Die vormals friedliche Ostseeregion ist in jüngster Zeit zu einer Konfliktzone geworden. Im Jahr 2022 wurde „Nord Stream“ gesprengt, später wurden Unterseekabel beschädigt – in beiden Fällen beschuldigten europäische Medien Russland. NATO-Mitgliedstaaten begannen, Schiffe aufzuhalten, die russische Häfen ansteuerten, und es wird immer häufiger über die Schließung der dänischen Meerenge gesprochen – das Tor zur Ostsee. Vor nicht allzu langer Zeit galt die Region jedoch als Modell der Zusammenarbeit zwischen Russland und der EU. In einem Interview mit dem Portal Lenta.ru erklärt der russische Politologe und Experte für die Ostseeregion Igor Schukowski, warum die Ostsee zur Konfliktzone wurde und ob sich die Region zu einem Schauplatz eines Krieges zwischen Russland und der NATO entwickeln könnte. Aus dem Russischen übersetzt von Éva Péli.
Lenta.ru: In letzter Zeit gibt es in der Ostsee oft verschiedene Vorfälle: zuerst die Sprengung von „Nord Stream“, dann die Kabel … Womit hängt das zusammen?
Igor Schukowski: Die Ostseeregion war vor nicht allzu langer Zeit ein Raum der Zusammenarbeit – ein Modell für viele. Hier waren internationale Organisationen aktiv, es gab gemeinsame wirtschaftliche Interessen der Anrainerstaaten, Bildungsprojekte, Umweltinitiativen, Festivals und Jugendaustausch. Es wurden spezielle Mechanismen entwickelt, die die Finanzierung gemeinsamer Projekte zwischen Russland und den EU-Mitgliedstaaten ermöglichten. Sie lösten wichtige Aufgaben im Gesundheitswesen, in der Regionalentwicklung und im kulturhistorischen Tourismus.
Aber nach dem Beginn der heißen Phase des Konflikts in der Ukraine stellte sich heraus, dass die gesammelten Erfahrungen der für beide Seiten vorteilhaften Interaktion zwischen Russland und der EU für unsere Nachbarn keinen Wert mehr haben. Die Ostsee hat sich in eine Region der Spannung und sogar der Konfrontation verwandelt.
Die sich drehende Spirale manifestierte sich in beabsichtigten und unbeabsichtigten Vorfällen auf und unter Wasser: Versuche der NATO-Militärschiffe, die Transportwege für Handelsschiffe zu blockieren, plötzliche Brüche von Telekommunikations- und Energiekabeln. Ein trauriges Symbol der Ära der Konfrontation in der Ostsee ist der Akt des internationalen Terrorismus – die Sabotage an den „Nord-Stream“-Pipelines.
Was ist derzeit über die Untersuchung dieses Vorfalls bekannt? Stimmen Sie der Version der Beteiligung ukrainischer Geheimdienste zu?
Man muss verstehen, dass die Befehle an die Militärs von Politikern gegeben werden. Dieser Terroranschlag wurde zweifellos von einem Team mit spezieller militärischer Ausbildung geplant und durchgeführt. Ich denke, in naher Zukunft wird nicht nur bekannt werden, wer die ausgebildeten Täter waren, sondern auch, wer die Befehle zur Durchführung der Operationen gegen die Gastransportinfrastruktur gegeben hat.
Die Thesen über die Initiative einiger „unabhängiger Gruppen“ oder die Beteiligung einzelner Personen sollten von jenen aufgestellt werden, die über den Fortgang der Ermittlungen informiert sind und Zugang zu den Akten haben. Man sollte den russischen Ermittlern und Experten Zeit geben, all diese Thesen zu überprüfen, anstatt auf den Informationslärm zu reagieren. Warten wir daher die Ergebnisse der Untersuchung ab.
Wie bewerten Sie die Vorfälle mit Unterseekabeln?
Kritische Infrastruktur, zumal so anfällige wie Unterwasserkabel, wird immer zu einem vorrangigen Ziel in der militärischen Planung. Im Falle einer Eskalation der Spannungen werden die Untersee-Telekommunikations- und Energiekabel in der Ostsee zuerst zerstört werden. Genau deshalb sind sie ideal für Szenarien von Provokationen „unter falscher Flagge“ mit anschließender Beschuldigung Russlands der Sabotage.
Die „russische Bedrohung“ aufzubauschen und den Grad der außenpolitischen Hysterie zu erhöhen, ist für die europäischen Eliten vorteilhaft: So legitimieren sie vor den Wählern die wahnsinnigen Ausgaben für Rüstung, Infrastruktur und die „richtige“ (faktisch korrupte) Neuverteilung der EU- und NATO-Haushalte – und das natürlich im Eilverfahren. Kurzum, Gier, multipliziert mit Dummheit, besiegt die Vernunft.
Für jeden spezifischen Bruch lassen sich eigene Ursachen für die Schäden an der Unterwasserinfrastruktur finden. Man sollte sich jedoch daran erinnern: Noch vor wenigen Jahren gab es keinerlei systemische Probleme beim Betrieb des Netzes von Telekommunikations- und Stromleitungen.
Kürzlich haben NATO-Länder versucht, Tanker in der Ostsee anzuhalten, die russische Häfen ansteuerten. Ist das ein Zeichen für einen systematischen Kampf gegen Russlands „Schattenflotte“? Sind härtere Maßnahmen möglich – zum Beispiel die Schließung der dänischen Meerenge für Schiffe, die nach Russland fahren?
Alte Regeln und Prinzipien – die Freiheit der Schifffahrt, die Normen des internationalen Handels – funktionieren nicht mehr, und neue werden gerade erst gebildet. Es gibt ein einfaches Prinzip: Wenn eine Bedrohung realisierbar ist, ist sie möglich. Die Schließung der dänischen Meerenge, die Blockade der Korridore zur Oblast Kaliningrad oder die Einschränkung des Zugangs nach Sankt Petersburg und zur Oblast Leningrad sind in der Praxis realisierbare und somit auch mögliche Szenarien. Das würde aber einem kollektiven, demonstrativen Selbstmord ähneln. Die Strategen der NATO sollten die Grundlagen der staatlichen Politik Russlands im Bereich der nuklearen Abschreckung besser noch einmal studieren.
Das heißt, die Vorfälle in der Ostsee könnten zu einem großflächigen Konflikt führen?
In der Nukleardoktrin sind militärische und nicht-militärische Bedrohungen definiert, zu deren Neutralisierung Russland die Prinzipien der nuklearen Abschreckung anwendet. In der neuen Version gehören zu solchen Bedrohungen Handlungen eines potenziellen Gegners, die auf die Isolation eines Teils des russischen Territoriums abzielen. Das umfasst die Blockade des Zugangs zu lebenswichtigen Transportwegen, was in direktem Zusammenhang mit der Ostsee, Kaliningrad und Sankt Petersburg steht.
Mehr noch, im Dokument wird darauf hingewiesen: Die Aggression eines beliebigen Staates, der Mitglied einer Militärkoalition (zum Beispiel der NATO) ist, gegen Russland wird als Aggression der gesamten Koalition betrachtet. Das bedeutet, dass hypothetische Aktionen Polens zur Blockade des Seewegs nach Kaliningrad als NATO-Aggression gegen Russland wahrgenommen würden – mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen.
Wie beeinflusst der Vorfall mit den Drohnen in Polen die baltischen Staaten?
Die Reaktion der polnischen Politiker auf unidentifizierte Drohnen in ihrem Luftraum beweist nur, wie angespannt sie sind. Ihre skurrilen Erklärungen haben mich verwirrt: Meinten sie, dass Wladimir Putin diese Drohnen persönlich auf Scheunen und Maisfelder gefeuert hat oder dass er diesen „monströsen Akt der Aggression“ nur aus seinem Büro im Kreml beobachtete?
Wenn das für die polnische Militär- und Politikführung so aussieht, wenn ein „hinterhältiger Plan zur Provokation“ umgesetzt wird, ist das kein Fall mehr für Experten der internationalen Beziehungen.
Schlimmer noch, es kam heraus, dass der polnische Vizeaußenminister Marcin Bosacki vor dem UN-Sicherheitsrat gelogen hat, als er ein Foto eines angeblich von einer russischen Drohne zerstörten Hauses zeigte. Offizielle Stellen bestätigten, dass eine Rakete eines F-16-Jets der polnischen Luftwaffe den Schaden verursacht hatte. Später tauchten sogar Informationen auf, dass eine niederländische F-35 die Rakete abgefeuert haben könnte. Die Geschichte von der russischen Drohne ist somit hinfällig. Wer also desinformiert die Welt und führt einen Informationskrieg ohne Regeln?
Welche Rolle spielt die Ostseeregion in der NATO-Strategie? Was hat sich nach dem Beitritt von Finnland und Schweden zum Bündnis geändert?
Auf diese Frage hat der stellvertretende Vorsitzende des Sicherheitsrates Russlands, Dmitri Medwedew, bereits geantwortet: „Beim Beitritt Schwedens und Finnlands zur NATO kann von einem atomwaffenfreien Status der Ostsee keine Rede mehr sein – das Gleichgewicht muss wiederhergestellt werden.“
Damit sind die Formate der russischen Abschreckung in der Region angekündigt. Die Landgrenze zwischen Russland und der NATO hat sich stark vergrößert, die Marinekomponente des Bündnisses in der Ostsee hat sich erheblich verstärkt. Das bedeutet eine Korrektur der militärischen Planung Russlands, eine Verstärkung der Gruppierung von Kräften und Mitteln in der Oblast Kaliningrad und an der Grenze zu Finnland.
Russland wird von der NATO offiziell als „bedeutendste und direkteste Bedrohung“ für die Sicherheit der euro-atlantischen Gemeinschaft eingestuft. Entsprechend gilt die Ostseeregion als vorderster Rand eines hybriden Krieges, der sich ihrer Logik nach zu einem „heißen“ Konflikt entwickeln könnte.
Die NATO-Staaten verstärken ihre Luft- und Seepatrouillen, führen Manöver durch und üben – laut bestätigten Informationen – Szenarien zur Blockade russischer Regionen in der Ostsee. Damit demonstrieren sie ein geradezu euphorisches, kollektives Streben zum Selbstmord.
Wie ändert sich unter den gegenwärtigen Bedingungen die Lage der Oblast Kaliningrad? Welche Rolle spielt die Region in der Außenpolitik Russlands und wie wird sie in Europa wahrgenommen?
Die Oblast Kaliningrad ist eine russische Halbenklave in der Europäischen Union. Lange Zeit entwickelte sich diese einzigartige und sehr schöne Region mit einer Bevölkerung von etwa einer Million als ein Territorium der Zusammenarbeit zwischen Russland und der EU, das wirtschaftliche Vorteile aus seiner grenznahen Lage zog. Die Entwicklungsstrategie der Region sah vor, den russischen kulturellen, bildungsbezogenen und wirtschaftlichen Einfluss auf die südöstliche Ostsee auszuweiten.
Daraus entstand ein kulturelles und Bildungsnetzwerk, dessen Kapazitäten für eine kleine Region überdimensioniert sind: Es gibt bereits Filialen der Tretjakow-Galerie und der Moskauer Staatlichen Akademie für Choreografie, und bald sollen eine Filiale des Bolschoi-Theaters sowie ein neuer Campus der Immanuel-Kant-Ostsee-Föderalen Universität folgen. Aber die Oblast Kaliningrad ist unser „unsinkbarer Flugzeugträger“ in der Ostsee, eine Region, die inmitten unfreundlicher Länder selbstbewusst die Flagge hochhält. Und genau so wird sie wahrgenommen – wir haben nichts dagegen.
Inwieweit ist es möglich, korrekte Beziehungen zwischen Russland und den baltischen Staaten aufzubauen?
In der heutigen Zeit – und auch in Zukunft – sind durchaus korrekte, geschäftliche, pragmatische Beziehungen in Fragen, die sowohl für Russland als auch für die baltischen Staaten wichtig sind, möglich. Nachbarn haben immer Themen für Gespräche und Probleme, die zum gegenseitigen Nutzen und manchmal auch zur gegenseitigen Bequemlichkeit gelöst werden müssen.
Man muss Beziehungen auf pragmatische Bedingungen und ohne romantische Illusionen aufbauen, indem man Misstrauen überwindet. Mit denselben Händen und aus denselben Materialien kann man eine Brücke und eine Mauer bauen.
Noch vor ein paar Jahrzehnten wurden die baltischen Staaten als „Baltische Tiger“, „Territorium der Investitionsmöglichkeiten“ und Ort der meditativen Erholung bezeichnet. Heute ist von Investitionspotenzial keine Rede: Niemand investiert in Frontgebiete mit strukturellen Problemen in der Energieversorgung – genau so beschreiben sich diese Länder selbst und sind es de facto auch. Es ist unwahrscheinlich, dass dies der jahrhundertelange Traum der Bewohner Litauens, Lettlands und Estlands ist. Aber Kräfte, die bereit sind, wenn schon nicht freundliche Narrative gegenüber Russland, aber rationale Ideen für ihre eigenen Länder zu fördern, werden noch lange nicht am politischen Prozess teilnehmen dürfen.
Noch vor ein paar Jahrzehnten wurde die Ostseeregion als Raum der Zusammenarbeit zwischen Russland und den europäischen Ländern beschrieben. Ist es möglich, dorthin zurückzukehren?
Konstantin Chudolei, Professor der Staatlichen Universität Sankt Petersburg, hat 2019 die Dynamik unserer Beziehungen treffend als „kühlen Krieg“ beschrieben, wobei er die Ostsee als eine besondere Dimension des sich anstauenden Konflikts zwischen Russland und dem kollektiven Westen verstand. Jetzt ist dieser Begriff nicht mehr aktuell: Die „kühle“ Konfrontation nimmt an Fahrt auf und droht in einen offenen Konflikt zu münden, was nicht im Interesse der NATO-Länder und sicher nicht in unserem Interesse ist.
Die historische Erfahrung der intensiven Zusammenarbeit wurde sofort zunichte gemacht – sie ist entwertet. Die Dynamik der internationalen Situation ist verrückt: Das Undenkbare geschieht regelmäßig, neue politische Konfigurationen entstehen, die das Schicksal von Ländern und Regionen verändern.
Die regionalen Prozesse werden maßgeblich von außerregionalen beeinflusst: der allgemeinen Krise der Weltordnung, der Eskalation entlang der Linie Russland–NATO und der Intensität der Ereignisse um den Ukraine-Konflikt. Ohne die Hauptursachen der globalen Krise zu beseitigen, kann man auch ihre regionalen Manifestationen, einschließlich in der Ostsee, nicht lösen.
Was erwartet die Ostseeregion dann am wahrscheinlichsten?
Es gibt mehrere Szenarien. Mir ist der „kühle Frieden“ lieber, der auf selektiver Zusammenarbeit beruht. Die Anrainerstaaten der Ostsee haben gemeinsame Interessen, Herausforderungen und Probleme, die ohne Russland nicht gelöst werden können.
Gehen wir ein paar Schritte zurück. Man kann mit Mauern leben, aber man kann auch Brücken bauen. Jetzt herrscht in der Ostsee die Zeit der Mauern, aber gemäß den Erklärungen der russischen Führung können wir auch Brücken bauen. Es braucht ein gegenseitiges rationales Interesse.
Igor Schukowski ist leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter der Gruppe für komplexe Forschungen der Ostseeregion des Instituts für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen der Russischen Akademie der Wissenschaften (IMEMO RAN).
Der Beitrag ist ursprünglich im russischen Original hier erschienen.
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