Kanzler Merz hat in einer Rede mit schamloser Wortakrobatik die Schleifung des Sozialstaats als Akt der Fürsorge etikettiert. Die Opfer dieser Politik – Arbeitslose, Geringverdiener, Alleinerziehende und Wohnungslose – bleiben sprachlich unsichtbar, während Merz so tut, als schütze er durch Kürzen und Strafen die wirklich Bedürftigen. Das Ergebnis ist eine zynische Verdrehung: Der Sozialstaat wird entkernt, aber in der Rede des Kanzlers klingt es wie ein Rettungseinsatz. Ein Kommentar von Detlef Koch.
Berlin, Bundestag, 17. September 2025: Friedrich Merz steht am Rednerpult und beschwört dramatisch „eine der herausforderndsten Phasen unserer neueren Geschichte“. Er malt ein Bild der Krise, spricht von der größten Bewährungsprobe für den Westen und warnt vor Bedrohungen für Freiheit, Wohlstand und Zusammenhalt. Doch während der CDU-Politiker oft mit schamloser Fürsorge-Rhetorik den Ernst der Lage betont, sind seine politischen Rezepte arrogant, kalt und erbarmungslos. Zwischen dem „christlichen Menschenbild“ seiner Partei und Bürgergeld-Kürzungen tut sich ein tiefer Abgrund auf: Hier christlicher Anspruch – dort neoliberale Härte.
Wachstum um jeden Preis – und kein Wort von Nächstenliebe
Merz’ Antwort auf die „angespannte Weltlage und Wirtschaftsflaute“ ist simpel und altbekannt: Wachstum, Wachstum und nochmals Wachstum. „Nur in einer auf Wachstum ausgerichteten Volkswirtschaft werden die Mittel gewonnen, die wir brauchen, um Infrastruktur zu finanzieren, Solidarität zu üben und soziale Sicherheit auf Dauer zu gewährleisten“, predigt er.
Ja, Herr Merz – aber die Menschen, die auf breiter Fläche Wachstum erzeugen könnten, haben kaum Geld, um die nötige Nachfrage an Konsumgütern zu erzeugen. Mit fast missionarischem Eifer verkündet der Kanzler ein Wachstums-Evangelium für reiche Unternehmerfamilien, ohne die Binnennachfrage zu fördern. Kein Wort verliert er über konkrete Schicksale der Menschen am Rande der Gesellschaft.
Von Mitgefühl befreite Abstraktion statt selbstkritische Konfrontation mit realer Not: Zahlen, Systeme, Wachstumsraten dominieren nicht nur seine Rede, sondern auch sein angeblich ach so christliches Herz. Ja, die Armut vor der eigenen Haustür widert ihn eigentlich an. Empathische Nächstenliebe im Sinne Jesu? Fehlanzeige. Anstelle des biblischen Gebots „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ regiert bei Merz ein technokratisches „Wir müssen die Wettbewerbsfähigkeit sichern“ – eine kühle Management-Rhetorik ohne Mitgefühl.
Sozialabbau im Deckmantel der Fürsorge
Merz demonstriert in dieser Haushaltsdebatte auch, wie sprachliche Tricks harte Einschnitte kaschieren. Sprachliche Umdeutung ist sein Werkzeug: Aus Sozialabbau wird „notwendige Reform“. Aus Leistungskürzungen wird der angebliche „Erhalt des Sozialstaats“. Tatsächlich behauptet Merz, er wolle den Sozialstaat retten, nicht schleifen – netter Versuch! Merz weist den Vorwurf eines „Kahlschlags am Sozialstaat“ entrüstet zurück und erklärt, Ziel seiner Reformen sei der Erhalt des Sozialstaats „so wie wir ihn wirklich brauchen“. Wer ist denn bitte „wir“? Gerade weil man den Kern des Sozialstaates erhalten wolle, müsse man das bisherige Bürgergeld „hin zu einer neuen Grundsicherung grundlegend ändern“.
Mit solcher Wortakrobatik wird ausgerechnet der Griff zur Axt als Akt der Fürsorge etikettiert. Die Opfer dieser Politik – Arbeitslose, Geringverdiener, Alleinerziehende und Wohnungslose – bleiben sprachlich unsichtbar, während Merz so tut, als schütze er durch Kürzen und Strafen die wirklich Bedürftigen. Das Ergebnis ist eine zynische Verdrehung: Der Sozialstaat wird entkernt, aber in der Rede des Kanzlers klingt es wie ein Rettungseinsatz.
Fünf Mechanismen der Empathie-Vermeidung als Credo des „Christlichen Menschenbildes“
Diese Diskrepanz zwischen christlichem Etikett und sozialer Kälte folgt einem Muster. Merz’ Politik bedient fünf Mechanismen der politischen Empathie-Vermeidung – Strategien, mit denen Mitgefühl ausgeblendet und Härte gerechtfertigt wird:
- Abstraktion statt Konfrontation: Politische Entscheidungen werden im abstrakten Makro-Modus verhandelt. Merz spricht gern von „Zukunftsfähigkeit“ und „Volkswirtschaft“ in großen Zahlen, anstatt das konkrete Leid Arbeitsloser oder Obdachloser anzuerkennen. Individuelle Schicksale verschwinden hinter Statistiken; emotionale Resonanz bleibt aus. So lässt sich Armut leichter ignorieren.
- Sprachliche Umdeutung: Harte Einschnitte heißen beschönigend „Reform“ oder „Modernisierung“. Wenn Merz vom „Erhalt des Sozialstaats“ spricht, meint er in Wahrheit Leistungskürzungen. Diese semantische Verpackung tarnt den Sozialabbau als Fürsorgeakt. Empathie entfällt, weil die Betroffenen in der gewählten Sprache nicht mehr vorkommen – niemand soll merken, dass hier Existenzen beschnitten werden.
- Moralisierung der Härte: Strenge gegen Arme wird zur Tugend umgedeutet. Merz stellt es als Akt der Gerechtigkeit dar, den Druck auf Arbeitslose zu erhöhen: „Wir wollen, dass alle, die arbeiten können, auch tatsächlich arbeiten“. Härte wird als verantwortungsvolles Handeln moralisch aufgeladen – Anreize setzen, Eigenverantwortung stärken. Wer weichere Lösungen vorschlägt, gilt prompt als naiv oder unsolide. Mitgefühl erscheint nicht mehr als Pflicht gegenüber den Schwachen, sondern als hinderliche Sentimentalität auf dem Weg der „notwendigen Reformen“.
- Projektion der Schuld: Das Leid der Benachteiligten wird ihnen selbst angelastet. In Merz’ Logik ist nicht etwa die Politik schuld an Arbeitslosigkeit oder Armut – verantwortlich sind vor allem die Betroffenen, die „nicht genug gearbeitet haben“ oder „Fehlanreize ausnutzen“. Er warnt, der „arbeitende“ Bürger dürfe nicht den Eindruck haben, „dass er den Missbrauch des Systems finanziert“. Die Botschaft dahinter: Schuld sind die „Missbraucher“ des Sozialstaats, nicht die Strukturen oder Entscheidungen der Regierung. Indem Merz den Eindruck erweckt, viele Leistungsbezieher wären Betrüger, rechtfertigt er präventiv jede Härte – und die Politik wäscht ihre Hände in Unschuld.
- Selbstbild als Realist: Merz inszeniert sich als unbequemer Wahrheitsverkünder, der den Mut hat, notwendige Härten durchzusetzen. Er stilisiert sich zum verantwortungsvollen Realisten, der im Gegensatz zu träumerischen Gutmenschen die Dinge beim Namen nennt. Die Diskrepanz zwischen christlichem Selbstbild und sozialer Kälte überdeckt er mit einem Narrativ à la: „Gerade durch Strenge sichern wir langfristig das Wohl aller.“ Merz betont immer wieder die Unumgänglichkeit seiner Reformen und drängt aufs Tempo: „Deshalb müssen wir handeln, wir müssen es schnell tun“. In dieser Selbstwahrnehmung als harte Hand zum Wohle des Landes sieht er keinen Widerspruch mehr zu christlichen Werten – die Härte wird zur höchsten Form der Verantwortung umgedeutet.
„Liebe deinen Nächsten“ – gilt das noch?
Hier prallt Merz’ neoliberale Härte frontal auf die Werte der christlichen Sozialethik. „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen“ – so heißt es in der Bergpredigt. Doch Barmherzigkeit sucht man bei Merz vergeblich. Ein Kanzler, der sich auf das „C“ (christlich) im Parteinamen beruft, aber sozialpolitisch das Mitgefühl abkoppelt, verrät die Essenz christlicher Botschaft.
Nächstenliebe? In den Sonntagsreden vielleicht. Unter der Woche predigt Merz eher: Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner. Die biblische Maxime „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ scheint ersetzt durch ein kaltes Credo: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“ Seine Politik misst Erfolg in Einsparungen und Wachstumsraten – und ignoriert die Mahnung Jesu, die Schwachen zu schützen und den Hungrigen zu speisen. Man könnte meinen, Merz diene mehr dem Mammon als dem Mitleid: „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“ – dieser Warnruf aus dem Evangelium (Mt 6,24) verhallt ungehört, während der Kanzler lieber dem Markt huldigt.
Am Ende bleibt ein bitterer Nachgeschmack. Friedrich Merz gibt den besorgten Landesvater und spricht vom Zusammenhalt, doch seine Politik der sozialen Grausamkeit zeugt von emotionaler und moralischer Leere. Die christliche Rhetorik ist Fassade – dahinter lauert ein entkernter Sozialstaat, in dem Haushaltszahlen wichtiger sind als menschliche Schicksale. Es ist die altbekannte Härte einer neoliberalen Ideologie, die sich einen moralischen Anstrich gibt, aber kein echtes Mitgefühl kennt. Abschließend bleibt die Frage: „Wem spielt eine Politik in die Hände, die Härte predigt, aber Mitgefühl abkoppelt?“
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