Olaf Scholz: Mit Erinnerungslücken in Richtung Abgrund

Olaf Scholz: Mit Erinnerungslücken in Richtung Abgrund

Olaf Scholz: Mit Erinnerungslücken in Richtung Abgrund

Ein Artikel von Bernhard Trautvetter

Es gab zahlreiche Äußerungen aus berufenem Munde, die gewarnt hatten, dass die westliche Eskalation gegen Russland, die NATO-Osterweiterung und die Folgen des Maidan-Umsturzes zu einem Krieg in Europa führen können. Kanzler Olaf Scholz tut in seiner aktuellen Regierungserklärung aber so, als hätte es diese Warnungen nie gegeben: Er versucht, Aufrüstung und Energiekrise allein den Russen anzulasten. Von Bernhard Trautvetter.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Bundeskanzler Olaf Scholz hat in der Affäre um Cum-Ex-Betrug und Wirecard-Skandal auf Erinnerungslücken verwiesen, mit denen er seine fragwürdigen Aussagen erklärte. Der ehemalige LINKEN-Abgeordnete Fabio de Masi kommentierte das bitter:

„‚Man lernt juristisch nie aus. Die Staatsanwaltschaft Hamburg sagt: Scholz hat im Untersuchungsausschuss Hamburg nicht bzgl. seiner Erinnerungslücke gelogen. Er habe die zwischenzeitliche Erinnerung im Bundestag womöglich nur vorgetäuscht und wir (die Abgeordneten – die Red.) hätten das präventiv abfragen’ müssen. Mit anderen Worten: Die Parlamentarier sind selbst schuld, dass die Wahrheit nicht ans Licht kommt.“

An diese Ausfälle, Manipulationen und fragwürdigen Aussagen fühlt sich der informierte – mündige – Bürger im Zusammenhang mit Olaf Scholz‘ Regierungserklärung zur EU, zu Israel und zur Ukraine von 13.12.2023 erinnert.

Olaf Scholz erklärt Russland zum alleinigen Verantwortlichen für die Gefahren für Europa und für die Haushaltsprobleme Deutschlands, die es nur wegen des imperialistischen Angriffs Russlands auf die Ukraine gebe, mit dem es „Landraub und Besatzung“ betreiben würde.

Olaf Scholz erklärt mit dieser Aussage die extrem hohen Militärausgaben und Belastungen Deutschlands infolge des Stopps russischer Energielieferungen im Zusammenhang mit dem Embargo zum „alleinigen“ Resultat des russischen Vorgehens. Das ist ein weitverbreitetes Narrativ in westlichen Medien und Politikerkreisen. Die NachDenkSeiten haben diese Darstellung in zahlreichen Artikeln widerlegt.

Und es gibt Zeugen sowie Fakten, die Olaf Scholz „vergessen“ zu haben scheint: In mehreren Dokumenten der europäischen Friedensordnung ab dem Ende des Kalten Krieges hatten sich führende NATO-Staaten, darunter die USA, Frankreich, Großbritannien und Deutschland in seinen neuen Grenzen nach der Vereinigung, festgelegt, eine europäische Friedensordnung der gemeinsamen und gegenseitigen Sicherheit aufzubauen, wie es dem sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow vorschwebte, als er vom Europäischen Haus von Lissabon bis Wladiwostok sprach. Diese Friedensordnung haben die NATO-Staaten wissentlich und mehrfach mit der NATO-Ostexpansion gebrochen.

Die NATO-Lobby greift zur Ausflucht, Gorbatschow habe sich dieses Versprechen vertrauensselig – also naiv – nie schriftlich geben lassen. Nicht nur der 2+4-Vertrag zum Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes, die Charta von Paris (beides 1990), die Grundsätze der NATO-Russland-Grundakte und die OSZE-Sicherheitscharta (1999) entlarven diese Ausflucht als Lüge. Auch die Warnungen hoher US-Strategen und Diplomaten stehen dieser Des-Information der Transatlantiker in den Medien, der Wirtschaft und der Politik entgegen.

Die langen Warnungen vor dem Ukrainekrieg

Was Olaf Scholz alles vergisst, wenn er Russland zum Alleinverantwortlichen für die Kriegssituation in Europa erklärt, das ist eine Serie von Warnungen aus erfahrenen Kreisen: Der Erste war George F. Kennan, der NATO-Stratege, der die Eindämmungsstrategie (‚Containment‘) der NATO gegen die Sowjetunion ideologisch abgestützt hatte. Er warnte 1997 in der New York Times vor dem schicksalhaften Fehler der NATO-Expansion:

Eine Ausweitung der NATO wäre der verhängnisvollste Fehler amerikanischer Politik nach dem Ende des Kalten Krieges.

CIA-Chef W. Burns, damals Botschafter in Russland, warnte 2008, als sich Angela Merkel gegen Bushs Plan stellte, die Ukraine in die NATO zu führen, dass „der Beitritt der Ukraine zur NATO für die russische Elite (nicht nur für Putin) die leuchtendste aller roten Linien ist“.

Jack Matlock, der letzte Botschafter der USA in der Sowjetunion, erklärte 2014 nach dem pro-westlichen Putsch in der Ukraine und der Krim-Krise:

Als wir den Kalten Krieg beendet und politisch dabei geholfen haben, Osteuropa zu befreien, war klar, dass wir Russland für ein freies und vereintes Europa einbeziehen müssen. Wir wussten auch, wenn man ein Instrument des Kalten Krieges – die NATO – in dem Moment vorbewegt, wo die Barrieren fallen, schafft man neue Barrieren in Europa. Und genau das ist jetzt geschehen. Wenn wir Frieden wollen, dann sollten Russland, die Ukraine und die Länder Ost- und Westeuropas in einer einzigen Sicherheitsgemeinschaft sein.“ Matlock kritisiert auch die Sieger-Mentalität der NATO: „Wir dürfen nicht vergessen, dass das Ende des Kalten Kriegs kein westlicher Sieg war. Wir haben das Ende des Kalten Kriegs verhandelt und es zu Bedingungen getan, die auch vorteilhaft für die Sowjetunion waren. Wir haben alle gewonnen.“

Auch die CIA ist als Informationsquelle für Olaf Scholz zu empfehlen : Robert M. Gates, ehemaliger (Vize-)Direktor der CIA (1986–1993), enthüllt in seinen Erinnerungen, dass der damalige Verteidigungsminister Richard (= Dick) Cheney bestrebt war, Russland zu vernichten:

Als die Sowjetunion Ende 1991 zusammenbrach, wollte Dick [Cheney] nicht nur die Zerschlagung der Sowjetunion und des russischen Imperiums, sondern auch von Russland selbst.“ 

Hätte die NATO die internationalen Verträge zur Friedensordnung eingehalten, hätte sie auf erfahrene westliche Experten gehört, wäre vermutlich nicht eingetreten, was Olaf Scholz mit seinen Erinnerungslücken beklagt. Auch Klaus von Dohnanyi (SPD) hatte festgestellt, dass die NATO mitverantwortlich für die Eskalation der Spannungen im Vorfeld des russischen Einmarsches gewesen sei.

Die Friedensbewegung des Ruhrgebiets warnt seit mindestens 2014 vor einem großen Krieg in Europa, weil die Kalkarer NATO-Strategieschmiede in ihren Future-Vector-Tagungsmanuskript von 2014 (S.141) davon ausging, dass es anzuzweifeln sei, dass kein großer Krieg mehr in Europa stattfinde, und zwar könne der in einer der ehemaligen Sowjetrepubliken beginnen, die die NATO aufnehmen will oder schon aufgenommen hat: dem Baltikum, der Ukraine oder Georgien.

Die NATO, die ohnehin deutlich mehr als die Hälfte der weltweiten Militärausgaben verantwortet, steigert ihre Rüstung auch im Bereich nuklearer Arsenale intensiv und beständig. Einen dritten Großen Krieg (major war) seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts würde Europa nicht überleben.

Die hier vorgenommene Erinnerung an die Fakten für Olaf Scholz stellt selbstverständlich keine Rechtfertigung der Invasion Russlands in die Ukraine dar. Außer dem menschlichen Leid verursacht sie ein großes nukleares Risiko, da die Ukraine Strom aus 15 Atomreaktoren bezieht. Die einseitige Propaganda vom guten Westen und der Achse des Bösen im Osten ist zudem ein in der ökologisch gefährdeten Welt unverantwortliches ‚Spiel‘ mit dem finalen Feuer der europäischen Zivilisation, das die Ampel-Regierung ‚Sicherheitsstrategie‘ nennt. Welch’ brandgefährlicher Zynismus!

Titelbild: Alexandros Michailidis / Shutterstock

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