Wer in der letzten Woche aufmerksam die (a)sozialen Netzwerke und spätestens seit dem Wochenende die Mainstreammedien verfolgt hat, muss glatt glauben, dass es auf der Welt derzeit kein wichtigeres Thema als das Geschlecht einer algerischen Boxerin gibt, die bei den Olympischen Spielen nun im Halbfinale steht. Das ist doch erstaunlich. Hat sich vor zwei Wochen irgendjemand für das Weltergewicht im Frauenboxen interessiert? Hat das Thema irgendeine Relevanz? Sicher nicht. Solange wir uns von solchen randständigen Themen triggern lassen, wird sich nie etwas zum Besseren ändern. Der Krieg in Gaza, die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland, Armut, Vermögensverteilung … das alles ist für unsere Mitbürger anscheinend unwichtiger als ein „verschissener“ Frauenboxkampf in Paris. Ein Zwischenruf von Jens Berger.
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Seit es organisierten Frauen-Leistungssport gibt, gibt es ein Problem mit Frauen, die nicht so recht feminin wirken. In den 1920ern gab es Mary – später Mark – Weston und Zdeňka Koubková – später Zdeněk Koubek –, zwei intersexuelle Athletinnen, die als Frauen erzogen wurden, im Frauensport Erfolge feierten, hormonell aber auch männlich waren. Der bekannteste Fall ist wohl Dora – später Heinrich – Ratjen, eine deutsche Hochspringerin, die bei den Olympischen Spielen 1936 unter den Augen Adolf Hitlers immerhin den vierten Platz holte. Bei einer späteren polizeimedizinischen Untersuchung kamen jedoch Zweifel an ihrem Geschlecht auf und die düpierten NS-Medien bekamen ein Schreibverbot. Dora Ratjen war das, was man damals einen Zwitter oder Hermaphroditen nannte, heute spricht man von Intersexualität oder medizinisch von Disorders of sex development (DSD).
Auch in der Nachkriegszeit gab es im olympischen Sport zahlreiche solcher Fälle – wie die intersexuellen sowjetischen Leichtathletinnen Tamara und Irina Press, die von zeitgenössischen Medien als die „Press-Brüder“ bezeichnet wurden, oder die polnische Sprinterin Ewa Kłobukowska, die aufgrund eines Chromosomenfehlers labordiagnostisch als Mann galt, aber ansonsten eine Frau war, die auch ein Kind bekam und sich wegen der Demütigung ihres Ausschlusses aus dem Frauensport beinahe das Leben nahm. Und wer von den Älteren kennt sie nicht mehr – die gedopten „Mannsweiber“, hauptsächlich aus dem damaligen Ostblock, die in den 1980ern im Frauensport Erfolge feierten, aber nicht gerade wie Frauen aussahen?
All das scheint heute jedoch vergessen zu sein. Anders ist die hyperventilierende Aufregung über die offenbar ebenfalls intersexuelle algerische Boxerin Imane Khelif kaum zu erklären. Na klar, die Debatte fällt auf fruchtbaren Boden, ist die Öffentlichkeit doch durch die identitätspolitischen Irrungen und Wirrungen der Kulturkämpfer der politischen Linken auf der einen Seite und die reaktionäre Gegenbewegung der politischen Rechten auf der anderen Seite bereits seit längerem genervt. Da überrascht es nicht, dass diese beiden Fraktionen den Fall für sich ausschlachten. So regt sich nun eine Redakteur*in der taz doch tatsächlich darüber auf, dass es beim Leistungssport überhaupt eine Geschlechterunterteilung gibt. Man solle nicht „Schnelligkeit oder Muskelkraft“, sondern „Zähigkeit, Schmerztoleranz und Ausdauer“ messen, dann würden Frauen gegenüber Männern ohnehin gewinnen. Und diese „Überlegenheitsspiel“ bringe ja ohnehin nichts. Die täz*in mal wieder zum fremdschämen, aber wer hätte ernsthaft was anderes erwartet. Und auch das rechts-krakehlerische Portal Nius nimmt auf der anderen Seite natürlich diese Steilvorlage auf, titelt „Frauen-Prügeln bei Olympia legal: Das ist das nächste Opfer des algerischen Schlägers“ und beansprucht mit diesem Unfug tatsächlich für sich, „unsere Frauen“ zu schützen. Ja mei, Frauenboxen ist natürlich genau das richtige Umfeld für dieses Unterfangen und Julian Reichelt ist natürlich derjenige, dem man den Schutz „unserer Frauen“ überlassen sollte. Das ist doch alles ein Kasperletheater.
Um es klarzustellen: Hier geht es nicht um das „Modethema“ Transsexualität. Es geht nicht um Männer, die sich aus welchem Grund auch immer als Frauen definieren und nun im Sport ihre Konkurrentinnen demütigen. Es geht um Intersexualität. Biologisch gibt es zwar nur zwei Geschlechter, aber in sehr seltenen Fällen gibt nun mal Fälle, bei denen das biologische Geschlecht nicht eindeutig zuzuordnen ist. Im Sport kann dies ein Problem sein, da Intersexuelle, die im Frauensport antreten, in einigen Bereichen einen Wettbewerbsvorteil haben können – und Boxen gehört sicher zu den Sportarten, bei denen man hier von einer Wettbewerbsverzerrung sprechen kann. Aber das ist Sache der Sportverbände, die hier transparente Regeln aufstellen müssen.
Für uns als Gesellschaft ist das alles hingegen doch nun wirklich ein sehr randständiges Thema. Ich möchte wetten, kein einziger unserer Leser hat vor zwei Wochen eine einzige Athletin im Weltergewicht des Frauenboxens namentlich gekannt, geschweige denn sich für diese Sportart interessiert. Nun tun alle so, als seien „unsere Frauen und Töchter“ durch die Intersexualität einer algerischen Boxerin bedroht. Geht es auch noch dümmer?
Warum lassen „wir“ uns durch so einen Unfug eigentlich derart triggern? Gibt es keine anderen Themen? Während die Menschen sich auf X und Facebook die Köpfe darüber einschlagen, ob die algerische Boxerin nun ein Mann oder eine Frau ist, führt Israel in Gaza seinen Völkermord fort. Während die Leitartikler ihren unmaßgeblichen Senf zum Geschlecht von Imane Khelif, die einem als Mensch nur leidtun kann, dazugeben, stationieren die USA ohne gesellschaftliche und politische Debatte hierzulande Mittelstreckenraketen. Das alles lassen „wir“ uns gefallen – aber wehe, eine Boxerin sieht wie ein Kerl aus, dann schimpfen wir wie ein Rohrspatz und zeigen, dass man so was mit uns(!) nicht machen kann! Ist das nicht irre? Oder sehe nur ich das so?
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Titelbild: EvrenKalinbacak/shutterstock.com