bayerische Rundfunk zum Vorgang:

Wer bislang das Foyer des Theaters Aachen betrat, der erblickte eine bronzene Büste des österreichischen Dirigenten Herbert von Karajan. Dies wird in Zukunft nicht mehr so sein. Generalintendantin Elena Tzavara teilte mit, neueste Forschungsergebnisse und der Vortrag eines Karajan-Biografen machten deutlich, „dass Herbert von Karajan in der NS-Zeit kein unbeschriebenes Blatt war“. Aus diesen Gründen habe das Theater nun die Büste entfernt.

(Quelle: br-klassik.de/)

Bisher geduldet, doch nun?

Das wird also in Zukunft nicht mehr so sein, eine Büste von Karajan im Foyer des Aachener Theaters zu betrachten. Aufräumen. Deutungshoheit festlegen. Zeiten wenden? Wieso aber entfernt man die Büste eines berühmten Menschen in einer Kulturstätte erst jetzt oder nun doch, von dem bei all seinen Verdiensten seit Langem auch bekannt und geduldet (oder verziehen?) war, dass dieser in der NS-Zeit bis 1945 kein unbeschriebenes Blatt war? Neueste Erkenntnisse sollen dafür herhalten, diesen jetzigen Sturz zu rechtfertigen, zu canceln, die Büste in den Speicher eines Museums einzulagern. Die Frage muss gestattet sein: Früher war Karajan ein kleiner Nazi, und heute ist er ein großer, die neuen Infos müssen darauf hindeuten? Früher wurde der Dirigent im ganzen Land und gern von der Elite gefeiert, jetzt wird er, der längst Gestorbene, verbannt? Was wäre, würde Karajan noch dirigieren, würde er seinen Dirigentenstab abgeben müssen?

Bei diesem Akt von Sturz ist noch verwunderlicher, dass der große von Karajan bis vor Kurzem noch vom bis in das aktuelle Jahr 2023 verantwortlichen Aachener Theaterleiter, Generalintendant Michael Schmitz-Aufterbeck, in einem innigen, herzlichen Grußwort bedacht und in die Kulturlandschaft Aachens einbezogen wurde.

Aus der Laudatio auch für Karajan vom Generalintendanten

… Und die großen Namen reißen auch im 20. Jahrhundert nicht ab: Herbert von Karajan und Wolfgang Sawallisch gehören zu den großen Dirigenten des 20. Jahrhunderts …

Dass sich über einen Zeitraum von nahezu 200 Jahren eine so große Anzahl von Menschen, auch heute sind es mehr als 80 Laienchoristen, mit einem immensen Einsatz, großer Leidenschaft für Musik und Theater und hoher musikalischer Qualität, für die Zusammenarbeit mit diesem Theater, seinem Sinfonie-Orchester und letztlich für die Musikkultur dieser Stadt engagiert, fordert höchsten Respekt und ist ein großer kultureller Reichtum für Aachen.

Michael Schmitz-Aufterbeck, Generalintendant Aachen von 2005-2023

(Quelle: sinfonischer-chor-aachen.de)

Der Leser der Laudatio hat sich nicht verlesen: Demnach wird von Karajan ausdrücklich einbezogen und gewürdigt, sich immens eingesetzt zu haben, mit großer Leidenschaft tätig gewesen zu sein, ein großer Name bis heute zu sein und letztlich für die Musikkultur dieser Stadt … einen Teil eines großen kulturellen Reichtums für Aachen darzustellen.

Die neue Generalintendantin Elena Tzavara demontiert Karajan

Die Personalie Karajan, Herbert von Karajan, macht neugierig. Berlin gedenkt seiner hier. Und ja, vieles weitere an Informationen ist von ihm zu finden, allein die Liste der Ehrungen Herbert von Karajans ist lang. Die neue Aachener Generalintendantin Elena Tzavara hat diese Aufzählung womöglich nicht gelesen.

1968: Ehrenbürgerschaft der Stadt Salzburg, 1968: Ehrenring des Landes Salzburg, 1968: Goldenes Grammophon der Deutschen Grammophon Gesellschaft, 1969: Kunstpreis der Stadt Luzern, 1973: Ehrenbürgerschaft der Stadt Berlin, 1977: Ernst von Siemens-Musikpreis, 1978: Ehrendoktor der Universität Salzburg, 1978: Ehrendoktor der Oxford University, 1978: Ehrendoktor der Waseda-Universität in Tokio, 1981: Kyrill-und-Methodus-Orden erster Klasse für Verdienste um bulgarische Künstler in Sofia, 1982: Gramophone Award, 1982: Médaille Du Vermeil, 1983: Deutscher Schallplattenpreis, 1983: Goldene Schallplatte, 1983: Internationaler Musikpreis der UNESCO, 1985: Ehrenring der Salzburger Festspiele, 1986: Olympia-Preis der Onassis-Stiftung

(Quelle: moz.ac.at)

Auch findet sich der Name von Karajan in einer weiteren, ziemlich seltsam klingenden und dafür umso beachtlicheren Liste, der Liste der „gottbegnadeten Künstler“, die in der Bundesrepublik nicht aus dem öffentlichen Leben, dem Schaffen verbannt wurden, sondern sich nach der Nazi-Zeit etablieren konnten, durften, sollten.

Dass Deutschland eine finstere Vergangenheit hat, ist bekannt, ebenso, dass die Bundesrepublik fortwährend mit der Aufarbeitung mal mehr, mal weniger engagiert beschäftigt ist. Dass am Beispiel von Karajan diese gespielte, behauptete politische Korrektheit schlicht heuchlerisch ist, zeigt das Hin und Her von Lob einerseits und Sturz im nächsten Moment. Wie es gerade gefällt, wie es passt – das ist selbstgefällig.

Nächste Frage. Wie viele Stürze stehen bevor?

Deutschland ist groß. Deutschland, das Land der Dichter, Denker, Komponisten und, und, und hat viele Persönlichkeiten zu bieten, dazu entsprechende Denkmäler, Skulpturen, Büsten. Für die Korrekten, die sich nach neuesten Forschungsergebnissen sehnen, um dann zu entscheiden, dass die eine oder andere Büste wegkann und muss, ist unser Land eine lohnende Herausforderung. Wer wird aus der Welt der Kultur, Kunst und Gesellschaft demnächst aus einem Foyer, von einem Platz, aus einem Park, aus einem Saal getragen – also dessen künstlerisch gestaltete Nachbildung? Fällt der Name Karajan, ist der Name Richard Wagner nicht fern. Ob es bald keine Festspiele mehr in Bayreuth geben wird und sich die herrschende Klasse einen anderen Pilgerort zum Sehen und gesehen Werden sucht?

Denkmalstürze haben, kleiner Trost, Lebende nicht zu fürchten, gibt es von ihnen doch meist (noch) keine Büsten. Ihr „aus der Gesellschaft tragen“ klappt aber mit dieser anmaßenden Cancel Culture anders schlimm und gerade oft. Das geschieht zu unser aller Schaden.

In der hier zitierten DLF-Sendung Kultur heute kam in einem anderen Beitrag die deutsche Kulturstaatsministerin Claudia Roth im Interview zu Wort. Sie sprach über Nachhaltigkeit im Opern- und Konzertbetrieb, Green Culture (also nicht Cancel Culture) genannt. Zum Aufhorchen waren ihre Worte zur Freiheit der Kunst im vom Hörer für sich hergestellten Kontext der in der Sendung verbreiteten Nachricht über den Denkmalsturz. Ministerin Roth wurde über mögliche Eingriffe in die künstlerische Freiheit gefragt, sie sagte darauf (ab Minute 4:57):

Natürlich ist die Kunst komplett frei – da hat sich die Politik gefälligst rauszuhalten.“

Was Mozart sagen würde?

Froh kann hingegen die neue Aachener Theaterchefin sein, dass sie für Karajan im Fundus ihres neuen eigenen Hauses so schnell Ersatz gefunden hat. Aufatmen. Zu vernehmen ist ihr Wunsch, ihre Vorstellung, einen anderen, einen großen, vor allem aber einen politisch unverdächtigen Künstler anstelle des bösen Karajans im Foyer zu platzieren:

Im Theaterfoyer möchte die Generalintendantin anstelle des Karajan-Kopfes zukünftig eine Büste von Wolfgang Amadeus Mozart aus dem eigenen Bestand aufstellen.

(Quelle: br-klassik.de)

Apropos Entfernungen, wenn schon Karajan, wäre Hindenburg nicht auch ein Kandidat …?

Bei aller Konsequenz, Denkmäler zu stürzen, politische Schlüsse zu ziehen, die, wie die Schlüsse-Zieher stets vorgeben, ausschließlich moralisch begründet sind, berechtigt, progressiv und so gezogen werden, dass „das in Zukunft“ nicht mehr so läuft wie bei von Karajan, der als Altnazi im Theater all die Jahre ohne Protest ins Blickfeld der Besucher kam, sobald das Foyer betreten wurde; dieses Canceln wirft, um die Ecke gedacht, eine neue Frage auf: Was in der Kultur, Kunst, in der Gesellschaft gerade heftig geht, müsste bei der Bundeswehr, Teil unserer im Umbau befindlichen, ja so viel besser werdenden Gesellschaft, auch machbar sein, oder nicht? Die Schlussfolgerung lautet doch: Wenn ein alter, kleiner Nazi wie von Karajan im Archiv verschwindet, wäre der Hindenburg doch genauso würdig, vom Sockel gestoßen und von Namensschildern geholt zu werden. Paul von Hindenburgs Namen tragen einige Kasernen und militärische Einrichtungen der Bundesrepublik bis heute. Auch eine Rommel-Kaserne gibt es, Rommel, der Wüstenfuchs, Generalfeldmarschall, Legende des Deutschen Reiches, die bis heute aufrechterhalten wird. Warum eigentlich? Was wohl bei Hindenburg und Rommel neueste Forschungsergebnisse zutage brächten? In einem Beitrag der Taz erfährt der Leser, dass das von Kriegsertüchtiger Boris Pistorius geführte Bundesverteidigungsministerium bislang nicht vom Namen Hindenburg lassen will, obschon ausreichende Erkenntnisse vorhanden sind und parlamentarischer Gegenwind aufkommt. So kritisiert Jan Korte von Die Linke:

Paul von Hindenburg könne „aus demokratischer Sicht in keiner Weise traditions- oder sinnstiftend sein“, sagt der Linken-Abgeordnete. Hindenburg sei einer der „maßgeblichen Totengräber der Weimarer Republik“ und „einer der wichtigsten Steigbügelhalter der Nationalsozialisten“ gewesen. „Die Kaserne in Munster muss deshalb endlich umbenannt werden.“ Es sei an der „Zeit, dass die Bundesregierung ihre Traditionserlasse endlich selbst ernst nimmt“, so Korte.

Zum Schluss: Karajan-Freunde, Kritiker der Denkmalsturz-Maßnahme können etwas aufatmen, denn …

Die Büste verschwindet nicht ganz

Die Karajan-Büste soll nun dem örtlichen Stadtmuseum Centre Charlemagne übergeben werden, wo sie in der für 2025 geplanten Ausstellung „200 Jahre Stadttheater Aachen“ gezeigt werde. Auch die NS-Zeit solle dann ein Thema sein, teilte das Theater mit.

(Quelle: br-klassik.de)

Titelbild: The memorial of the conductor „Herbert von Karajan” in Salzburg in Austria, Zyankarlo/shutterstock.com