Das gebrochene Gesellschaftsversprechen: Wie der Staat die Überreichen schützt

Das gebrochene Gesellschaftsversprechen: Wie der Staat die Überreichen schützt

Das gebrochene Gesellschaftsversprechen: Wie der Staat die Überreichen schützt

Detlef Koch
Ein Artikel von Detlef Koch

Die Bundesrepublik versteht sich als soziale Marktwirtschaft, als Rechtsstaat und als Demokratie. Ihre Verfassung verpflichtet sie zur Sicherung gleichwertiger Lebensverhältnisse und zur Besteuerung nach Leistungsfähigkeit. Doch diese Versprechen sind eine Verhöhnung der Urteilskraft unserer Bürger – und das nicht zufällig. Hinter der Fassade ordnungspolitischer Rhetorik hat sich ein System etabliert, das Reichtum schützt, Umverteilung nach oben organisiert und demokratische Einflussmöglichkeiten systematisch untergräbt. Von Detlef Koch.

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Wir erleben ein System, das den Interessen der finanzstarken Minderheit dient – nicht dem Gemeinwohl. In seiner Ausgestaltung ist es nicht nur ungerecht, sondern zutiefst verfassungswidrig und demokratiezersetzend. Die AfD wird es uns danken! Dieser Artikel rekonstruiert, wie kleine Machtzirkel aus Wirtschaft, Politik und Medien das Steuerrecht zur strategischen Selbstentlastung instrumentalisiert – und wie dabei ein Gesellschaftsvertrag zerfällt, der ohnehin nur für wenige galt.

  1. Die juristische Entkernung des Leistungsprinzips
    Die Grundidee des deutschen Steuerrechts ist einfach: Wer mehr leisten kann, soll mehr zum Gemeinwesen beitragen. Dieses Leistungsfähigkeitsprinzip bildet die Legitimationsbasis der progressiven Einkommensteuer. Doch gerade an der Spitze der Einkommensverteilung wurde dieses Prinzip systematisch unterlaufen. Die Abgeltungsteuer auf Kapitalerträge (25 Prozent pauschal) erlaubt es schon Multimillionären, mit ihren Dividenden und Spekulationsgewinnen unterhalb der Belastung von Pflegekräften, Lehrern oder Ingenieur:innen zu bleiben. Gleichzeitig werden Kapitalgesellschaften und Holdings mit effektiven Steuersätzen im einstelligen Prozentbereich belastet – ein Umstand, den sich weder Handwerksbetriebe noch mittlere Angestellte vorstellen können.

    Besonders drastisch ist die Umgehung der Grunderwerbsteuer durch sogenannte Share Deals: Während jede Privatperson beim Immobilienkauf zwischen 3,5 und 6,5 Prozent an den Fiskus zahlt, kaufen Großinvestoren Anteile an Immobiliengesellschaften – steuerfrei. Ja, richtig gehört – steuerfrei[1]. Die Regelung war politisch gewollt und blieb trotz Kritik jahrelang unangetastet. Auch im Erbschaftssteuerrecht offenbart sich die doppelte Moral: Große Unternehmensvermögen können über die sogenannten Verschonungsregelungen nahezu steuerfrei übertragen werden. Die Bedürftigkeitsprüfung, eingeführt nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, ist so konzipiert, dass sie selbst von Milliardenerben mit Leichtigkeit bestanden wird. Der Steuerstaat schützt dynastische Vermögensübertragung[2] – er unterbindet sie nicht. Wer bei „dynastische Vermögensübertragung“ an feudale Zeiten erinnert wird … Ja, so ist das auch gedacht!

  2. Architektur der Selbstentlastung: Ein steuerpolitisches Kartell
    Die Frage, wem diese Steuerpolitik nützt, beantwortet sich empirisch und strukturell: Sie nützt den reichsten 1 Prozent der Bevölkerung – insbesondere den oberen 0,1 Prozent. Diese Gruppe verfügt über Kapitalgesellschaften, internationale Wohnsitze, spezialisierte Steuerkanzleien, Vermögensverwalter und politische Zugänge. Sie ist in der Lage, selbst komplexe Steuerregime strategisch zu nutzen oder gar mitzugestalten. Der Fall der Stiftung Familienunternehmen zeigt exemplarisch, wie Gesetze im Dialog mit den Profiteuren entstehen. Als das Bundesverfassungsgericht 2014 entschied, dass die Verschonung von Betriebsvermögen zu weit geht, war die Reaktion kein Umsteuern, sondern eine gezielte Anpassung: Die Stiftung hatte frühzeitig Änderungswünsche formuliert – und unsere loyalitätsgestörten Volksvertreter lieferten.

    Auch international bekannte Skandale wie Cum-Ex oder Cum-Cum waren keine Randphänomene, sondern Ausdruck einer Haltung: Steuervermeidung ist kein Notbehelf, sondern Bestandteil eines feudalen, ideologisch aufgeladenen Selbstverständnisses, das öffentliches Eigentum als Beute begreift, auf das man aufgrund seines Standes Anspruch hat. Die juristische Umgehung geht Hand in Hand mit der politischen: Lobbyisten aus Banken und Kanzleien schreiben mit an Gesetzestexten. Ex-Minister finden sich wenige Monate nach Amtsende in Aufsichtsräten. Eine Trennung zwischen legislativer Sphäre und wirtschaftlichen Interessen existiert allenfalls nur auf dem Papier.

  3. Lobbyismus als Machttechnologie
    Die gezielte Einflussnahme ökonomischer Machtzirkel auf die Gesetzgebung ist in Deutschland weder Zufall noch Ausnahme – sie ist Teil einer durchrationalisierten Machtstrategie. Lobbyarbeit wird in Stiftungen, Verbänden, Denkfabriken und Beratungsnetzwerken organisiert. Besonders effektiv zeigt sich dieses Netzwerk in der Steuerpolitik. Zwischen 2012 und 2017 flossen allein aus dem Umfeld der Stiftung Familienunternehmen mindestens 2,8 Millionen Euro an CDU, CSU und FDP[3]. Parteispenden, Gutachten, Kanzleramtstreffen – es ist ein informeller Komplex der Nähe, der mit demokratischer Aushandlung wenig zu tun hat.

    Der politische Erfolg dieser Netzwerke zeigt sich nicht nur im Gesetzeswortlaut, sondern auch im Unterlassen: Share Deals wurden jahrelang nicht verhindert, die Abgeltungsteuer trotz verfassungsrechtlicher Zweifel nicht reformiert, die Gemeinnützigkeit wirtschaftslobbyistischer Stiftungen nicht hinterfragt. Die Vorstellung, dass es sich bei all dem um technische Details handele, ist gelinde gesagt naiv. Steuerpolitik ist Machtpolitik – und ihre Ausgestaltung Ausdruck gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse.

  4. Klassismus in Reinform: Das Framing der Ungleichheit
    Entsprechende Machtzirkel begnügen sich nicht mit ökonomischer Dominanz – sie schaffen die semantischen Rahmen, in denen ihre feudalen Privilegien als normal, gerecht oder notwendig erscheinen. Der Begriff „Leistungsträger“ wurde in den 2000er Jahren gezielt propagiert, um hohe Einkommen und Vermögen moralisch aufzuwerten. Wer Reichtum besteuern will, gilt als „neidisch“ oder „wirtschaftsfeindlich“. Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), eine von Arbeitgeberverbänden finanzierte PR-Initiative, suggeriert regelmäßig, dass höhere Steuern auf Kapitalflucht und Standortschwäche hinauslaufen. Dass viele dieser Narrative empirisch nicht haltbar sind, stört dabei nicht – entscheidend ist ihre diskursive Funktion: Umverteilung wird zur Gefahr erklärt, Besitzstandswahrung zur Leistung.

    Die Erzählung vom bedrohten Mittelstand ist ein weiterer Baustein. Reiche Familienunternehmen inszenieren sich als Rückgrat der Gesellschaft, obwohl ihre Eigentumsverhältnisse und Steuerstrukturen mit dem klassischen Mittelstand nichts mehr zu tun haben. Diese rhetorische Gleichsetzung vernebelt die Realität: Dass sich in Deutschland rund ein Drittel des gesamten Nettovermögens in den Händen des obersten Prozents konzentriert, bleibt in der öffentlichen Debatte weitgehend ausgeblendet.

  5. Verfassungsbruch mit Ansage – und ohne Konsequenz
    Es sind nicht nur ethische Fragen, die sich hier stellen, sondern auch rechtliche. Der Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 GG), das Sozialstaatsgebot (Art. 20 GG), das Leistungsfähigkeitsprinzip – sie alle wurden durch die bestehende Steuerarchitektur ausgehöhlt. Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach gerügt, dass bestimmte Regelungen zu einseitig zugunsten hoher Vermögen ausgestaltet sind. Doch eine gerechte Reaktion des Gesetzgebers blieb aus – oder die Korrektur des Unrechts wurde gleich von den Steuerbegünstigten selbst beeinflusst. Was blieb, war ein durch Missachtung sozialer Verpflichtungen gekennzeichnetes Demokratieverständnis.

    Die Verfassungswidrigkeit wird hingenommen, wenn sie den Richtigen dient. Die Rechtsordnung erscheint selektiv. Während Sozialleistungsbeziehende unter Generalverdacht stehen, wird bei Steuervermeidern auf Augenhöhe verhandelt. Es ist ein doppelter Standard, der das Vertrauen in den Rechtsstaat untergräbt und manche Menschen in die Arme des Faschismus treibt.

  6. Demokratie ohne Demos? Wenn politische Teilhabe ökonomisch vergiftet ist
    Die ökonomische „Elite“ hat nicht nur mehr Geld – sie hat auch mehr Zugang, mehr Gehör, mehr Einfluss. Studien zeigen, dass politische Entscheidungen in Deutschland fast ausschließlich den Interessen der Vermögenden folgen als denen der Mehrheit[4]. Wenn das Steuerrecht de facto im Dialog mit den Reichsten entsteht, ist die parlamentarische Repräsentation ausgehöhlt. Wenn der politische Raum durch Parteispenden, Expertengutachten und Medienkooperationen kontrolliert wird, reduziert sich das Spektrum demokratischer Willensbildung auf fast null.

    Besonders alarmierend ist die mediale Normalisierung dieser Zustände. Hans-Werner Sinn oder andere treten in Talkshows als „neutrale Experten“ auf, während kapitalismuskritische Stimmen marginalisiert oder als populistisch diffamiert werden. So entsteht eine Meinungshegemonie, die Reformforderungen schon im Vorfeld delegitimiert. Die Demokratie wird nicht per Staatsstreich beschädigt, sondern durch informelle Herrschaftsverhältnisse vernichtet – und das ganz ohne Beobachtung durch den Verfassungsschutz.

  7. Jenseits der Parteinahme – Warum ein neuer Gesellschaftsvertrag überfällig ist
    Diese Zustände sind keine Betriebsunfälle – sie sind das Ergebnis einer langfristigen Verschiebung der politischen Ökonomie. Sie zeugen von elitären Machtzirkeln, die sich von der Idee des Gemeinwohls verabschiedet haben, ohne es offen einzugestehen. Die Elite glaubt, sich das leisten zu können – ökonomisch wie ethisch. Doch dieser feudalistische Hochmut ist gefährlich.

    Denn das Vertrauen in die demokratische Ordnung erodiert nicht nur in sozialen Randgruppen, sondern auch in der Mitte. Wenn Gerechtigkeit zur Simulation verkommt, wenn Gesetze vor allem den Besitzenden dienen, wenn politische Macht käuflich wird, dann steht mehr auf dem Spiel als nur fiskalische Fairness. Dann ist die Idee der Demokratie selbst beschädigt.

    Es braucht eine radikale Revision der Steuerpolitik – nicht als technokratische Maßnahme, sondern als gesellschaftspolitisches Signal. Progression, Vermögensbesteuerung, die Schließung von Schlupflöchern, solide Personaldecke für die Steuerfahndung: All das sind keine Neidprojekte, sondern Voraussetzungen für eine Gesellschaft, in der Gleichheit mehr ist als ein Wort im Grundgesetz.

    Ein neuer Gesellschaftsvertrag ist überfällig. Einer, der nicht fragt, wie viel Reichtum möglich ist, sondern wie viel Konzentration von Reichtum eine Demokratie erträgt. Ein Gesellschaftsvertrag, der Eigentum nicht abschafft, aber seine Grenzen klar definiert, und einer, der den Anspruch erhebt, Politik für alle zu machen – nicht nur für jene, die es sich leisten können, mitzureden. Noch hält die Bevölkerung still, aber wie lange wird das Unrecht ertragen?

Titelbild: Thorsten Schier/shutterstock.com


[«1] Während Privatpersonen beim Immobilienkauf stets der vollen Grunderwerbsteuerpflicht (zwischen 3,5 Prozent und 6,5 Prozent) unterliegen, nutzen Großinvestoren sogenannte Share Deals, bei denen statt des Grundstücks Anteile an grundbesitzenden Gesellschaften übertragen werden. Solange die Beteiligung unter 90 Prozent bleibt (bis Juli 2021: unter 95 Prozent), fällt keine Grunderwerbsteuer an. Diese legalen Gestaltungen führen laut Bundesfinanzministerium jährlich zu Steuerausfällen von bis zu 1 Mrd. Euro. Vgl. Bundesministerium der Finanzen: Interview mit Staatssekretärin Sarah Ryglewski zum Gesetz gegen Share Deals, Monatsbericht Oktober 2021, online: bundesfinanzministerium.de (Zugriff: 11.07.2025).

[«2] Das deutsche Erbschaftsteuerrecht gewährt für Betriebsvermögen weitreichende Steuervergünstigungen, die in der Praxis häufig zur nahezu steuerfreien Übertragung großer Familienvermögen führen. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Dezember 2014 (Az. 1 BvL 21/12) verstießen die damals geltenden Verschonungsregelungen gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG), insbesondere weil selbst große Unternehmensvermögen ohne Bedürfnisprüfung vollständig steuerfrei bleiben konnten. Zwar wurde das Gesetz 2016 novelliert, doch zentrale Begünstigungen – etwa die Optionsverschonung – blieben erhalten. Laut Bundesfinanzministerium entfällt der Großteil des übertragenen Betriebsvermögens weiterhin auf verschonungsfähige Fälle. Vgl. Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 17.12.2014, 1 BvL 21/12; Bundesministerium der Finanzen: Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, BT-Drs. 18/5923, S. 34 f.

[«3] Laut Auswertung der Rechenschaftsberichte der CDU, CSU und FDP durch Finanzwende e. V. gingen zwischen 2012 und 2017 mindestens 2,8 Mio. € aus dem Umfeld der Stiftung Familienunternehmen an diese Parteien (CDU: 1,898 Mio. €, CSU: 85.000 €, FDP: 974.000 €). Diese Spenden stammen von Kuratoriums- oder Geschäftsführungsmitgliedern der Stiftung und belegen eine regelmäßige politisch-finanzielle Zuwendung. Vgl. Finanzwende e. V.: Analyse Parteispenden aus dem Umfeld der Stiftung Familienunternehmen, August 2024, online: Lobbypedia-Eintrag „Stiftung Familienunternehmen – Hohe Spenden an CDU, CSU und FDP“

[«4] „Dem Deutschen Volke“? Die ungleiche Responsivität des Bundestags – Lea Elsässer · Svenja Hense · Armin Schäfer