Nepal im Aufruhr: Ein Land kämpft gegen Korruption

Nepal im Aufruhr: Ein Land kämpft gegen Korruption

Nepal im Aufruhr: Ein Land kämpft gegen Korruption

Ulrich Heyden
Ein Artikel von Ulrich Heyden

Die jüngsten Proteste in Kathmandu zeigen die tiefe Frustration der nepalesischen Jugend über Korruption und Misswirtschaft. Im Interview mit Ulrich Heyden berichtet der nepalesische Politker Yubaraj Chaulagain von den dramatischen Ereignissen, die zur Regierungskrise führten. Gewalt, Brände und 55 Tote prägen die Lage. Doch die Forderung nach einer neuen Regierung und Neuwahlen gibt Hoffnung auf Wandel.

Lesen Sie zum Thema auch: Der Aufstand der Generation Z in Nepal dreht sich um Arbeitsplätze, Würde – und ein gescheitertes Entwicklungsmodell.

Können Sie beschreiben, was in den letzten fünf Tagen in Nepal passierte? Was waren Ihre Gefühle, was haben Sie gesehen? Waren Sie in Gefahr?

Yubaraj Chaulagain: Wir haben in Nepal seit dem September 2015 eine Verfassung. Also genau seit zehn Jahren. Wir haben mit dieser neuen Verfassung von Nepal gute und schlechte Erfahrungen gemacht. Wir hatten zweimal Wahlen auf lokaler, Bezirks- und föderaler Ebene. Es gab viele Tiefen und Höhen bei der Einführung der neuen Verfassung. Es war das erste Mal in der Geschichte von Nepal, dass eine Verfassung von den Menschen selbst eingeführt wurde, das heißt von der Verfassungsgebenden Versammlung. Es gab einige Praktiken, mit denen die Menschen unzufrieden waren. Das betraf insbesondere die Korruption. Vor allem die jüngeren, aber auch andere Menschen reagierten auf die Korruption. Sie schrieben und sie redeten gegen diese Praktiken.

Vor einem Jahr bildete sich eine Koalition aus den zwei größten Parteien, Nepali Congress und der Kommunistischen Partei Vereinigte Marxisten-Leninisten (KP-UML). Sie versuchten, die Menschen davon zu überzeugen, dass sie eine gute Regierung bilden werden, weil sie traditionell die größten Oppositionsparteien von Nepal waren. Aber nach der Bildung der Koalition wurden die Menschen wütend. Es gab keine gute Regierungsführung und keine Spur von Anti-Korruptions-Politik.

Eine kleine Gruppe aus der jungen Generation, insbesondere die Gruppe Gen-Z, rief daraufhin Anfang September zu einem Protestmarsch (am 8. September) auf. Während dieses Marsches zogen mehrere zehntausend Jugendliche durch die Straßen von Kathmandu. Die Polizei setzte gegen die Demonstranten massiv Gewalt ein. 19 Jugendliche von der Gen-Z-Gruppe wurden an einem Ort (vor dem Parlament) innerhalb von vier Stunden getötet. Das löste eine massenhafte Reaktion aus. Am 9. September begann ein großer Protest von wütenden und frustrierten Menschen auf den Straßen. Die Protestierenden zogen zu der zentralen Verwaltung von Nepal und zum Sitz des Ministerpräsidenten und verschiedenen Ministerien.

Alle wichtigen Archive der Regierung wurden geraubt. Das Büro des Präsidenten und des Ministerpräsidenten wurden in Brand gesteckt. Auch die Justizbehörde, der Oberste Gerichtshof und die Parlamentsgebäude wurden verwüstet und in Brand gesteckt. Die Häuser und Residenzen der führenden Personen wurden in Brand gesetzt und führende Personen wurden verprügelt. Auch viele Geschäftshäuser wurden angesteckt. Polizisten und Sicherheitsleute wurden getötet. Bisher gibt es 55 Tote. Ich glaube, diese Zahl wird sich noch erhöhen. In Gebieten, wo Häuser brannten, werden noch Leichen gefunden.

Am 9. September hat der Ministerpräsident von Nepal (K.P. Sharma Oli) seinen Rücktritt erklärt. Der Innenminister (Ramesh Lekhak) war bereits am 8. September, dem ersten Tag der Gen-Z-Proteste, zurückgetreten. Am 9. September um 10 Uhr erklärte die Armee, dass sie die Kontrolle für die öffentliche Sicherheit übernimmt. Die lebenswichtigen Dienste wie die Wasser- und die Krankenversorgung sowie Bäckereien dürfen Fahrzeuge benutzen.

Die lebenswichtigen Dienste arbeiten normal?

Nein, nicht normal. Der öffentliche Nahverkehr ist noch nicht wieder zugelassen. Um aus dem Haus zu gehen, braucht man einen besonderen Grund. Die Geschäfte sind nur vormittags geöffnet. Wer mit dem Auto fährt kann von Soldaten angehalten und gefragt werden, wo man hinfährt. Sie können Jemanden zurückschicken, wenn der Grund der Fahrt nicht berechtigt ist. Die Situation ist nicht normal. Die Menschen haben kein Recht sich im öffentlichen Raum zu versammeln. Mehr als fünf Menschen dürfen nicht zusammensitzen. So bleiben sie Menschen zuhause. Seit die Armee die Straßen kontrolliert gibt es keine Formen von großem Protest mehr auf den Straßen.

Die Führer der Gen-Z-Bewegung befinden sich im Hauptquartier der Armee, um über die Bildung einer neuen Regierung zu sprechen. Aber es gibt unter ihnen keinen Konsens über die Ernennung eines neuen Ministerpräsidenten. Alle großen politischen Parteien – auch meine Partei, die Kommunistische Partei (Maoistisches Zentrum) – haben erklärt, dass die Forderung der Gen-Z-Leute und ihre Vorschläge für eine neue Regierung akzeptiert werden. Von den Gen-Z-Führern hat niemand einen Anspruch auf den Posten des Ministerpräsidenten geäußert.

Wir sind der Meinung, die weitere Entwicklung muss im Rahmen der Verfassung stattfinden. Damit sind auch die Führer der Proteste einverstanden. Die Frage ist jetzt, was wird mit dem Parlament geschehen. Das Parlament wurde vor drei Jahren gewählt. Das Unterhaus hat 275 Abgeordnete (davon werden 165 direkt und 110 über Parteilisten gewählt). Außerdem gibt es ein Oberhaus mit 69 Abgeordneten. Wir haben außerdem Parlamente in sieben Provinzen und lokale Regierungen. Die Gen-Z-Führer fordern die sofortige Auflösung des Parlaments und Neuwahlen. Alle politischen Parteien – auch unsere Partei – sind bereit zu Neuwahlen, weil es einen großen Protest im ganzen Land gab. Aber es wird noch diskutiert, wie das existierende Parlament aufgelöst und eine neue Regierung gebildet wird.

Vor zehn Jahren haben wir die Monarchie abgeschafft. Es gibt aber politische Kräfte, welche die Monarchie wieder einführen wollen. Der letzte König von Nepal (Gyanendra Bir Bikram Shah Dev) lebt noch. Er möchte seine alte Stellung wieder haben.

Ist es tatsächlich möglich, dass die Monarchie zurückkommt und die jetzige Verfassung abgeschafft wird?

Meiner Meinung nach ist das nicht möglich. Die Gen-Z-Protestbewegung fordert nicht die Wiedereinführung der Monarchie. Sie fordern Maßnahmen gegen die Korruption. Sie akzeptieren aber die geltende Verfassung. Wir haben bei der Einführung der Verfassung Fehler gemacht. Wir müsse diese Fehler korrigieren und wir müssen die Wünsche der Menschen, insbesondere der Jüngeren, berücksichtigen.

Die jetzige Verfassung ist das erste Mal in der Geschichte Nepals von den Vertretern der Menschen – der Konstituierenden Versammlung – eingeführt worden. Es ist die siebte Verfassung von Nepal. Die ersten sechs Verfassungen wurden von den Herrschenden erlassen.

Ist es möglich, dass der Bürgermeister von Kathmandau, Balendra Shah, neuer Ministerpräsident wird?

Inzwischen gibt es inzwischen neue Nachrichten. Die Diskussionen über einen neuen Ministerpräsidenten wurden beendet. In einer Stunde wird ein neuer neue Ministerpräsident für die Übergangsperiode ernannt. Die neue Ministerpräsidentin wird Sushila Karki sein. Sie war früher Leiterin der Justizorgane. Das Parlament soll in einer Stunde aufgelöst werden. Der Präsident von Nepal (Ram Chandra Poudel) bleibt im Amt. Es gibt keine Möglichkeit, dass die gestürzte Monarchie zurückkehrt. Aber es wird jetzt kein Parlament mehr geben. Ich denke der Termin für Neuwahlen wird von der Wahlkommission bekannt gegeben. (Anmerkung d. Red.: Der Termin wurde auf den 5. März 2026 festgesetzt.)

Werden die Menschen, die auf den Straßen protestiert haben, dieses Ergebnis akzeptieren?

Sie werden es akzeptieren. Denn die Führer der Gen-Z-Bewegung haben Sushila Karki selbst als neue Ministerpräsidentin vorgeschlagen. Die jetzige Entscheidung wurde nicht vom Präsidenten von Nepal (Ramchandra Paudel) bestimmt. Diese Entscheidung wurde in den letzten drei Tagen nach den gewaltsamen Protesten diskutiert. In diesen drei Tagen haben der Präsident von Nepal und der Chef der Armee (Ashok Raj Sigdel) diese Fragen mit den Leitern der politischen Parteien und den Führer der Protestbewegung und den Verfassungsexperten diskutiert. Die jetzige Entscheidung bewegt sich allerdings etwas außerhalb der Verfassung.

Sind sie den Menschen, die auf den Straßen protestierten, persönlich begegnet? Wie denken diese Leute? Was waren die Gefühle dieser Menschen? Wollen sie in Nepal oder eigentlich in anderen Ländern?

Ja, ich hatte persönliche Kontakte mit vielen der Protestierenden, an verschiedenen Orten und in verschiedenen Gruppen der Gesellschaft. Ihre Hauptforderung ist die Beendigung der Korruption. Und ich denke, das ist eine richtige Forderung. Eine gute Regierungsführung ist die dringendste Aufgabe. Wir alle, die politischen Parteien und staatlichen Organisationen, müssen diese Forderung umsetzen. Aber das ist sehr schwierig. Die Frage ist, wie soll man die Führer des Staates auswählen? Was die Umsetzung dieser Frage betrifft haben die Aktivisten von der Straße keine konkrete Idee. Aber die Aktivisten sind nicht gegen die jetzige Verfassung von Nepal. Sie fordern keine neue Verfassung. Aber es gibt die Möglichkeiten einige Regeln der Verfassung zu ändern. Meine Partei und ich fordern die Direktwahl des Ministerpräsidenten oder des Präsidenten durch die Bevölkerung von Nepal.

Es gibt auch die Möglichkeit das Wahlsystem von Nepal zu ändern. Wir haben jetzt zwei Wahlsysteme, die Direktwahl eines Kandidaten und die Stimmabgabe für eine Partei. Wenn die Gesetzgeber nicht Minister, sondern einfache Abgeordnete sind, wird es weniger Korruption geben. Es wird eine Kommission geben, in der über Änderungen der Verfassung gesprochen wird. Das wird geschehen, sobald ein neues Parlament gewählt wurde.

In einigen Medien wurde auf die besondere geopolitische Lage von Nepal hingewiesen. Das Land liegt zwischen China und Indien. Einige Leute sagen, die Unruhen in Kathmandu sind die Folge davon, dass andere Staaten versuchen die Lage in Nepal zu destabilisieren. Gibt es diese Beeinflussung von außerhalb?

Die Vorfälle in Nepal ereigneten sich unmittelbar nachdem der Ministerpräsident von Nepal, K.P. Sharma Oli, aus China zurückkam. Dort hatte er an der Konferenz der Shanghai Cooperation Organisation in Shanghai teilgenommen. Er traf sich dort mit Xi Jinping, Wladimir Putin und Ministerpräsident Modi. In Katmandu wird jetzt davon gesprochen, dass US-amerikanische Agenturen bei den Unruhen in Kathmandu ihre Finger mit im Spiel hatten.

Die Streitkräfte von Nepal und die Sicherheitskräfte agierten nicht besonders fair während der Unruhen. Die Sicherheitskräfte setzten massiv Gewalt ein. Wir sind der Meinung, dass das ein Fehler war. Es gab keinen Grund 19 Personen an einer Stelle – vor dem Parlament von Nepal – zu töten.

Sie meinen das war zu hart und nicht normal? Wollen sie sagen, dass das eine Provokation war, um die Emotionen und die Konfrontation zu verstärken?

Die Organisation, die zu den Protesten aufrief, Hami Nepali („Unser Nepal“), ist jetzt führend an den Gesprächen mit der Armeeführung von Nepal beteiligt. Hami Nepali bekam Spenden aus den USA. (Zum Hintergrund von Hami Nepali siehe hier). Eine andere Sache ist, dass es zwischen der Armee von Nepal und der US Army gute Beziehungen gibt.

Es geht um geopolitische Fragen. Es gibt eine Rivalität zwischen China und Indien und es gibt eine Rivalität zwischen China und den USA. Nepal befindet sich geopolitisch in einer sensiblen Lage. Aufgrund der Rivalität mit China haben die USA auch Interessen in Nepal. Insbesondere die USA und Indien haben jetzt Einfluss auf die Lösung der Krise in Nepal.

Aber wir denken, dass die Geopolitik ein sekundärer Faktor ist. Die Hauptsache ist, dass die Politik in Nepal von den zwei größten Parlamentsparteien festgelegt wird. Und diese Parteien machten Fehler. Es gab Korruption in den Institutionen der Regierung. Und die staatliche Bürokratie ist auf die Frustration der Menschen wegen der Korruption nicht eingegangen.

Sind die elektronischen Medien jetzt wieder arbeitsfähig? Wer veröffentlicht jetzt Reportagen, News und Analysen über die Situation in Nepal?

Die Medien machen jetzt ihre Arbeit. Es ist alles in Ordnung. Es gibt keine Zensur. Die Protestler verwüsteten das Gebäude des größten Medienunternehmens in Nepal, Kantipur Daily. Das ist sehr schlimm. Kantipur Daily konnte zwei Tage nicht arbeiten.

Und Facebook?

Soziale Medien wurden abgeschaltet. Damit wurde Öl ins Feuer geschüttet. Aber jetzt können alle elektronischen Medien wieder normal arbeiten, so wie vor den Protesten.

Möchten Sie eine Schlussbemerkung machen?

Die Unruhen in Nepal haben den Politikern gezeigt, dass sie ihre Politik ändern und den Wünschen der Bevölkerung Rechnung tragen müssen. Kein Politiker sollte lang im Amt sein. Können sie sich vorstellen ein Parteiführer, der 40 Jahre im Amt ist? Die Gen-Z-Bewegung will das nicht. Es ist eine Lektion für die ganze Welt. Wenn man von Demokratie spricht, kann man nicht machen, was man will. Man muss im Geist der Verfassung handeln. Ich glaube Nepal wird wieder aufstehen. Es wird keine Gewalt mehr geben. Ich glaube die Situation wird sich normalisieren. Und es wird keine Strafmaßnahmen gegen politische Aktivitäten geben.

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person: Yubaraj Chaulagain ist Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei (Maoistisches Zentrum) in Nepal.

Siehe auch: Zur Vorgeschichte siehe auch das Interview welches Ulrich Heyden mit Yubaraj Chaulagain 2018 führte.

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