Kürzlich fanden in der kleinen postsowjetischen Republik Moldau (landläufig als Moldawien bekannt) Parlamentswahlen statt. Wie auch bereits ein Jahr zuvor bei den Präsidentenwahlen zeigte sich ein Muster: Das ungewöhnlich hohe politische und massenmediale Interesse an diesem kleinen, rund 2,5 Millionen Menschen umfassenden Staat an der Schnittlinie Ost-Südosteuropa. In beiden Wahlen wurde von Schicksalswahlen für das Land gesprochen und geschrieben. Und wie so oft in den letzten beiden Dekaden ging es zumindest bei uns natürlich um einen grundlegenden Orientierungskampf zwischen der bei uns mittlerweile zwangsläufigen Polarisierungssprache von Gut und Böse. Darunter geht es nicht mehr. Von Alexander Neu.
Wer die Guten und wer die Bösen sind, muss nicht weiter erörtert werden. Irgendwie hat sich das infantile Vokabular des damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan, als er von der Sowjetunion als „Reich des Bösen“ sprach, bis heute in der Polit- und Mediensprache bei uns festgesetzt – klare Feindbilder erleichtern das Leben. Jedenfalls stellt die nordwestliche Schwarzmeerregion mit den Anrainerstaaten Ukraine und Rumänien, aber genau genommen auch Moldau ein weiteres Pulverfass im Welt(un)ordnungskrieg zwischen dem Westen und Russland dar. Warum?
Moldaus Geographie
Die kleine Republik Moldau liegt an der Schnittkante zwischen Ost- und Südosteuropa, im Wesentlichen zwischen den Flüssen Pruth und Dnister. Die geographische Verortung deckt sich weitgehend mit der historischen Region Bessarabien. Eingekeilt zwischen Rumänien im Westen und der Ukraine im Norden, Osten und Süden, ist sie ein Binnenstaat, dessen maritimer Zugang durch die internen Grenzziehungen der Sowjetunion faktisch zu Gunsten der Ukraine verhindert wurde. Der maritime Zugang liegt nur wenige Kilometer von der moldauischen Grenze entfernt. Die Entfernung zur strategisch wichtigen Hafenstadt Odessa in der Ukraine beträgt 60 Kilometer. Die Staatsfläche umfasst nahezu 34.000 Quadratkilometer.
Moldaus Geschichte
Die Region der heutigen Republik Moldau wechselte in der Geschichte mehrfach ihre Staatszugehörigkeit, allein im 20. Jahrhundert zwischen dem Russischen Zarenreich, Rumänien und letztlich zur Sowjetunion (Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt sowie als Ergebnis des Zweiten Weltkrieges). In der Sowjetunion hatte Moldau einen eigenständigen Republikstatus, die Moldauische SSR. Mit der Auflösung der Sowjetunion 1991 erlangte die Moldauische SSR ihre völkerrechtliche Unabhängigkeit. Damit brachen sich, wie auch in anderen Regionen des postsowjetischen Raums, die interethnischen Spannungen Bahn, da die in der Sowjetunion internen administrativen Republiksgrenzen, die für die Bevölkerung keine praktischen Alltagskonsequenzen hatten, nun zu internationalen Grenzen wurden. Die multiethnische Struktur Moldaus wurde praktisch über Nacht zum Sprengsatz für den jungen Staat, da die russische, die ukrainische sowie die gagausische Ethnie sich nicht mit dem neuen, von Rumänisch sprechenden Moldauern dominierten Staat identifizieren wollten. Die Bevölkerungsstruktur setzt sich im Wesentlichen aus Rumänisch sprechenden Menschen (sich teilweise als ethnische Rumänen bezeichnend), Ukrainern, Russen und Gagausen, die über 90 Prozent der Gesamtbevölkerung darstellen, zusammen. Die Titularnation, die Rumänisch sprechenden Moldauer, stellt rund 70 Prozent der Bevölkerung.
Gagausien
Die interethnischen Spannungen betrafen und betreffen vor allem zwei Regionen: Transnistrien und Gagausien. Die Region Gagausien rief bereits 1990 – noch zu Sowjetzeiten – die Unabhängigkeit von der Moldauischen SSR aus, bei gleichzeitigem Verbleib in der Sowjetunion. Die Gagausische Volksgruppe gehört zur Familie der Turkvölker, ist jedoch sehr stark an Russland orientiert. 1994 wurde die Region Gagausien mit einem Autonomiestatus innerhalb Moldaus wieder in die Republik Moldau reintegriert. Der Konflikt ist angesichts der geopolitischen Spannungen in Osteuropa jedoch nicht dauerhaft gelöst. Parallel zu den Entwicklungen in Kiew im Februar 2014 hielt Gagausien ein Referendum ab, das deutlich auf eine Ausrichtung nach Russland zielte. Über 90 Prozent der Stimmen votierten für den Beitritt zur Zollunion mit Russland. Rund 70 Prozent unterstützten eine völkerrechtliche Unabhängigkeit Gagausiens, sollte die Republik Moldau sich staatlich mit Rumänien vereinen. Die Spannungen zwischen der moldauischen Zentralregierung und Gagausien nehmen angesichts der 2024 stattgefundenen Präsidentenwahl und der jüngst stattgefundenen Parlamentswahl weiter zu (dazu weiter unten). Jedenfalls wurde die 2023 gewählte Gouverneurin der autonomen Region Gagausien, Evghenia Gutul, deren reguläre Amtszeit bis 2027 gewesen wäre, im März 2025 per Gerichtsbeschluss vorzeitig vom Amt abgesetzt und im August 2025 zu sieben Jahren Haft verurteilt. Ihr werden finanzielle Machenschaften zur Förderung der 2023 verbotenen, angeblich „prorussischen Partei“ Sor, der sie angehörte, zur Last gelegt. Das Regionalparlament Gagausiens hat das Urteil zu ihrer Absetzung nicht akzeptiert und betrachtet Gutul weiterhin als rechtmäßige Gouverneurin.
Zugleich wurden seitens der EU und der USA, faktisch wegen ihrer prorussischen Haltung und Handlungen, Sanktionen gegen Evghenia Gutul verhängt. Also: Das westliche Ausland verhängt in einem innermoldauischen Konflikt über die außenpolitische Prioritätensetzung (Stichwort: innere Angelegenheiten) Sanktionen gegen einen gewählten politischen Akteur, der eine andere als eine westliche Ausrichtung vertritt. Ob man dies als westliche Einmischung bezeichnen kann, mögen die Leser für sich entscheiden.
Transnistrien
Die interethnischen Spannungen zwischen der Titularnation, den Rumänisch sprechenden Moldauern, und überwiegend in der östlich des Flusses Dnister liegenden Region Transnistrien lebenden Russen und Ukrainern führten zu einer ersten Unabhängigkeitserklärung von der Moldauischen SSR, aber einem Verbleib in der Sowjetunion 1990 als „Pridnestrowische Moldauische Sozialistische Sowjetrepublik“. Damit beanspruchte Transnistrien nicht den Status eines Völkerrechtssubjekts, sondern den Verbleib in der Sowjetunion als eigene Sowjetrepublik. Mit der sich abzeichnenden Auflösung der Sowjetunion erklärte Transnistrien 1991 erneut seine Unabhängigkeit – dieses Mal jedoch mit dem Ziel, ein Völkerrechtssubjekt zu werden. Dies führte 1992 zu einem monatelangen Krieg mit der dann unabhängigen Republik Moldau, die die Sezession Transnistriens nicht akzeptieren wollte. Erst mit dem Eingreifen der dort noch stationierten 14. Armee der Russischen Föderation konnte ein bis heute währender Waffenstillstand (eingefrorener Konflikt) geschaffen werden. Derzeit sind etwa bis zu 3.000 Soldaten der russischen Armee in Transnistrien zur Absicherung der De-facto-Staatlichkeit stationiert. Jedoch ist Transnistrien bis heute von keinem UNO-Mitgliedsstaat – auch nicht von seiner Schutzmacht, der Russischen Föderation – diplomatisch anerkannt worden.
2006 organisierte die Regierung in Transnistrien ein Referendum zur Frage des Anschlusses der abtrünnigen Region an die Russische Föderation. Rund 97 Prozent der abgegeben Stimmen votierten für den Beitritt zu Russland. Bis heute hat Russland – im Gegensatz zum Referendum auf der Krim – diesem Begehren nicht stattgegeben. Ausschlaggebend dürften zwei Gründe sein:
Erstens hat Russland auch die von Georgien abtrünnigen Gebiete (Südossetien und Abchasien) erst nach dem Angriff Georgiens auf Südossetien 2008 diplomatisch anerkannt. Die Russische Föderation vermied es also, den völkerrechtlichen Status quo bis zum militärischen Abenteuer des damaligen georgischen Präsidenten Saakaschwili in Frage zu stellen. Erst als auf dem in Bukarest tagenden NATO-Gipfel 2008 Georgien eine Perspektive auf eine NATO-Mitgliedschaft versprochen wurde und Saakaschwili diese Perspektive als Aufforderung (miss)verstanden hatte, mit den abtrünnigen Regionen in Georgien militärisch aufzuräumen, griff die Russische Föderation militärisch ein.
Zweitens besteht keine direkte Landverbindung zwischen Transnistrien und Russland. Selbst über das Schwarze Meer besteht keine Verbindung, da, wie oben ausgeführt, Moldau und somit auch Transnistrien keinen Meereszugang besitzt. Hinzu kommt, dass die Region Transnistrien sich in einem dünnen Landstreifen befindet, nur getrennt durch den Fluss Dnister, und sich entlang der moldauischen und ukrainischen Grenze zieht. Die Region erstreckt sich in der Länge auf etwa 200 Kilometer und in der Breite zwischen zwei bis 30 Kilometer. Rein militärisch betrachtet ist im Konfliktfall eine effektive militärische Logistik der russischen Streitkräfte für die Region sehr herausfordernd. Von einer erfolgreichen Verteidigung ganz zu schweigen, sollte sich Moldau ggf. mit Unterstützung der Ukraine und einiger NATO-Staaten zur gewaltsamen Wiedereingliederung (Model Aserbaidschan – Berg-Karabach) entscheiden. Die Frage der Loyalität der ukrainischen Ethnie in der transnistrischen Bevölkerung ist so komplex, wie die Wirklichkeit eben ist: Die Loyalitäten schwanken zwischen prorussisch bis proukrainisch. Diese Widersprüche führen indessen nicht zu erkennbaren Konflikten innerhalb der transnistrischen Bevölkerung.
Republik Modau – Streitobjekt zwischen Russland und dem Westen
Die Republik Moldau ist zwar ein Völkerrechtssubjekt, allerdings unter der realistischen machtpolitischen Perspektive eher ein Objekt als ein Subjekt der internationalen Politik. Nicht allein ihre sensible geographische Lage macht es zum Objekt westlicher sowie russischer Einflusssphäreninteressen, sondern auch seine ethnische Zusammensetzung und die damit einhergehenden divergierenden Interessen schwächen die souveräne Gestaltungskraft Moldaus. Mit anderen Worten: Ähnlichkeiten mit der Ukraine, ihrer Orientierung sowie ethnischen Zerrissenheit sind nicht zu übersehen. Die EU hat mit dem Projekt der „Östlichen Partnerschaften“ 2009 konkrete Schritte hin zu einer Integration Moldaus in die westliche Einflusssphäre getätigt. 2014 schloss die EU mit der Republik Moldau ein Assoziierungsabkommen, welches das Land noch im selben Jahr ratifizierte. Wenige Wochen nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine stellte die moldauische Regierung ein Beitrittsgesuch. Im Juni 2022 schließlich wurde Moldau der Status des Beitrittskandidaten verliehen, und im Oktober 2024 wurde ein Referendum zur Frage, ob die Bürger eine „Verfassungsänderung zur Verankerung des EU-Beitritts in der Verfassung Moldaus“ befürworten, durchgeführt. Das Ergebnis war äußerst knapp zu Gunsten der Verfassungsänderung (Ja-Stimmen 50,35 Prozent und Nein-Stimmen 49,65 Prozent – also 0,7 Prozent Differenz).
Angesichts dieses knappen Ergebnisses wird die entscheidende Rolle der moldauischen Diaspora deutlich. Sowohl in der EU als auch in Russland leben moldauische Staatsbürger. In der EU geht man von 1 bis 1,3 Millionen und in Russland von etwa 500.000 Moldauern aus. Insbesondere die in der EU lebenden Moldauer werden als prowestlich, die in Russland lebenden Moldauer als prorussisch eingeschätzt. Und da die derzeitigen politischen Entscheider in Moldawien prowestlich orientiert sind, deren führendes Gesicht die Präsidentin Maia Sandu ist, scheinen zweifelhafte Methoden des Machterhalts Anwendung zu finden. Es scheint so, dass die prowestlichen Entscheidungs- und Funktionseliten zunehmend autoritäre Maßnahmen ergreifen (müssen), um einen Richtungswechsel hin zu Moskau zu verhindern – auch wenn ein beträchtlicher Teil oder sogar die Mehrheit der in Moldau lebenden Moldauer diesen Richtungswechsel wollen würde oder sogar will. Zumindest ist dies rein rechnerisch sehr naheliegend, denn wenn nur 0,7 Prozent die Mehrheit bei dem Referendumsergebnis ausmachen und sich die prowestliche Führungselite für den knappen Sieg auf die in der EU lebenden Auslandsmoldauer verlassen musste, dann dürfte der Zuspruch zu dem prowestlichen Kurs selbst bei den (ethnischen) Inlandsmoldauern sehr überschaubar gewesen sein.
Wie anders als Furcht vor der Manifestation des empirischen Volkswillens der Moldauer Wähler sind entsprechende drastische, der Demokratie unwürdige Maßnahmen im Kontext der Wahlen im Jahr 2024 und 2025 zu erklären? Sowohl bei den Präsidentschaftswahlen 2024 als auch kürzlich bei den Parlamentswahlen wurde der Opposition das Leben schwer gemacht. Parteien wurden und werden aufgrund angeblich fehlerhafter Berichtspflichten oder Registrierungsversäumnisse von der Wahlteilnahme ausgeschlossen. Ferner wurde eine geradezu infantile Hysterie aufgebaut: Russland mische sich in die inneren Angelegenheiten Moldaus ein, was sogar stimmen könnte. Aber ebenso tut dies die EU, die nicht nur in Rumänien den Wählern gezeigt hat, wer die dortigen politischen Entscheidungsträger auswählt, nämlich nicht unbedingt die Rumänen. Und diese Methode der „betreuten Wahlen“ seitens der EU scheint auch in Moldau und bei der Diaspora erfolgreich praktiziert zu werden. Wenn derartige Maßnahmen „erforderlich“ sind, um die EU zusammenzuhalten bzw. zu erweitern, so sagt dies erstens etwas über die nachlassende Attraktivität der EU-Integration und zweitens etwas über das Selbstverständnis sowie das Demokratieverständnis der EU aus.
An diesem Verhalten der EU wird offenkundig, dass in einer weltpolitischen Phase des fundamentalen Umbruchs eben nicht mehr mit liberalen Wattebällchen geworfen, sondern in Anbetracht des Einsatzes geklotzt wird. Demokratie hin, Demokratie her – da kann schon mal nachgeholfen werden, da es schließlich um die gute Sache geht, so der entstehende Eindruck. Das Interview mit der Wahlbeobachterin in Moldau Ruth Firmenich (MdEP) indiziert recht gut, wie mit unzureichenden Wahllokalen und unzureichenden Wahlzetteln die in Russland lebenden Moldauer in ihrem Wahlrecht eingeschränkt wurden, während die Wahllokale für in der EU lebenden Moldauer in ausreichendem Maße vorhanden waren, um das gewünschte Ergebnis zu befördern.
Natürlich hat Russland Interesse daran, dass die Republik Moldau nicht gänzlich in den westlichen Orbit abgleitet – nicht nur, aber auch aus historischen Gründen (Teil des Zarenreichs und später der Sowjetunion). Und auch aus sicherheitspolitischen Motiven heraus: Sollte es Russland gelingen, Odessa und die weitere Region bis an die Grenzen Moldaus und Rumäniens einzunehmen, so wäre eine militärische Sicherung Transnistriens wesentlich effektiver gewährleistet als gegenwärtig. Auch könnte auf diese Weise Transnistrien als russisches Faustpfand dienen: Sollte Moldau EU-Mitglied, vor allem auch NATO-Mitglied werden, also sich geopolitisch dem Westen zu ordnen, so könnte Transnistrien vollständig von Moldau abgespalten und in die Russische Föderation integriert werden, so das Drohpotenzial. Die regionalen ethnischen Mehrheitsverhältnisse wären die Ausgangsbasis.
Fazit
Wenn ein multiethnisches staatliches Konstrukt durch rivalisierende Großmächte alternativlos vor die Wahl gestellt wird, entweder der EU/NATO beizutreten oder mit Russland privilegierte Beziehungen zu pflegen, und somit eine dritte Option, nämlich die Neutralität, ausgeschlossen wird; wenn zur Erreichung des Zweckes eine prowestliche Führungselite von außen massiv unterstützt, ja vielleicht sogar installiert wird, die große Teile der Bevölkerung in dieser Richtungsentscheidung nicht repräsentiert, dann ist das die denkbar beste Rezeptur für eine Neuauflage des Modells Ukraine, dann wäre Moldau eine Ukraine 2.0.
Und die Opfer? Das Leben von Zivilisten spielt bei geopolitischen Sandkastenspielchen keine Rolle – warum auch? Es geht doch um das große Ganze.
Titelbild: Neuiiza / Shutterstock
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