Nicht ‚kneifen‘: ‚Reinspringen‘ – und zwar ‚sportlich‘! – Wie ein Oberst a. D. über einen künftigen Krieg mit Russland redet

Nicht ‚kneifen‘: ‚Reinspringen‘ – und zwar ‚sportlich‘! – Wie ein Oberst a. D. über einen künftigen Krieg mit Russland redet

Nicht ‚kneifen‘: ‚Reinspringen‘ – und zwar ‚sportlich‘! – Wie ein Oberst a. D. über einen künftigen Krieg mit Russland redet

Leo Ensel
Ein Artikel von Leo Ensel

Wer wissen will, wie fröhlich-unbedarft auch von gar nicht so unmaßgeblichen Leuten mittlerweile mit den Gewichten – einem möglichen (Atom-)Krieg mit Russland – hantiert wird, der sollte sich mal ein kleines Interview bei ntv antun. Eine polemische Replik erübrigt sich da schon fast. Von Leo Ensel.

„Difficile, satiram non scribere.“ Es ist schwierig, keine Satire zu schreiben – so hieß es zu bestimmten Anlässen bei den alten Römern. Angesichts der aktuellen Debatte über deutsche „Friedenstruppen“ in der Ukraine – sprich: dem Risiko eines veritablen Kriegs mit Russland, im Worst Case eines Atomkriegs – benötigt man allerdings noch nicht mal mehr die analoge Paraphrase: „Es ist schwierig, keine Polemik zu schreiben“! Es reicht schlicht, geduldig abzuwarten, bis der entleerte Magen den Kopf wieder abkühlt und sich dann, so gereinigt, den Text noch mal in Ruhe anzusehen. Hören, schauen und staunen wir also, den Disclaimer im Hinterkopf, was da vor ein paar Tagen bei ntv über den Äther flatterte:

„Tatsächlich haben wir ja diese Debatte seit Jahrzehnten“, antwortete Militärexperte und Oberst a. D. Ralph Thiele dort am 20. August 2025 live aus Siena auf die Eröffnungsfrage, wie realistisch denn eine deutsche Friedenstruppe in der Ukraine sei. Man traut seinen Ohren nicht: Seit Jahrzehnten zerbricht man sich also in Deutschland offenbar bereits den Kopf about German boots on Ukrainian ground? Wieder was gelernt.

Aber das ist erst der Anfang.

„Nicht kneifen!“

Es folgt ein langes Lamento über die personell so skandalös unzureichend ausgestattete deutsche Truppe: „Da darf man sich auch wundern, dass unser Verteidigungsminister, mittlerweile zweieinhalb Jahre im Amt, nicht mehr getan hat, um aus unseren 180.000 Frauen und Männern in der Bundeswehr mehr verlegbare Kontingente zu gestalten. Wir sind erschöpft mit dem Stellen der Brigade in Litauen, und es wird uns schwerfallen, weitere Kontingente bereitzustellen. Wir müssen das aber tun, wenn wir als die Macht, die wir sind – eine Führungsmacht, großes wirtschaftliches Land; für unseren eigenen Frieden sozusagen auch besorgt –, wenn wir damit eintreten wollen. Wir müssen da eintreten, wir können da nicht kneifen, und das wird jetzt ganz spannend, zu sehen, wie die Debatte läuft, zum einen. Zum zweiten aber auch, was der Verteidigungsminister tut, um mehr aus dieser Bundeswehr herauszuholen.“

Zur Erinnerung: Mit „Eintreten“ ist die Option der deutschen „Führungsmacht, großes wirtschaftliches Land“ gemeint, sogenannte „Friedenstruppen“ in die Ukraine zu schicken. Deutsche Soldaten sollen (wollen?) nach über acht Jahrzehnten mal wieder in die Ukraine „eintreten“… Und davor kann eine solche Macht wie wir – mit der, wie unser Kanzler verspricht, demnächst „stärksten konventionellen Armee Europas“ – natürlich nicht „kneifen“! (Fehlte gerade noch, dass uns die ganze Welt als „Drückeberger“ verhöhnt.)

„Stiefel auf dem Boden“

Der ntv-Journalist fragt Thiele, ob die Bundeswehr denn „für eine deutsche Beteiligung“ überhaupt noch Potenzial habe. Und liefert dem Militärexperten und Oberst a. D. damit das Stichwort für die erneute Klage: Lumpige (das Wort stammt nicht von Thiele) 7.000 Mann seien in den letzten Jahren und Jahrzehnten für Kontingente außerhalb Deutschlands „verfügbar“ gewesen, was sich „nicht dramatisch gestärkt“ habe. „Wir waren gerade dabei, insbesondere beim Heer – das hat ja immer auch ein bisschen etwas mit ‚Stiefeln auf dem Boden‘ zu tun –, das Heer wollte jetzt die drei Divisionen, die es für solche Aufgaben hätte, fit machen, und dann kam eben diese Brigade in Litauen dazwischen. Man hat also die drei Divisionen wieder personell und auch materiell geschlachtet und deren Befähigung etwas gegen Ende des Jahrzehnts gestellt.“ [sic!]

Wirklich tragisch, dass die Divisionen schon „geschlachtet“ wurden, bevor sie überhaupt in die Schlacht ziehen konnten …

„Energischer bestellen“ – bei der Industrie

Dennoch wäre es „auch mit der gegenwärtigen Stärke – auch wenn uns Personal fehlt – möglich, mehr zu machen“, wenn man nur „auf einen Teil hohler Strukturen verzichten“ und „bei der Industrie energischer bestellen“ würde. „Das große Problem, das die Bundeswehr ja immer wieder hat: Sie fordert von der Industrie, Dinge zu liefern, aber sie bestellt nicht! Und die Industrie kann ja auch keine Produktion anwerfen, Menschen anstellen usw., wenn sie keine Aufträge dafür kriegt. Also, das muss alles besser werden, und da war doch jetzt nach dreieinhalb Jahren Krieg in der Ukraine Zeit genug, hier mal die Weichen zu stellen!“

Tempi passati, verpasste Chancen. Auch hier scheint der Kriegstüchtigkeitsminister mal wieder gepennt zu haben. Aber vielleicht heißt es ja bald: Neues Spiel, neues Glück! Die Rüstungsindustrie wird es freuen.

„Steil in diese Situation hineinmarschieren“ – oder auch: „Sportlich reinspringen“

Und dann geht es endlich zur Sache. Der ntv-Journalist stellt die Gretchenfrage:

„Herr Thiele, wenn es deutsche Friedenstruppen tatsächlich in der Ukraine gäbe und sie würden in Kampfhandlungen verwickelt, wären wir dann nicht direkt in diesen Krieg zwischen Russland und der Ukraine involviert?“

Klare Antwort: „So ist es. Wir marschieren sozusagen steil in diese Situation hinein, und ich darf einfach sagen: Wenn wir eine Friedenstruppe stellen, gilt es natürlich, nach beiden Seiten abzusichern. Auch die Ukrainer sind gelegentlich ganz sportlich. (Ich will nur diesen Blickwinkel sozusagen aufstellen.)“

„Gelegentlich ganz sportlich“. Gemeint waren wohl für das globale Sicherheitssystem so brandgefährliche ukrainische Attacken wie die auf Module des russischen Raketenabwehrsystems im Mai letzten Jahres oder das diesjährige „Husarenstück“, die Angriffe auf die strategische Bomberflotte Russlands!

„Wir sind dann verwickelt, aber das werden wir auch zunehmend in den letzten Jahren. [sic!] Wenn wir sehen, dass wir jetzt der Ukraine dabei helfen, ääh, Produktionen langreichender, weitreichender Drohnen und Raketen bereitzustellen. Auch das wird man in Moskau, ääh, zur Kenntnis nehmen, wenn die dann mal in Moskau oder noch weiter im Hinterland einschlagen. Also, wir sind mittendrin, da reinzuspringen.“

„Wenn die dann mal in Moskau oder noch weiter im Hinterland einschlagen …“ Soll wohl heißen: Wir sind ja eh schon längst – indirekt – im Krieg mit Russland. (By the way: Er ist nicht der Einzige, der diese frohe Botschaft stolz verkündet.) Warum dann nicht endlich Nägel mit Köpfen machen? Motto: „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich‘s völlig ungeniert!“

„In einen sich vertiefenden Krieg hineineskalieren“

Weiter geht‘s: „Und die Frage, die sich eben stellt, ganz konkret auch im Zuge dieser Friedensverhandlungen, ist: Wollen wir jetzt sozusagen sicher in einen sich vertiefenden Krieg hineineskalieren – auch mit einer, ääh, deutschen Mitwirkung, vielleicht noch nicht mit Soldaten, aber mit vielen anderen Dingen? Oder wollen wir etwas Risiko gehen und den Frieden wagen, dann müssen wir uns aber auch an solchen Friedenstruppen beteiligen?“

Man lasse sich das auf der Zunge zergehen. Die vom Militärexperten genannte ‚Alternative‘ lautet: Wollen wir „sicher [!] in einen sich vertiefenden Krieg hineineskalieren“ oder wollen wir „etwas Risiko gehen“? Auf Deutsch: Wollen wir die Russen hard- oder softcoremäßig bis aufs Blut reizen? (Und die entsprechenden Folgen für unser Land in Kauf nehmen.)

„Das ist also alles ein schwieriges Unternehmen, für das man sich aber vor allen Dingen erst mal gut aufstellen muss. Die Glaubwürdigkeit solcher Truppen kommt doch auch mit deren Können. Und dafür müssen wir sie haben. Und nicht nur die Deutschen, auch die anderen kämpfen enorm, damit überhaupt diese minimalen 25.000 Soldaten, die im Augenblick in der Rede sind, zusammenzukriegen. [sic!] Gebraucht würden ja faktisch viele, viele mehr. Also, es ist alles so ein bisschen auf Rand genäht!“

Fazit dieser kaum erträglichen fünf Minuten: Dieser Mann spielt in einer fröhlich-nonchalanten Weise Russisches Roulette mit unser aller Leben, dass einem speiübel werden kann.

Kritische Nachfragen von ntv? – Fehlanzeige!

PS:

Wie riet uns noch Christa Wolfs Kassandra? „Lasst euch nicht von den Eigenen täuschen!“ – Nein, täuschen lassen müssen wir uns hier überhaupt nicht.

Mit freundlicher Genehmigung von Globalbridge.

Titelbild: Findet die ukrainischen Kriegshandlungen „gelegentlich ganz sportlich“ und meint, dass wir in den Krieg zwischen der Ukraine und Russland gerade „steil hineinmarschieren“: Oberst a.D. Ralph Thiele. (Screenshot aus dem ntv-Interview)