Märchen mit Merz: Von einem, der auszog, die Menschen für dumm zu verkaufen

Märchen mit Merz: Von einem, der auszog, die Menschen für dumm zu verkaufen

Märchen mit Merz: Von einem, der auszog, die Menschen für dumm zu verkaufen

Ein Artikel von Ralf Wurzbacher

Der Sozialstaat ist zu teuer, behauptet der Bundeskanzler, und beklagt „überbordende“ Kosten. Alles Quatsch! Die Zahlen geben das nicht her. In der Gesamtsicht sind die Ausgaben konstant, in einzelnen Bereichen sogar rückläufig. Höchste Zeit, dass die Demagogen Kontra kriegen. Von Ralf Wurzbacher.

In „Die Anstalt“ im ZDF vom 7. Oktober spielt Claus von Wagner ein CDU-Neumitglied, das die Partei von innen umkrempeln will. Zielrichtung: mehr Klimaschutz, mehr soziale Gerechtigkeit. Im Wortgefecht mit Friedrich Merz (Max Uthoff) haut er dem Bundeskanzler ein paar grafisch unterlegte Zahlen um die Ohren, zum Beispiel „100 Milliarden Euro“, die dem deutschen Staat alljährlich durch Steuerhinterziehung entgehen. Prompt will Merz mit „gigantischem Bürgergeldbetrug“ dagegenhalten. Aber auf dem Bildschirm regt sich kaum etwas, der „Schaden“ ist mit 100 Millionen Euro praktisch unsichtbar. Der CDU-Chef guckt dumm aus der Wäsche und mosert: „Der Balken ist kaputt.“ Man könnte auch sagen: sein Sinn für die Wahrheit.

Im echten Leben lässt sich Merz für gewöhnlich nicht vorführen. Da markiert er den Bescheidwisser und verkauft die Menschen für dumm. Aber so oft er sein Mantra von „überbordenden Sozialausgaben“ und einem System, „das wir uns nicht mehr leisten können“, beschwört – richtig wird es dadurch nicht. Doof nur, dass die Kampagne trotzdem wirkt, solange sie unwidersprochen bleibt und die üblichen „Verstärker“ ihren Senf dazugeben. So wie Anfang Oktober das Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Nach dessen Berechnungen haben sich die Sozialausgaben „in den vergangenen drei Jahrzehnten verdoppelt“. Entfielen demnach 1992 auf jeden Bürger inflationsbereinigt noch „1.464 Euro für Soziales“, seien es im Vorjahr „2.665 Euro“ gewesen.

Forschen im luftleeren Raum

Das mag zwar stimmen, lässt jedoch zwei wichtige Dinge außer Acht. Erstens bedeuten zum Beispiel höhere Beiträge in die Sozialversicherung auch bessere Leistungen, etwa bessere Pflege im Alter. Das heißt, von dem Mehr an Geld haben die Bürger auch mehr. Während das IW so tut, als ginge es nur um Belastungen, sind die Zusatzkosten auch für etwas gut. Wobei dies mit Blick auf viele sogenannte Sozialreformen (Hartz IV, Rente, Kliniken) immer öfter nicht der Fall ist, weil deren Ziel nicht die Verbesserung der allgemeinen Lebensverhältnisse, sondern nur die weitere Bereicherung einiger Weniger durch Umverteilung von unten nach oben ist. Insofern fördert das IW in der Tat einen Skandal zutage, nämlich den, dass die Mehrheitsbevölkerung immer weniger von ihren Sozialausgaben profitiert. Das ist aber nicht das Thema der sogenannten Forscher, sondern nur: der Sozialstaat ist „unbezahlbar“.

Was sie dabei zweitens und vor allem unterschlagen, ist die unerlässliche Einordnung in den gesamtwirtschaftlichen Kontext. Denn natürlich hat auch das Bruttosozialprodukt (BIP) in den zurückliegenden drei Dekaden kräftig zugelegt, preisbereinigt in der Gesamtsicht um rund 45 Prozent, pro Kopf um 38 Prozent. Das ist zwar keine „Verdopplung“, so wenig wie bei den IW-Zahlen zu den Sozialausgaben, die tatsächlich nur eine Erhöhung um 82 Prozent zeigen. Von deren „Dramatik“ bleibt jedenfalls nicht mehr viel übrig angesichts des insgesamt wie auch individuell gestiegenen Wohlstands. Und der schlägt sich eben auch, zumindest in Teilen, in besseren Versorgungsstrukturen nieder, die mehr Geld kosten.

Drei Jahre Rezession

Es gibt allerhand mehr Belege, dass die Rede vom „ausufernden Sozialstaat“ eine grobe Täuschung ist. Zwecks Aufklärung hat am Mittwoch das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung eine Studie vorgelegt. Demnach sind die Sozialausgaben gemessen an der Wirtschaftsleistung weitgehend „unverändert beziehungsweise niedriger als vor 15 oder vor 20 Jahren“. Die Autoren Sebastian Dullien und Katja Rietzler bringen es auf den Punkt: Die Kosten seien „nicht auffällig groß, nicht auffällig gestiegen und Probleme gibt es allenfalls in einzelnen engen Bereichen“.

Ausgewertet wurden Daten des Bundesarbeitsministeriums aus dem Jahr 2024. Diese weisen fürs Vorjahr zwar einen geringen Anstieg der Sozialstaatsquote gegenüber 2023 aus, von 30 Prozent auf 31 Prozent. Der Wert liege aber „noch immer spürbar unter den Ständen von 2020 und 2021“ mit 33,6 Prozent und 32,5 Prozent. In der Rückschau legten die Ausgaben preisbereinigt von 2009 bis 2019 „ziemlich genau“ mit dem BIP-Trend zu, und hätte der sich fortgesetzt, wären sie inzwischen in Relation sogar rückläufig, wie die Forscher konstatieren. Dass es anders kam, hat mit einer seit Beginn des Ukraine-Kriegs abrupt abgewürgten Konjunktur und einer inzwischen drei Jahre anhaltenden Rezession zu tun. Unter diesen Bedingungen erscheint selbst ein konstantes Sozialbudget relativ zum BIP als expansiv.

Desaströse Energiepolitik

Darauf kochen der Bundeskanzler und Seinesgleichen ihr Süppchen, von wegen: das Soziale nimmt überhand. Dabei ist es seine Politik und die der Vorgängerregierung, die die Misere im Wesentlichen herbeigeführt haben. Vor allem die überstürzte Abkehr von günstiger russischer Energie hat die deutsche Industrie in eine existenzielle Krise gestürzt. Täglich schlittern mehr Unternehmen in die Pleite, Zehntausende Jobs gingen bereits verloren, viele weitere werden folgen und die Erwerbslosigkeit wird lange Zeit unbekannte Höhen erreichen.

Das hat wahrhaftig Potenzial für einen sich verteuernden Sozialstaat, weil die Zahl der Empfänger von Arbeitslosengeld I beträchtlich anziehen wird. Dagegen sind die Schäden durch kriminelle Bürgergeld-Abzocker oder „Totalverweigerer“ zu vernachlässigen. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hat nachgezählt, wie vielen Menschen zwischen April 2024 und Juni 2025 die Leistungen komplett gestrichen wurden. Die Zahl bewegt sich in einem „niedrigen zweistelligen Bereich“. Das wären höchstens 50 und im Verhältnis zu den Hunderten Milliarden Euro, die die Bundesregierung in Deutschlands Hochrüstung stecken will, ein eher nichtiges Übel. Wer jedoch in so irrsinnigen Dimensionen Geld verpulvert, muss es irgendwo anders reinholen oder wenigstens so tun als ob. Dafür braucht es Sündenböcke, auch um von der eigenen Verantwortung für die wirtschaftliche Misere abzulenken.

Analyse statt Alarmismus

Zu verbaler Abrüstung rät hingegen IMK-Direktor Dullien: „Wir brauchen mehr realistische Analyse, weniger Alarmismus“, befand er in einer Medienmitteilung. Die Debatte kranke an einem Fokus auf „Schein- oder sekundäre Probleme“. Das IMK hatte schon im Februar nachgewiesen, dass Deutschland bei den staatlichen Ausgaben fürs Soziale mit 26,7 Prozent am BIP im internationalen Vergleich keinesfalls heraussticht und damit in Europa hinter Frankreich, Italien, Österreich, Belgien, Finnland und Spanien rangiert.

Noch viel weiter hinten liegt die BRD beim Ausgabenwachstum. Zwischen 2002 und 2022 betrug dieses lediglich 26 Prozent. Nur Griechenland mit 17 Prozent und die Niederlande mit neun Prozent waren knausriger. Vorne stehen Neuseeland (136 Prozent), Island (131 Prozent) und Irland (130 Prozent). Selbst die für ihre soziale Kälte berüchtigten USA steigerten die Ausgaben um 83 Prozent, und das sogar in einem kürzeren Zeitraum von 2002 bis 2019. Auch mit Blick auf die Bundesausgaben für Soziales (ohne die Beiträge der Versicherten) bewegt sich alles im Bereich des Normalen. Laut Statistischem Bundesamt entsprachen die Aufwendungen 2024 einem Anteil von 5,53 Prozent am BIP, im Vergleich zu 5,64 Prozent im Jahr 2015.

Zwei Nullrunden beim Bürgergeld

Für Aufsehen hatte zuletzt die Zunahme der Kosten fürs Bürgergeld gesorgt. Die beliefen sich 2024 auf 47 Milliarden Euro statt davor 43 Milliarden Euro. Grund dafür waren vor allem die inflationsbedingte Erhöhung der Regelsätze nach der allgemeinen Preisexplosion im Gefolge des Ukraine-Krieges. Ohne diesen Zuschlag über das übliche Maß hinaus hätte das Land eine gewaltige Welle an Armut und Elend erfasst. Dennoch hielt die Anpassung nicht mit der realen Teuerung mit, womit die Betroffenen seither noch schlechter dastehen als davor. „Zum Dank“ gibt es für sie im laufenden und nächsten Jahr zwei Nullrunden. Damit bluten letztlich auch sie für die ökonomisch verheerende Russland-Politik.

In der Gesamtschau taugt aber auch der kurzzeitige Kostenschub beim Bürgergeld nicht zum Aufreger. Während die Hartz-IV-Leistungen 2010 noch 1,8 Prozent des BIP ausmachten, lag der Anteil zuletzt bei 1,4 Prozent. Bezogen auf den Bundeshaushalt lagen die Kosten dafür im Jahr 2017 bei anteilig 8,5 Prozent. Dasselbe Ergebnis wird für 2025 erwartet.

Mittelmäßige Gesundheit

Aufschlussreich ist eine detaillierte Betrachtung, wie sie das IMK vorgenommen hat. So sind in der Rentenversicherung die Ausgaben samt Bundeszuschüssen relativ zum BIP in den zurückliegenden 20 Jahren gesunken, von 10,4 auf 9,4 Prozent. Faktisch wurde mithilfe der Propaganda von der „demographischen Katastrophe“ das Leistungsniveau in der Breite abgesenkt, während die Neoliberalen das System unentwegt als „Fass ohne Boden“ verteufeln. Zurückgegangen sind ebenso die Kosten der Erwerbslosenversicherung, von 2,3 auf 0,9 Prozent des BIP, wobei sich dies auch mit Verschiebungen durch die Hartz-Reformen erklärt. Nimmt man alle Ausgaben zusammen, ist das Niveau „seit 2004 unverändert geblieben“, stellten die Forscher fest. Bürgergeld, Eingliederungshilfen und Sozialhilfe kosteten 2024 mit 2,7 Prozent im BIP-Vergleich sogar weniger als im Jahr 2010 mit 2,8 Prozent.

Gestiegene Kosten zeigen sich hingegen bei der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Pflegeversicherung. Allerdings geht dies laut IMK auf „sehr sinnvolle politische Entscheidungen“ zurück, etwa den Ausbau der Kinderbetreuung oder präventionsorientierte Leistungen bei Demenzerkrankungen. Hier also heiligt der Zweck die Mittel – mehr Geld bringt auch zusätzlichen Nutzen. Für das Gesundheitswesen gilt dies bestenfalls mit Abstrichen, was die Wissenschaftler als „problematisch“ erachten. 2004 hätten die gesetzlichen Krankenkassen noch sechs Prozent des BIP ausgegeben, 2024 dann schon 7,5 Prozent, und dies „bei mittelmäßiger Gesundheit der Bevölkerung“. Ein Faktor seien dabei die Ausgaben für Medikamente, die pro Kopf anderthalbmal so hoch ausfallen wie im europäischen Mittel.

Lügen für BlackRock

Das deutsche Gesundheitssystem ist bekanntlich hochgradig kommerzialisiert. Große Teile der Ausgaben wandern als Profit in die Kassen von Krankenhaus- und Pharmakonzernen. Hier ließen sich tatsächlich besten Gewissens zum Vorteil von Versicherten und Patienten gewaltige Summen einsparen. Daran denkt der Kanzler aber gerade nicht, geschweige denn an „Totalsanktion“ für die Chefs von Bayer, Merck oder BlackRock. Der weltweit führende Vermögensverwalter hält Anteile an der Klinikkette Fresenius und war einmal Merz‘ Brötchengeber. Dafür erzählt er die Mär vom aufgeblähten Sozialstaat nur zu gern. Dumm nur, wenn keiner mehr darauf reinfällt.

Titelbild: Ryan Nash Photography / Shutterstock

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