Das Usedomer Musikfestival: Tango tanzen an der Frontlinie

Das Usedomer Musikfestival: Tango tanzen an der Frontlinie

Das Usedomer Musikfestival: Tango tanzen an der Frontlinie

Ein Artikel von Rainer Balcerowiak

Es gibt viele Gründe, in dieser Jahreszeit nach Usedom zu fahren. Die Touristenströme auf Deutschlands zweitgrößter Insel lassen allmählich etwas nach, und man kann relativ entspannt entlang der kilometerlangen Standpromenade flanieren, dem Rauschen der Ostsee lauschen und die Formationen zahlreicher Zugvögel anschauen, die sich auf den langen Weg zu ihren Winterquartieren machen. Von Rainer Balcerowiak.

Mitte des 19. Jahrhunderts begann die touristische Entwicklung der zuvor von Fischfang und Landwirtschaft geprägten Insel. Heringsdorf, Ahlbeck und Bansin wurden zu teilweise mondänen „Kaiserbädern“, da auch Kaiser Wilhelm II. und seine Entourage das milde Seeklima sehr schätzten und sich dort des Öfteren aufhielten. Doch nicht nur die Reichen & Schönen zog es zur Sommerfrische auf die mit der Eisenbahn inzwischen gut erreichbare Insel, sondern auch „das einfache Volk”, vor allem aus Berlin. „Vorne Kudamm, hinten Ostsee“, beschrieb Kurt Tucholsky dieses Feeling, und das Bonmot von Usedom als „Badewanne der Berliner“ war weit verbreitet.

Die Baltische See, wie die Ostsee auch genannt wird, war im Verlauf der Jahrhunderte immer wieder Schauplatz massiver Konflikte zwischen den Anrainerstaaten, bis hin zu diversen Kriegen, bei denen auch Länder mitmischten, die mit der Ostsee geografisch gar nichts zu tun hatten, aber großes Interesse am Zugang zu dieser wichtigen Handelsroute hatten. Aber es gab auch immer wieder Ansätze, das Verbindende in diesem Kultur- und Lebensraum zu suchen und zu entwickeln. Auch in den Zeiten des Kalten Krieges gab es zahlreiche Kooperationen in kulturellen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Fragen. Sehr aktiv war dabei die DDR, die 1958 unter der Losung „Die Ostsee muss ein Meer des Friedens sein” eine jährliche Ostseewoche veranstaltete, zu der auch viele Gäste aus allen Anrainerstaaten anreisten. Doch 1975 wurde dieses Event eingestellt.

Ein Festival als „Podium der Ostsee“

Nach 1990 und dem scheinbaren Ende der Blockkonfrontation erlebte die Idee von der Ostsee als gemeinsamer Kultur- und Wirtschaftsraum einen erneuten großen Aufschwung. Ein sichtbarer Ausdruck davon war das 1994 ins Leben gerufene Usedomer Musikfestival, das sich als Podium der Ostsee verstand und im Sinne der Tourismusindustrie auch die Sommersaison etwas verlängern sollte. Über die ganze Insel verteilt, von Peenemünde bis zum seit 1945 polnischen Świnoujście (früher Swinemünde), aber auch im Hinterland der Küste wird seitdem immer im Spätsommer/Frühherbst dieses dreiwöchige Festival veranstaltet – in Konzerthallen, Kirchen, Schulen, Schlössern, alten Kursälen, Gutshöfen oder auch unter freiem Himmel am Strand. In jedem Jahr gibt es ein Schwerpunktland, dessen Komponisten und Interpreten besonders ins Rampenlicht gerückt werden. Alle Anrainerländer wurden seitdem ein- oder mehrere Male präsentiert – auch Russland, zuletzt 2012. Zahlreiche berühmte Künstler traten seitdem auf Usedom auf, darunter Mstislaw Rostropovich, Kurt Masur, Krzysztof Penderecki, Kristja Järvi oder auch die Jazzgrößen Jan Garbarek und der polnische Trompeter Tomasz Stańko.

Seit 2008 gibt es auch ein eigenes Festivalorchester, das „Baltic Sea Philharmonic“, das sowohl auf dem Festival Programme gestaltet, aber auch als Botschafter für die Idee der baltischen Kultur mit Musikern aus allen Anrainerstaaten auf Tournee geht, wie etwa 2022 mit dem großartigen Programm „Nordic Swans“.

Auch die Schirmherrschaft des Festivals war stets prominent besetzt, mit Politikern, Diplomaten oder Künstlern. Zwei Mal übernahm Angela Merkel diese Rolle. Auf ihrer Eröffnungsrede 2018 sprach sie als deutsche Bundeskanzlerin noch von der „Verpflichtung, sich immer wieder für die Friedensordnung und Verständigung stark zu machen”.

Kulturkampf und Kriegsvorbereitung

Doch die geopolitischen Koordinaten rund um das Baltische Meer haben sich in den vergangenen Jahrzehnten deutlich geändert, was zu entsprechenden Verwerfungen führt. Bis 1990 gab es acht Anrainerstaaten, von denen drei zur NATO gehörten (BRD, Dänemark, Norwegen), drei zum Warschauer Pakt (Sowjetunion, Polen, DDR) und zwei militärisch blockfrei waren (Finnland, Schweden). Mittlerweile gibt es zehn Anrainerstaaten (Estland, Lettland und Litauen kamen dazu, die DDR gibt es nicht mehr), von denen alle (bis auf Russland) zur NATO gehören. Doch die Kooperation mit Russland blieb auf vielen Ebenen einigermaßen intakt, zumal die Ostsee zentrale Bedeutung für die Erdgasversorgung Europas hatte, die mit einer weiteren Pipeline namens Nord Stream 2 sogar noch ausgebaut werden sollte. Auch auf das Festival und seinen Anspruch hatten die geopolitischen Entwicklungen zunächst wenig Auswirkungen. Werke russischer Komponisten und russischer Künstler blieben angemessen vertreten.

Das änderte sich 2022 nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine allerdings schlagartig. ‚Sanktionen statt Kooperationen‘ war jetzt die Leitlinie. Und vor allem in den drei baltischen Staaten, aber auch in Polen entbrannte ein erbitterter Kulturkampf gegen „alles Russische“. Sprache, Literatur und Musik aus dem „feindlichen“ Land kamen auf den Index und wurden aus Universitäten, Schulen, Bibliotheken und Spielplänen der Konzertstätten verbannt. Im einst proklamierten „Meer des Friedens“ wurden die Erdgas-Pipelines von einem Terrorkommando gesprengt, es folgten dubiose Zerstörungen von diversen Unterseekabeln, die Jagd auf eine russische „Schattenflotte“ und aktuell Kampagnen zur Aufrüstung und Kriegsvorbereitung wegen angeblicher Luftraumverletzungen durch russische Kampfflugzeuge und Drohnen, deren Einsatz – ohne auch nur den Schatten eines Beweises – Russland zugeschrieben wird.

Die Festivalmacher wollten sich dem Kulturkampf gegen „alles Russische” zunächst nicht anschließen, wie sie in den beiden vergangenen Jahren in Gesprächen betonten. Doch das sei jetzt „abgehakt“ und „kein Thema mehr“, war jüngst zu vernehmen. Und tatsächlich ist die aktuelle Veranstaltungsreihe der Usedomer Musikfestspiele faktisch „russenfrei“.

Schwerpunktland ist diesmal Finnland; durchaus angemessen, denn finnische Musik ist hierzulande – abgesehen von den Werken des Nationalhelden Jean Sibelius – kaum präsent. Zu Unrecht, denn das kulturelle Erbe Finnlands hat noch viel mehr zu bieten als die großen Sinfonien und mit nordischer Mythologie verwobenen Tondichtungen des Übervaters. Das spiegelt sich auch in einer sehr lebendigen, vielfältigen Musikszene wider, bei der man genreübergreifend auch so etwas wie einen „nordischen Sound” finden kann, mit festen Wurzeln in der volksmusikalischen Tradition, die stark von der überwältigenden Natur und den langen, dunklen und kalten Wintern geprägt ist.

Das Festival ist lohnenswert – der Zwiespalt bleibt

Aber kann man dieses Festival und diese Insel angesichts der skizzierten Rahmenbedingungen überhaupt noch einigermaßen unbeschwert besuchen und genießen? Ja, kann man. Klar, wenn man am Himmel die Zugvögel beobachtet, sieht man auch die Kondensstreifen der patrouillierenden NATO-Kampfflugzeuge und rechnet eigentlich auch mit mysteriösen Drohnen. Und beim Blick auf den regen Schiffsverkehr am Horizont denkt man auch unwillkürlich an die „Schattenflotte“ und ihre Überwachung durch die NATO. Doch der kilometerlange Strand, die davor verlaufende Promenade und die historischen Seebrücken der Kaiserbäder sind – abgesehen von einigen monströsen Bausünden vor allem in Heringsdorf – immer noch wunderschön. Und das sorgfältig kuratierte Festival bietet dem Musikinteressierten – wie eigentlich immer – viele spannende Einblicke in die Kultur des jeweiligen Schwerpunktlandes.

Da wäre z.B. der finnische Tango, der seit über 100 Jahren eine ganz eigene Entwicklung genommen hat und in der Alltagskultur omnipräsent ist: auf Dorf- und Gasthausfesten oder im Sommer auch unter freiem Himmel sowie mit einem jährlichen Tango-Festival in Seinäjoki mit über 100.000 Besuchern.

Finnischer Tango ist eher gemächlich und weniger ekstatisch als die argentinische Variante, bewegt sich zwischen Melancholie und Lebensfreude. Auf dem Festival wurde das von „Tango Finlandés“ dargeboten. Herz der Gruppe sind zwei Exil-Finnen, die hauptberuflich in großen Berliner Orchestern tätig sind: Esko Laine als Kontrabassist bei den Philharmonikern und Tanali Turunen als Cellist beim Konzerthausorchester. Der übernimmt bei Tango Finlandés die Rolle des Sängers und Moderators, der mit launig-selbstironischen Moderationen, seiner sonoren Baritonstimme und minimalistischer Gestik durch die finnische Tango-Welt führt. Bei dem Konzert (es fand in einer Kirche statt) wurde auch nicht getanzt, sondern entspannt zugehört. Nicht aus Finnland stammt Valentin Butt, der ebenfalls in Berlin als sehr gefragter Musiker für Opern- und Theaterproduktionen unterwegs ist. Er übernimmt in der fünfköpfigen Formation die Rolle des musikalischen Derwischs, der sein Knopfakkordeon mit atemberaubender Virtuosität bedient und wahre solistische Feuerwerke abbrennt. Und anschließend verlassen einige Hundert Zuhörer mit entspanntem Lächeln die Zinnowitzer Kirche – was will man mehr.

Auch barocke Instrumentalmusik wird eigentlich eher nicht in Finnland verortet, eine eigenständige finnische Ausprägung dieser Stilepoche gab es nicht. Doch das 1989 gegründete Finnish Baroque Orchestra präsentierte im Kulturhaus von Świnoujście in der Besetzung eines kleinen Streichorchesters auf historischen Instrumenten ein hoch spannendes Programm aus selten gespielten Frühbarock-Perlen des Ostseeraums und daran anknüpfenden, aber weltmusikalisch ausschweifenden „Meditationen“ des Komponisten Ikka Heinonen, die dieser als Solist auf der archaischen, karelisch-baltischen Streichleier (Jouhikko) darbot. Auch hier wieder der spezifische nordische Sound, auf besondere Art klar und gradlinig – ein ebenso genussvoller Abend mit Erkenntnisgewinn.

Natürlich kann man sich an all dem erfreuen und die ganze Faszination des Kulturraums Ostsee bei diesem Festival immer wieder in sich aufnehmen. Doch der Zwiespalt bleibt. Wenn man die Insel dann wieder verlässt, passiert man Wolgast, und dort herrscht ein ganz anderer Spirit. Dort übernimmt Rheinmetall im Zuge seines Einstiegs in die maritime Aufrüstung jetzt auch die traditionsreiche Peene-Werft. Wenn die Arbeitsplätze und die Tarifbindung erhalten bleiben, finden wir das richtig gut, sagt die IG Metall. Und nicht nur dabei spürt man, dass das mit dem „Meer des Friedens“ bald so richtig gründlich vorbei sein könnte.

Das Usedomer Musikfestival läuft noch bis zum 11.Oktober.

Titelbild: © Geert Maciejewski