„Ja, wir sind im Krieg!“

„Ja, wir sind im Krieg!“

„Ja, wir sind im Krieg!“

Rumen Milkow
Ein Artikel von Rumen Milkow

„Es wird durch Propaganda für den Krieg und durch tatsächliche Waffenunterstützung auch der Krieg selbst weiter gefördert und chronifiziert“, so der Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz. Im Interview mit Rumen Milkow spricht er darüber, warum Gewalt in unserer Gesellschaft zunimmt; weshalb er die immer öfter erwähnte Hochsensibilisierung für eine psychische Auffälligkeit hält, die nicht geeignet ist, den Gefühlsstau aufzulösen; und was er jungen Menschen als alter weiser Mann mit auf den Weg geben möchte, bevor sie die Künstliche Intelligenz (KI) befragen.

Rumen Milkow: Herr Maaz, Sie schreiben in Ihrem 2023 erschienenen Buch „Friedensfähigkeit und Kriegslust“, dass Sie erschrocken darüber sind, dass in Deutschland schon wieder so eine Kriegsunterstützung möglich ist, dass das „Nie wieder!“ keine Gültigkeit mehr hat und dass man mit den Waffenlieferungen einen Krieg anheizt. Das hat sie erschreckt und sie haben versucht, es genauer zu ergründen und die Psychodynamik zu erfassen. Wie sehen Sie die aktuelle Situation? Sind wir schon im Krieg?

Hans-Joachim Maaz: Ja, wir sind schon im Krieg – einfach durch die Tatsache, dass Waffen geliefert werden an die Ukraine und dass die Russen als Feind, der vernichtet werden muss, dargestellt werden. Wenn gesagt wird, die Ukraine darf den Krieg nicht verlieren, heißt das auch, die Russen sollten den Krieg verlieren. Durch Propaganda für den Krieg und durch tatsächliche Waffenunterstützung wird der Krieg selbst weiter gefördert und chronifiziert. Die Situation hat sich dadurch zugespitzt, dass jetzt mit einer sogenannten Kriegsertüchtigung die Bevölkerung darauf vorbereitet wird.

Ob Deutschland oder die EU die Absicht haben, den Krieg gegen Russland weiter auszudehnen, und inwieweit dieser dann direkt geführt wird, ist eine offene Frage. Ich fürchte, dass die Waffenproduktion zunehmen wird. Man hat den Eindruck, dass dadurch die Krise der Wirtschaft in Deutschland verschleiert wird. Es wird auf Aufrüstung umgestellt, wodurch es erst mal wieder einen wirtschaftlichen Aufschwung gibt. Wenn man so viele Waffen produziert, müssen diese auch eingesetzt werden. Jetzt werden sie erst mal in die Ukraine oder anderswo in die Welt exportiert. Aber die Gefahr ist groß, dass das, was hergestellt wurde, auch verwendet werden muss.

Wir wissen, dass es im Krieg immer zwei Seiten gibt: die einen, die den Krieg zu verantworten haben, die Kriege anzetteln, führen und befehlen. Das ist eine ganz kleine Schicht, die am Krieg in der Regel auch profitiert, die ihre Macht dadurch sichert, mit Aufrüstung Profite macht oder nach einem Krieg daran verdient, dass das Zerstörte wieder irgendwie aufgebaut werden muss; und die große Mehrheit, die in den Krieg gehetzt, verführt, manipuliert und am Ende befohlen wird. Damit ist im Grunde auch eine Tragik immer wieder ins Bild gebracht oder in die Realität: dass dann, wenn es passiert, Millionen Unschuldige geopfert werden für die Interessen einer kleinen Gruppe, die sich am Krieg bereichert.

In Interviews sagen Sie immer wieder, dass Menschen erst dann bereit sind, ihr Leben zu verändern, wenn der Leidensdruck groß genug ist. Kann man das auch auf die Gesellschaft übertragen, also auf den „Patienten“ Deutschland?

Ja, in der Medizin, in der Therapie ist das eine bekannte Tatsache. Viele Menschen, die meisten Menschen eigentlich, wissen, inwieweit sie gut oder für sich schlecht leben; dass sie sich Dinge antun, die für ihre Gesundheit nicht gut sind. Beispielsweise in Sachen Ernährung, Bewegung, Genussmittel, Nikotin, Alkohol, auch Stress oder ein konfliktreiches Leben, das entsprechende psychische und psychosomatische Auswirkungen hat. Und obwohl die meisten Menschen das wissen, was ihnen nicht guttut, können sie nicht davon lassen. Sie können nicht davon lassen, weil sie einerseits sozial, gesellschaftlich eingebunden sind in Zwänge, zum Beispiel Arbeitszwänge, Verpflichtungen, was sie alles tun und leisten müssen. Aber es gibt auch einen inneren Zwang, die Anpassung der seelischen Probleme, die oft ein Erziehungsergebnis sind – also, dass Kinder nicht so bestätigt und verstanden wurden, wie sie es gebraucht hätten für eine gesunde Entwicklung. Dann suchen sie nach einer Kompensation, nach einem Ersatz.

Können Sie sagen, worin dieser Ersatz besteht?

Das ist in aller Regel die Anpassung an das, was eine Gesellschaft allgemein erwartet. Eine kapitalistische Gesellschaft erwartet, dass man sich behauptet, dass man sich durchsetzt, dass man kämpft und konkurriert und äußere Karriere macht. Diese äußere Karriere geht meistens auf Kosten der inneren Zufriedenheit. Man ist im ständigen Stress, diese Erwartungen zu erfüllen. Das verlangt einerseits die kapitalistische Wirtschaftsform. Auf der anderen Seite hat man sich angepasst, weil man nicht so bestätigt und geliebt wurde. Daraus folgt eine seelische, eine psychosoziale Entfremdung und eine Anpassung. Das ist dann wie ein Zwang, den man nicht einfach aufgeben kann. Wenn man dann später daran leidet, an den Stressfolgen, dann müsste man das ganze eigene Leben kritisch bedenken und sich fragen: War mein Leben falsch? Das ist das, was ich mit „falschem Leben“ meine: dass man etwas tut gegen die eigene Natürlichkeit, gegen die eigenen Bedürfnisse, weil es von einem erwartet wird.

Das ist die Hauptproblematik der frühen Entfremdung von Kindern: dass Kinder so behandelt werden, dass sie nicht erfahren können, wer sie wirklich sind, was sie wirklich wollen und können. Sie müssen sehr früh herausfinden, wer und wie sie sein sollen, um die Erwartungen der Eltern, der Schule, der Gesellschaft zu erfüllen. Das ist die Tragik, die dahin führt, dass man dann ein Leben führt nach den Erwartungen von außen. Und wenn man das aufgeben will, durch Erkenntnis, müsste man sagen: Mensch, das war alles falsch! Aber das tun die meisten Menschen nicht – bestenfalls, wenn sie in eine persönliche Krise kommen, eine Krankheit, eine unglückliche Lebenserschöpfung. Dann gibt es eine Chance, dass man drüber nachdenkt.

Ich denke, dass man diese Erfahrung, die wir praktisch mit jedem Menschen machen können, auch für die Gesellschaft anwenden können. Diese Formel gilt auch hier. Heute wissen sehr viele Menschen – die Mehrheit, würde ich behaupten –, dass das nicht mehr in Ordnung ist, dass man nicht mehr zufrieden ist, dass man in Spannung und in Angst ist, auch weil man nicht weiß, was die Zukunft bringt. Aber es gibt kein wirkliches Innehalten, es gibt keine Massendemonstration in dem Sinne: Wir wollen anders leben! Es gibt auch kaum jemanden, der sagen könnte, wie wir als Gesellschaft anders leben könnten. Insofern halte ich den Vergleich für angemessen, dass leider auch gesellschaftliche Prozesse erst in eine wirklich ernste Krise, in ein Chaos, in irgendeinen Zusammenbruch kommen müssen, um dann zu sehen: Was lässt sich verändern, was lässt sich vielleicht doch noch verstehen und verbessern.

In letzter Zeit ist immer öfter davon die Rede, dass wir eine hochsensibilisierte Gesellschaft sind. Wie passt dieser Sensibilisierungsprozess und die Hochsensibilisierungsgesellschaft mit „Ihrem“ Gefühlsstau zusammen? Man könnte annehmen, dass dieser bewältigt sei, wenn alle jetzt sensibilisiert oder gar hochsensibel sind.

Ich kenne den Begriff der Hochsensibilität als eine psychische Auffälligkeit, eine Persönlichkeitsproblematik. Die gilt zwar nicht oder noch nicht als Krankheit, aber eben doch als eine Störung, dass die Menschen sehr viel empfindlicher auf alles reagieren – also mit den Reizen überfordert sind, wenn sie hören, sehen, fühlen, alles intensiver ist, es mehr nach innen geht.

Würden Sie sagen, dass das zugenommen hat in den letzten Jahren?

Ich weiß es nicht, zumindest spricht man jetzt erst darüber. Es könnte sein, dass es zugenommen hat, aber ich hätte ein Deutungsangebot dafür, denn wir leben in einer überreizenden Gesellschaft. Ich denke da vor allem an das Smartphone und die Überflutung durch Reize. Man sieht viele Menschen, die Jugend vor allen Dingen, immer nur mit dem Smartphone beschäftigt. Wo sie sitzen oder was sie tun, ist das Smartphone sozusagen der ständige Kommunikationspartner. Und ich sage mal so: Die Information ist eine Art Wischbewegung, also ein paar Sekunden, und dann kommt das Nächste dran. Das heißt, es wird überhaupt nicht mehr verarbeitet, was man wahrnimmt. Der Reiz ist da, aber er wird nicht seelisch integriert. So entsteht ein Überreizungszustand. Insofern könnte ich mir einen Zusammenhang in dieser Hinsicht vorstellen. Was völlig verloren gegangen ist: Die meisten Jugendlichen lesen nicht mehr, erzählen sich nichts mehr, sondern es ist immer Action, immer irgendwie kurze Reize, die dann schnell wieder vergehen und mit neuen ersetzt werden. Das halte ich für eine Störung, für einen Ausdruck der modernen, eher pathologischen Verhältnisse.

Was ist der Unterschied zwischen dieser Störung und einem Gefühlsstau?

Der Gefühlsstau ist ein seelischer Stresszustand von erlebter Kränkung, von Vernachlässigung, von Ungeliebt-Sein, von Geängstigt-Sein, praktisch ein entwicklungspsychologisches Problem, das in der frühen Kindheit beginnt. Wenn Kinder nicht angemessen gefühlsmäßig reagieren können, wenn sie nicht bestätigt wurden, wenn sie gekränkt wurden, wenn sie nicht ausreichend geliebt wurden, dann bleibt etwas zurück, was emotional nicht verarbeitet ist: ein Kränkungsgefühl, ein Empörungsgefühl, ein schmerzliches Gefühl. Wir wissen, dass das am Ende die Menschen krank macht. Es ist ein chronischer Stresszustand: aufgestaute Gefühle, die in der Psychosomatik energetisch verarbeitet werden, oder eben auch sozial. Ich sage immer, der Gefühlsstau macht krank oder böse: krank durch den Stress – oder böse, weil man jetzt ständig unter Druck ist und etwas abführen will. Das kann in der Partnerschaft sein, das kann in der Freundschaft sein. Dann regt man sich auf: Du bist schuld! Du liebst mich nicht! Du verstehst mich nicht! Man sucht Konflikte, man sucht Streit, um etwas von dem Gefühlsstau wie mit Ventilen abzureagieren.

Es könnte sein – so würde mir eine Deutung möglich erscheinen –, dass das Hypersensible wie ein tropfender Wasserhahn ist; also, dass Gefühlsreize abtropfen, als ein Überlauf des Gefühlsstaus. In diesem Zusammenhang sehe ich eher eine Gefahr, wenn es politisch-medial gelingt – und das ist im Moment ja gerade im Gange –, dass Menschen verunsichert, verängstigt und Bedrohungsgefühle bei ihnen erzeugt werden, dass damit der Gefühlsstau in eine bestimmte Richtung, also in einem Feindbild – der Russe als Feind zum Beispiel – gelenkt wird. Dann wächst auch die innere Einstellung, unbewusst häufig: Naja, dann habe ich ja endlich eine Möglichkeit, mich wieder abzureagieren – indem ich in den Krieg ziehe, indem ich töte und zerstöre.

Dieser psychodynamische Zusammenhang spielt bei jedem Krieg eine Rolle. Ein Motiv, in den Krieg zu ziehen, ist, sich damit aus dem Gefühlsstau abreagieren zu können – so, wie viele Menschen mal gerne brüllen, toben, an den Boxsack gehen oder eben Streit suchen. So kann bei geschickter Propaganda dazu beigetragen werden, dass junge Menschen auch eine Möglichkeit sehen, ihre Unzufriedenheit, ihren Unmut, ihre innere Spannung, was Ausdruck des Gefühlsstaus ist, nun auch kriegerisch, gewalttätig abzureagieren.

Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Gewalt in unserer Gesellschaft überhaupt wächst. Das ist für mich ein Symptom, ein Ausdruck von ungelösten Konflikten, ungelöster innerer Spannung, von Gefühlsstau durch Enttäuschung, Kränkung, Verletzung, Ängstigung, die sich jetzt eben auch in Gewalt äußert – und dazu braucht es Feindbilder. Das wird politisch-medial geschürt in den letzten Jahren. Wir hatten das Feindbild Corona, wir haben das Feindbild Klimaveränderung, und wir haben das Feindbild Russen. Das wird im großen Stil aufgebaut. Es wird wenig gefragt: Wie können wir uns darauf einstellen? Wie können wir diplomatisch sein? Wie können wir so leben, dass wir weniger anfällig sind?

Überlauf könnte man ja auch so verstehen, dass damit der Gefühlsstau abgebaut wird. Aber so ist es nicht?

Er wird nicht wirklich abgebaut. Abgebaut heißt, es müssten die Gefühle – das sind meistens Kränkung, Verletzung, also seelischer Schmerz oder Empörung und Wut – in Verbindung gebracht werden mit dem eigentlichen Ursprung. Wie bin ich verletzt worden? Wer hat mich wie gekränkt? Wer hat mich gehindert? Wie bin ich gehindert worden? In welcher Weise bin ich nicht geliebt worden? Erst wenn die Gefühle im Zusammenhang erlebt, wieder erinnert und verstanden werden mit der Ursprungsgeschichte, gibt es eine Chance der wirklichen Entladung. Wir wissen aus der therapeutischen, vor allem aus der körperpsychotherapeutischen Arbeit, dass eine solche Entladung wesentlich hilft, den Gefühlsstau zu entladen und zu verstehen, was einem geschehen ist.

Das ist eine Wunde, die damit nicht beseitigt, nicht ungeschehen gemacht wird. Man hat sie eröffnet und kann sie praktisch wie eine Eiterpustel ausquetschen. Es gibt im weiteren Leben wieder ähnliche Kränkungen oder Verletzungen, sodass diese frühe Erfahrung mit der entsprechenden Emotionalität lebendig und aktiv bleibt – sodass es notwendig ist, dass man eigentlich ein Leben lang immer wieder bemüht bleibt, dem Gefühlsstau ein Ventil, ein angemessenes Gefühl zu geben: das Gefühl, beispielsweise Empörung, in Verbindung zu bringen mit der Verletzung oder der Kränkung, die mir wirklich zuteilgeworden ist.

Die Hochsensibilisierung korrespondiert, das ist mein Eindruck, mit einer Betroffenheitsmode. Meine Beobachtung ist, dass sich Gruppen betroffen fühlen, bei der ich immer die persönliche Betroffenheit vermisse und wo ich mich frage, inwieweit es dann ins Hysterische geht.

Für mich sind das eindeutig hysterische Symptome, in der Übertriebenheit. Das wiederum ist ein Ausdruck eines Gefühlsstaus, aufgestauter Affekte, deren Ursprung oder Bedeutung nicht erkannt werden will. Es ist die persönliche Geschichte: Wie bin ich gekränkt und verletzt worden? Um das zu verleugnen, braucht man jetzt eine andere Situation, einen anderen Anlass, den man benutzt. Das ist dann aber unecht, das ist unpassend, das ist nicht realitätsgerecht zu dem, was ich wirklich an Kränkung erlebt habe. So entsteht dieser falsche Charakter, der Als-Ob-Charakter, der übertriebene Charakter; weil es keine wirklich gezielte Beruhigung oder Entlastung gibt, denn es ist ein falsches Objekt. Es muss jemand herhalten. Machen wir es einmal ganz simpel: in der Partnerschaft, in der Freundschaft, man regt sich dann über den Partner auf, weil der halt irgendwas macht, was einem nicht passt, aber viel mehr, als die Situation hergibt. Das heißt, der Partner kriegt dann etwas von dem Affekt ab, der aufgestaut ist. Diese übertriebene Situation macht die Beziehung natürlich besonders schwer und führt zu keiner Lösung, sondern verschärft.

Das erleben wir in der Gesellschaft im Moment sehr stark, dass es eine übertriebene Aufregung gibt. Wenn ich nur an die Gender-Sprache denke oder, dass wir Worte wie Indianer oder Zigeuner nicht mehr benutzen dürfen. Auf der anderen Seite wird jeder zweite Mensch, der kritisch ist, als Nazi beschimpft. Ganz persönlich: Indianer ist für mich ein Ehrenwort. Für mich waren Indianer in meiner Jugend Helden, also sehr positiv besetzt. Nazi ist von Anfang an eine Bezeichnung für eine schlimme Einstellung, für verbrecherisches Tun. Wenn man sich das überlegt: Auf der einen Seite werden solche Begriffe geradezu hysterisch verboten, um Gottes Willen, du hast Indianer gesagt, und auf der anderen Seite wird das so unberechtigt übertrieben dargestellt. Für mich ist das ein Zeichen für eine Gesellschaftspathologie, für eine Gesellschaftskrise, für eine Fehlentwicklung.

Die eigentliche Ursache der Fehlentwicklung ist das, was ich unter Normopathie verstehe: eine Gesellschaft, die Fehlentwicklung mit falschen Werten und Zielen, die vor allen Dingen eine finanzkapitalistische Bedeutung haben. Profit machen statt menschliche Beziehungen pflegen. Diese Entwicklung ist in eine Krise gekommen, die nicht wahrgenommen werden will, also schafft man sich Ersatzprobleme. Und deshalb erregt man sich so furchtbar über die Sprache oder über bestimmte Worte. Es ist ein Überfluss von Gefühlen und von Effekten an der falschen Stelle.

Im März erschien das Buch „Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde“ des Journalisten Ole Nymoen. Der Autor schreibt dort, dass er selbst bei einem Angriff Russlands lieber kapitulieren als tot sein möchte. Und sein erster Schritt wäre, zu versuchen, aus Deutschland herauszukommen. Das Thema Auswandern ist gerade in aller Munde. Wie ist Ihre Meinung dazu?

Also ich bin da vollkommen ähnlicher Meinung. Ich habe in der Auseinandersetzung mit dem Ukrainekrieg und der Kriegsertüchtigung für mich persönlich gesagt, ich wäre lieber besetzt von einem Feind als tot. Die Forderung, in einen Krieg ziehen zu sollen, einen Feind zu bekämpfen, heißt immer, in den potenziellen Tod zu ziehen und zu töten, also getötet zu werden und zu töten, und Zerstörung und Verstümmelung zu akzeptieren. Das ist mir undenkbar, zumal es nicht mein Krieg ist. Ich kann mir nicht vorstellen, was mein Krieg sein könnte. Ich glaube, es ist sehr wichtig, zu unterscheiden, eine persönliche Notwehr von einem Kriegszustand.

Ein Krieg wird immer aus politischen Gründen, aus Machtverhältnissen, aus Profitinteressen geführt – gegen die Menschenwürde und die Menschenrechte. Eine persönliche Notwehr ist eine Verteidigung, wenn ich persönlich bedroht bin. Dann ist es, denke ich, auch in Ordnung, dass man sich schützt und verteidigt. Das ist aber etwas anderes als ein Krieg, wo man fremde Interessen und nicht die eigenen vertritt. Und deshalb ist das auch meine Einstellung, ich spitze es so zu: Lieber besetzt als tot sein!

Es ist sicher, muss und kann kein schöner Zustand sein, von einer fremden Macht oder fremden Mächten besetzt zu sein. Aber es ist immer noch Leben. Solange man lebt, hat man die Chance, auch individuell dafür zu sorgen, dass man gute Möglichkeiten für sich findet, dass man moralisch angemessen reagiert, dass man in Würde bleibt – auch wenn es schwierig ist. Aber diese Möglichkeit bleibt, das eigene Leben zu gestalten.

Im Übrigen bin ich in der DDR groß geworden. Wir waren knapp 45 Jahre sowjetisch besetzt. Diesen Popanz aufzumachen, dass die Russen nun wieder alles besetzen wollen. Das ist eine Frage, die politisch zu beantworten wäre, aber rein psychodynamisch ist mir das nicht so schlimm, als wenn ich töten müsste oder getötet werden würde.

Ich wollte noch mal Ihre Meinung zum Thema Auswandern wissen, weil der Autor dazu rät; und auch, weil ich seit Corona immer mehr Zeit in Bulgarien verbringe und dort aber auch feststellen muss, dass mich die Probleme einholen. Man kann vor Problemen letztendlich nicht wegrennen. Ist es auch Ihr Eindruck, dass Auswandern ein großes Thema in unserer Gesellschaft ist, und wie ist Ihre Meinung dazu?

Ich verstehe, wenn jemand auswandern will, vor allem, wenn Kriegsgefahr herrscht. Dass man abhaut, um sich zu retten vor einer Gefahr, also beidseitig: Töten zu müssen ist mindestens so schlimm wie selbst getötet zu werden. Das verstehe ich. Ich weiß aber auch, was Sie jetzt angedeutet haben: Egal, wo man hingeht, man nimmt sich mit. Das heißt, man nimmt die eigenen Probleme oder ungelösten Schwierigkeiten des eigenen Lebens mit. Wir wissen, dass es hilfreiche, förderliche, soziale, gesellschaftliche Verhältnisse für oder gegen die eigenen Schwierigkeiten gibt, und auch gestörte oder belastende. Natürlich sind die gesellschaftlichen Verhältnisse von Bedeutung, ob man sich auch mit all seinen Schwierigkeiten und Begrenzungen besser oder schlechter einrichten kann. Ich verstehe den Wunsch des Auswanderns, wenn es notwendig geworden ist, auch gesellschaftliche Verhältnisse zu finden, die besser zu meinen Schwierigkeiten und zu meinen Möglichkeiten passen.

Das Wichtigste ist, glaube ich, sich immer wieder selbst zu verstehen: Wie kann ich dort, wo ich lebe, bei allen äußeren Schwierigkeiten herausfinden, in Würde bleiben? Wie kann ich anständig bleiben, wie kann ich mich drücken vor einer Mittäterschaft oder selbst vor Mitläuferschaft? Und ich erinnere jetzt bei Ihrer Frage, die Situation in DDR-Zeiten, da war es für viele: Bleiben oder gehen?

Ich habe auch einige gute Freunde verloren, die in den Westen gegangen sind, noch zu Zeiten der DDR, und das war natürlich immer auch ein Problem von jedem von uns. Aber ich war eher der Meinung, zu bleiben, weil ich Möglichkeiten oder eine Notwendigkeit sehe, mein Leben auch in Schwierigkeiten hinzukriegen, praktisch in Verantwortung mir selbst gegenüber: Wie kann ich in den Verhältnissen, die ich nicht für richtig, die ich für menschenfeindlich halte, mich so verhalten, dass das etwas gemildert wird? Dass ich da etwas dagegensetzen kann, ohne übertrieben zu glauben, ich könnte die politischen Verhältnisse wirklich verändern. Das ist für mich immer auch eine Frage der Würde.

Ihr Interview mit Jens Lehrich vor wenigen Monaten über Ihre „Lebensabschlussphase“ – Sie sind jetzt 82 – berührt ein Tabu und hat mich auch persönlich berührt. Sie sagen dort, dass diese Phase nicht zwangsläufig biologisch ist, sondern auch in jüngeren Jahren eine Rolle spielen könnte. Was würden Sie der jüngeren Generation nun als alter weiser Mann, nicht als alter weißer Mann, zum Thema „Tod und Sterben“ und „Die letzten Dinge“ mit auf den Weg geben, bevor diese möglicherweise die Künstliche Intelligenz (KI) befragt?

(lacht) Die KI ist für mich die große neue Gefahr. Ich würde die KI, so hilfreich sie sein kann, auch als Gefahr einer künstlichen Verdummung verstehen. Dass man sich immer weniger auf sich selbst, auf sein Verstehen, sein Nachdenken, sein Gefühl vor allen Dingen orientiert und beruft und die Verantwortung abgibt. Aber das ist nicht Ihre Frage. Natürlich bin ich in einem Alter, wo absehbar ist, dass die Lebenszeit zu Ende geht. Wir wissen eigentlich alle, dass wir sterben werden. Und wenn Sie fragen, was ich aus der heutigen Erfahrung weitergeben möchte an jüngere Leute, dann ist es das, was auch mein Leben bestimmt hat. Sich immer wieder zu fragen: Wie lebe ich? Wie echt oder falsch lebe ich? Bin ich wirklich mit mir und meinen Möglichkeiten, meinen Bedürfnissen gut im Kontakt und kann das, so gut ich und die Verhältnisse es ermöglichen, ausleben? Oder wie sehr muss ich sein und leben, wie es von mir erwartet wird?

Ich weiß aus den Therapien, dass jeder Mensch mehr oder weniger in seiner frühen Entwicklung selten das Glück hatte, so verstanden, bestätigt zu werden, dass er sich wirklich selbst findet; und in dem Leben das findet, was die ureigenste Verwirklichung wäre, der ureigenste Sinn für das Leben. Das bleibt eine Herausforderung, die mehr oder weniger gelingt. Aber man kann ein Leben lang dafür Sorge tragen, durch Selbsterkenntnis, durch breite Information, durch eine gute, offene, ehrliche Kommunikation, dass man sich immer wieder kritisch hinterfragt.

Natürlich ist man als soziales Wesen immer auch eingebunden in eine soziale Gemeinschaft. Eine Autonomie in Bezogenheit ist für mich die gesunde Kombination. Ich finde heraus, wie ich bin, und das verantworte ich auch als einmalige Möglichkeit. Kein anderer Mensch ist so wie ich, aber ich bin in Bezogenheit in einer Gemeinschaft und muss sehen, wie viel ich davon leben kann oder was nicht möglich ist. Dass man sein ganzes Leben bemüht ist, herauszufinden: Lebe ich in meiner Würde? Würde ist in dem Sinne für mich die Übereinstimmung zwischen Denken, Fühlen und Handeln. Das ist nie hundertprozentig, aber das Bemühen darum wäre für mich die Lebensaufgabe, die sich spätestens in der Lebensabschlussphase aufdrängt: Wie habe ich gelebt? Aber da sind die Chancen, noch mal etwas zu verändern, praktisch nicht mehr gegeben oder sehr gering. Da könnte man schon in jungen Jahren sich anders orientieren.

Mir fällt dazu das Nietzsche-Wort ein: „Werde, der du bist.“

Ja, ein schönes Wort.

Herr Maaz, vielen Dank für das Gespräch!

Über den Interviewpartner: Hans-Joachim Maaz, Jahrgang 1943, ist Psychiater, Psychoanalytiker und Psychotherapeut. Von 1980 bis 2008 leitete er die psychotherapeutische Klinik im Krankenhaus des Diakoniewerks in Halle/Saale. Er ist Autor unter anderem der Bücher „Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR“ (1990), „Die narzisstische Gesellschaft“ (2012), „Das falsche Leben. Ursachen und Folgen unserer normopathischen Gesellschaft“ (2017), „Das gespaltene Land“ (2020) und zuletzt „Angstgesellschaft“ (2022).

Titelbild: Rumen Milkow