„Wir leben nicht mehr in wirklich demokratischen Verhältnissen“

„Wir leben nicht mehr in wirklich demokratischen Verhältnissen“

„Wir leben nicht mehr in wirklich demokratischen Verhältnissen“

Ein Artikel von Éva Péli

Es genügt nicht zu sagen, ich bin für Frieden oder ich bin gegen den Krieg. Oder ich bin für die Demokratie. Es muss ein innerseelischer Prozess sein. So sieht es Hans-Joachim Maaz. Er ist empört, entsetzt, beunruhigt darüber, was aus Deutschland fast 80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg geworden ist. Der Psychoanalytiker und Therapeut hat in einem Vortrag auf der Leipziger Buchmesse die Psychodynamik erklärt, wie es dazu kommt, dass Politik wieder in den Krieg führen will. Von Éva Péli.

„Der Mensch ist demokratiefähig, weil er es nicht nötig hat, irgendeinen Gegner zu verfolgen, zu bekämpfen. Wenn es also im Moment darum geht, dass Kritiker, Andersdenkende oder bestimmte Parteien abgelehnt, abgewertet werden, ist das für mich ein Zeichen für das Ende demokratischer Strukturen.“ Das sagte der Psychotherapeut und Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz am Samstag während der Leipziger Buchmesse 2024. Er sprach über sein neues Buch „Friedensfähigkeit und Kriegslust“ und über die aktuelle Situation.

„Denn der Demokrat würde den Konsens suchen, würde den Kontakt, das Gespräch suchen, würde auch Verhandlungen – Friedensverhandlungen – anstreben. Aber da das nicht passiert, kann man sicher sein, wir leben nicht mehr in wirklich demokratischen Verhältnissen.“

Maaz, geboren und aufgewachsen in Ostdeutschland, beschäftigt sich schon seit Jahrzehnten mit den Fragen des psychischen Zustandes der Nation und analysiert die möglichen Gründe für die von ihm festgestellten Fehlentwicklungen. Bereits in seinem 2022 erschienenen Buch „Angst-Gesellschaft“ war er bestürzt über die politische Situation in Deutschland, die er seit über 30 Jahren als „psychodynamische Unvermeidbarkeit normopathischer Verhältnisse“ beschreibt. In seinen Werken ringt der Autor um Demokratie, Freiheit und persönliche Würde.

Demokrat von einem Tag zum anderen

„Ich war ja verwundert, dass nach dem Krieg die ehemaligen Nazis plötzlich weg waren“, erzählte er. „In der DDR hieß es, ‚sie sind alle im Westen‘. Aber auch da konnte es sein, dass ehemalige Nazis von einem Tag zum anderen Demokraten wurden.“ Dann verwies er auf die Zeit nach 1989, als mit „Stasi-Leuten, ehemaligen SED-Bonzen“ dasselbe passiert ist. Ihm wurde klar, dass Demokratie etwas Äußeres sei, wenn jemand sagt: „Ich bin jetzt Demokrat und kein Nazi mehr.“ Als Psychotherapeut wisse er, dass das unmöglich ist. Es müsse eine innere Entwicklung geben. Wenn es die nicht gibt, dann ist die Gesinnung aus seiner Sicht „eben geheuchelt“ und folge einem neuen politischen Narrativ.

Maaz sprach von einer „äußeren Demokratie“: „Ein Verständnis für eine innerseelische Demokratie gibt es bis heute nicht.“ Demokratie wird aus seiner Sicht in Deutschland nur gespielt. Für dieses Demokratie-Spiel bot die Buchmesse eine Bühne. Durch die Initiative „#DemokratieWählenJetzt“ vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels und der Leipziger Buchmesse waren Besucher eingeladen, „vor dem Hintergrund zunehmender Angriffe auf demokratische Grundwerte“ ein „starkes Signal zu setzen“.

Die Gesellschaft leidet laut Maaz unter einer „Normopathie“– einer pathologischen Gesellschaftsentwicklung, in der das Gestörte, das Falsche für normal gehalten wird –, weil sie von einer Mehrheit der Früh-Entfremdeten gestaltet wird. Diese schwerwiegende Diagnose stellte der Psychoanalytiker bereits in seinen früheren Büchern.

Narzisstische Gesellschaft

Die frühkindliche Selbstentfremdung in Folge der Erziehung gehe immer mit Gefühlen einher – Wut, Empörung, schmerzlichen Gefühlen, wenn man sich nicht geliebt und verstanden fühlt; traurigen Gefühlen, wenn man nicht das erreichen kann, was man will. Bleiben diese Gefühle im Menschen zurück, werden sie abgespeichert. So entsteht etwas, was er „Gefühlsstau“ nennt. Dieser ist als ein psychosomatischer Stressvorgang später auch für Erkrankungen entscheidend.

Das habe massenpsychologische Folgen, denn diese Selbstentfremdung fordere einen Ausgleich, zum Beispiel in Form von Ablenkung – mit Fernseher, mit Handy, mit digitalen Geschichten – oder eine Betäubung. Der Mensch wolle zeigen, dass er doch liebenswert und anerkannt ist, erklärte Maaz. So entstehe eine narzisstische Gesellschaft.

Der Autor bringt es auf die Formel: „Geld statt Liebe“. Für die mangelhafte Betreuung macht er das finanzkapitalistische System verantwortlich. Es fehle störungsbedingt völlig an Empathie für die wirklichen kindlichen Bedürfnisse, dagegen herrsche die irrwitzige Vorstellung, dass nur mit Anpassung ein gutes Leben möglich ist.

Auf der Buchmesse machte er klar, „dass in der Form unserer narzisstischen Gesellschaft eine narzisstische Störung Pflicht ist, um überhaupt an die Macht zu kommen. Wer diese Störung nicht vorweist, kommt nicht an die Macht, weil er sich dann im Ränkespiel der Parteien gar nicht bis nach oben dienen kann.“

Hochgepuschte Ängste

Laut Maaz kommt eine narzisstische Gesellschaft zwangsweise durch Profitgier in einen kritischen Zustand, in eine umfassende gesellschaftliche Krise. In dieser würden die wesentlichen Kompensationsmöglichkeiten, mit denen narzisstische Störungen beruhigt werden sollen – Leistung, Geld, Anstrengung, Anerkennung – durch äußere Bedingungen verlorengehen. Das aktiviere die ganzen früheren Ängste. „Und in dieser Krise sind wir gerade.“

Das mache furchtbare, berechtigte Angst – auf diesen psychischen Nährboden treffe das Virus, das Klima und „jetzt die Russen“. Diese erzeugten Ängste werden laut Maaz hochgepuscht und bieten die Möglichkeit, alle individuellen Ängste zu binden und die Zukunftsangst ersatzweise zu beruhigen.

„Das heißt, wir Menschen stehen wieder relativ ungeschützt bis nackt vor unserer eigentlichen Entfremdung“, so der 81-Jährige. Menschen würden jetzt erneut mit ihrem Gefühlsstau konfrontiert.

Aber auch die finanzkapitalistische Elite komme mit dem System in die Krise und versuche jetzt, ihre Macht dadurch zu sichern, dass sie Angst schürt. Angstmache, Panikmache sei das leichteste Herrschaftsmittel, stellte Maaz fest. Weil: „Angst macht dumm. Angst sucht nach Rettung.“ Die politisch-medial geschürte Angst habe mit der Pandemie begonnen, „mittlerweile ist das die angeblich menschengemachte Klimaveränderung. Und aktuell sind es die Russen. Die sind schuld überhaupt an allem.“

In der Innenpolitik findet er „irrwitzig“, dass die AfD zum Sündenbock gemacht wird. Dieses System ist ökonomisch, politisch in der Krise, wie er behauptet. „Und das haben vor allen Dingen die CDU, die SPD, die Grünen und die FDP zu verantworten.“ Dass Menschen so einen Unsinn glauben würden, dass die AfD eine Gefahr sei, wundere ihn. So funktioniere aber die Propaganda der Angst, stellte er fest.

In der Krise droht der Gesellschaft die Gefahr, dass Menschen eher krank oder böse werden, wie er erklärt. Krank heiße auch depressiv, wirklich psychisch erkrankt oder psychosomatische Symptome. „Böse heißt, dass man den Gefühlsstau, der nicht mehr in der bisherigen Weise erfolgreich kompensiert wird, abreagieren muss an anderen Menschen und anderen Situationen.“

Umgang mit der Realität

Die Buchmesse gab ausreichend Anregung auch für junge Menschen, Bücher aus dem Bereich „New adult“, „Hunderte von Seiten dicke Romane über die Lebenswelt junger Menschen und über Traumwelten, in die sie sich flüchten“, berichtete die Tagesschau. Auch Mangas und Comics lockten junge Leserinnen und Leser nach Leipzig.

Bei Forum-Sachbuch beschäftigte Maaz jedoch die Frage, wie man mit der Realität umgehen kann. „Wenn einer sagt, ‚Ich kann die Realität gar nicht glauben‘, dann ist er naiv“, erklärte er. „Wenn er sagt, ‚Ich will die Wahrheit nicht wissen‘, dann ist er dumm. Wenn er sagt, ‚die Wahrheit ist verboten‘, dann ist er böse. Und wenn er sagt: ‚Ich oder wir bestimmen, was die Wahrheit ist‘, dann ist man krank.“

Weiter veranschaulichte er diese These am Beispiel der aktuellen Friedens- und Kriegssituation und wendete sie auf Waffenlieferungen an: Naiv sind aus seiner Sicht diejenigen, die die Entscheidungen den Politikern kritiklos überlassen und sie nicht hinterfragen: „Ach, die Politiker wissen schon, was wichtig ist, die machen das schon.“ Dumm wäre die Einstellung, „mit Waffen Frieden zu schaffen“. Böse verhielten sich jene, die Gegner der Waffenlieferungen als „Putinversteher, Russenfreund und damit Demokratiefeind“ diffamieren. Und krank ist ihm zufolge, wenn man sagt, unsere Waffen retten Leben.

Rassistische Einstellung

Die Dummheit entstehe immer durch narzisstische Ideologie, betonte der Psychotherapeut. Das Böse dabei würde sich im Tötungswillen verraten. Das rege ihn am meisten auf: „Unsere Waffen, Waffen, Waffen …“. Das heiße doch nichts anderes als „Wir wollen töten, töten, töten“, empörte er sich. Und das werde vom Schreibtisch her angeordnet. „Die, die sagen, wir müssen immer mehr Waffen schicken, die ziehen gar nicht in den Krieg. Die lassen töten. Die lassen die Waffen sprechen“, kritisiert er.

„Unsere Waffen schützen Leben“, halte er für eine sehr gestörte Einstellung. Denn Waffen seien zum Töten da. Es werde gemeint, „sie schützen ukrainisches Leben“. Das heiße aber, sie töten russisches Leben – aus seiner Sicht eine rassistische Einstellung.

Weshalb ist diese gestörte Einstellung überhaupt möglich, fragte der Psychoanalytiker. Er sieht ein Zusammenspiel der finanzpolitischen Elite und der Masse der Bevölkerung. Das habe ihn sein Leben lang beschäftigt, als „Kriegskind“, „Vertreibungskind“ und Nachkriegskind. Antworten habe er von den Eltern und den Lehrern nicht bekommen. „Von den Politikern schon gar nicht.“ Das war ein großes Thema seiner psychotherapeutischen Arbeit. Er sei zu der Erkenntnis gekommen, dass ein Großteil von uns Menschen schon in der Kindheit von sich entfremdet wird.

Konflikt zwischen Pest und Cholera

Auf seine eigene Überlegung, ob es überhaupt einen gerechten Krieg gebe, antwortete er in Leipzig mit einem klaren Nein. Maaz begründete das einerseits damit, dass die Waffentechnik mittlerweile so entwickelt ist, dass es nicht mehr möglich ist, die Zivilisten zu schützen. Andererseits könne er auch deshalb nicht gerecht sein, weil er immer angeordnet wird, weil es Befehlsgewalt gibt, Menschen, die andere in den Krieg schicken, welche töten sollen und getötet werden. Das ist für ihn „unerträglich“.

Im aktuellen Streit um eine Lösung für die Ukraine handelt es sich aus seiner Sicht um einen Konflikt zwischen Krieg und Besatzung, als „Konflikt zwischen Pest und Cholera“. Doch für Maaz ist es der Unterschied zwischen Leben und Tod. „Die Besatzung ist immer noch Leben und Krieg ist immer noch Tod.“ Deshalb sei er gegen dieses „Phantombild“, die Ukraine dürfe den Krieg nicht verlieren. Maaz stellte klar: „Die hat den schon längst verloren durch hunderttausende Tote und eine ziemlich totale Zerstörung vieler Städte.“

Zum Schluss erinnerte er daran, wer am Krieg und an Krisen verdient und benannte klar die Akteure: Die Pharmaindustrie, die Klimaindustrie und die Rüstungsindustrie hätten in den letzten Jahren an Milliarden gewonnen. „Es gibt ein großes Interesse der finanzkapitalistischen Elite, diesen Krieg zu führen, zu unterhalten und lange Zeit auszudehnen“, so das Fazit des Psychoanalytikers.

Titelbild: Tilo Gräser