Anmerkungen zum Bildungsbericht 2008 im Auftrag der KMK und des BMBF

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Wer sich für Bildung interessiert, sollte den von einer Autorengruppe aus 4 Bildungsforschungsinstituten, den statistischen Ämtern und weiteren mit dem Thema befassten Einrichtungen erstellten „Bildungsbericht 2008“ im Auftrag der Kultusministerkonferenz und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unbedingt studieren.

Die 214 Seiten Text und 125 Seiten Tabellenanhang bieten eine unerschöpfliche Quelle von Zahlen, Daten und Fakten zum Thema Bildung von der Vorschulerziehung bis zur Weiterbildung im Beruf. Man sollte allerdings nicht erwarten, dass mit den Auftraggebern allzu kritisch umgegangen wurde. Der „Bericht“ liefert Bestandsaufnahmen und Beschreibungen und warnt allenfalls vor problematischen Entwicklungen. Dennoch kann man sich aus der Lektüre des Berichts ein weitgehend realistisches Bild über den Zustand der Bildung im Lande machen.
Das Zeugnis lautet: Ungenügend.

Der Bildungsbericht führt ein Schattendasein
Gemessen an der öffentlichen Wahrnehmung etwa der Wirtschafts- oder Konjunkturgutachten oder der monatlichen Berichte zum Arbeitsmarkt nimmt der zweite nationale Bildungsbericht ein Schattendasein ein. Dabei müssten gerade die „Reformer“, die ständig die demografische Entwicklung im Munde führen, sich mit diesem Bericht in besonderer Weise beschäftigen. Sie könnten dort nämlich erfahren, was außer Sozialabbau gegen die veränderte Altersstruktur getan werden müsste:

Es müsste etwa durch geeignete Ausbildungs- und Qualifikationsangebote gelingen, zusätzlich Menschen aller Arbeitsgruppen für den Arbeitsmarkt zu gewinnen, die bisher nicht in ihn integriert sind. Denn alle Anzeichen deuten darauf hin, dass die weitere Bevölkerungsentwicklung – bei gleich bleibendem Bildungsverhalten und ohne zusätzliche Maßnahmen – zu einer relativen Verknappung des Nachwuchses an Arbeitskräften führen dürfte. Die für den Elementar-, Primar- und Sekundarbereich relevante Bevölkerungsgruppe der unter 19-Jährigen wird nämlich in den nächsten zehn Jahren voraussichtlich um etwa ein Siebtel zurückgehen. Eine höhere Bildungsbeteiligung aller gesellschaftlichen Gruppen ist eine Voraussetzung dafür, dass ein ausreichender Nachwuchs an qualifizierten Fachkräften ausgebildet wird.

Würden diejenigen, die mit dem Hinweis auf die Globalisierung ständig nur niedrigere Löhne, niedrigere Sozialleistungen und niedere Unternehmenssteuern fordern, die technologische Entwicklung wirklich ernst nehmen, dann müssten sie erkennen, dass neu entstehende Arbeitsplätze in der Regel höhere Qualifikationsanforderungen verlangen.

Priorität für Bildung – die Tatsachen sprechen eine andere Sprache

Bei uns wird zwar in jeder politischen Rede von der „Priorität für Bildung“ geredet, und der „vorsorgende Sozialstaat“ sieht ja in der Bildung geradezu das Allheilmittel gegen fast alle sozialen Probleme, doch tatsächlich passiert das Gegenteil:

Der Anteil der Bildungsausgaben am BIP ging von 6,9% im Jahr 1995 auf 6,3% im Jahr 2005 und auf 6,2% im Jahr 2006 zurück. Wären auch im Jahr 2005 wie 1995 6,9% des BIP für Bildung aufgewendet worden, hätten dem Bildungsbereich rund 13 Milliarden Euro mehr zur Verfügung gestanden.

Auf ein Mehrfaches dieses Betrages hat man zwischenzeitlich durch die Senkungen von Unternehmensteuern verzichtet – allein in diesem Jahr auf 5 Milliarden. Auch ein weiterer Zahlenvergleich belegt, wie unsinnig bei uns die Diskussion über die Bildungsfinanzierung verläuft. Laut Bildungsbericht wurden nach der Einführung von Studiengebühren in 7 Ländern im Jahre 2007 ca. 700 Millionen vereinnahmt. Dies entsprach rund 4 % der Ausgaben der staatlichen Hochschulen (ohne Hochschulkliniken). Man verzichtet also im gleichen Jahr auf 5 Milliarden bei den Unternehmen, um mit einem riesigen politischen Aufwand bei Studierenden, die kein eigenes Geld zur Verfügung haben, ein Siebtel dieses Betrages wieder hereinzuholen. Und das obwohl inzwischen kaum mehr bestreitbar ist, dass Humanressourcen in hoch entwickelten Volkswirtschaften für die Wirtschaftsdynamik wichtiger sind als das Sachkapital.

Deutschland ist zurückgefallen

In den letzten Jahren ist Deutschland im internationalen Vergleich beim Bildungsstand – insbesondere bei den jungen Erwachsenen – zurückgefallen. Dies hat dazu geführt, dass erstmals im Jahr 2005 der Anteil der Personen mit Tertiärabschluss in der gesamten Altersgruppe der Erwerbstätigen (der 25- bis unter 65-Jährigen) leicht unterhalb des OECD-Durchschnitts lag.

Duales System der Berufsausbildung nur noch für eine Minderheit

Trotz aller Erfolgsmeldungen auf dem Lehrstellenmarkt verharrt das duale Berufsaubildungssystem auf einem niedrigeren Niveau. Hat dieses System Mitte der 90er Jahre noch 51,2 % der Auszubildenden aufgenommen, so waren es 2006 nur gut 43%. Der Rest landet im Schulberufs- (17%) oder in Übergangssystemen (40%).

Die EU betrachtet einen Abschluss des Sekundarbereichs II – in Deutschland also abgeschlossene Berufsausbildung, Hoch- oder Fachhochschulreife – als Mindestqualifikation für den Erfolg am Arbeitsmarkt und erwartet, dass bis 2010 mindestens 85% der jungen Erwachsenen einen solchen Abschluss erwerben sollen. In Deutschland betrug der Anteil bei den 20- bis unter 25-Jährigen im Jahr 2006 ca. 72% und blieb damit sowohl unter dem
Stand des Jahres 2000 als auch unter dem EU-Durchschnitt.

Um beim Bildungsstand wieder aufzuholen, müssten vor allem Bildungsreserven unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund und in sozial benachteiligten Schichten mobilisiert werden. Gerade bei solchen Jugendlichen stellt der Übergang aus der Schule in die berufliche Bildung eine besondere Hürde dar.

Hier herrscht nicht nur ein Bildungsnotstand, sondern da entwickelt sich sozialer Sprengstoff:

In Deutschland lebte 2006 mehr als jedes zehnte Kind unter 18 Jahren in einer Familie, in der kein Elternteil erwerbstätig war. 13% der Kinder wuchsen in Familien auf, in der niemand einen Abschluss des Sekundarbereichs II hatte. Bei über 3,4 Millionen oder 23% der Kinder lag das Einkommen der Familie unter der Armutsgefährdungsgrenze. Von mindestens einer dieser Risikolagen waren 4,2 Millionen oder 28% der Kinder betroffen.

Weiterbildung drastisch gekürzt

In jedem bildungspolitischen Statement wird Weiterbildung als entscheidendes Element zum Erhalt und zur Verbesserung der Arbeitsmarktchancen verkündet. Tatsächlich ist folgendes geschehen:

Die Ausgaben der Bundesagentur für Arbeit für berufliche Weiterbildung wurdenu. a. als Folge der Arbeitsmarktreformen (Hartz-Reformen) von 7,8 im Jahr 1999 auf 2,3 Milliarden Euro im Jahr 2005 (Verminderung um 70%) reduziert. Im Jahr 2006 gingen sie weiter auf 1,6 Milliarden Euro zurück. (Aber in der politischen Debatte hat die weitere Senkung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge höchste Priorität.) Die Ausgaben der öffentlichen Haushalte für Weiterbildung (einschließlich Volkshochschulen) wurden zwischen 1999 und 2005 um 20% reduziert. Die direkten Ausgaben der Unternehmen , privaten Organisationen ohne Erwerbszweck und Gebietskörperschaften für betriebliche Weiterbildung beliefen sich im Jahr 2005 nur noch auf rund 7,9 Milliarden Euro gegenüber 9,4 Milliarden Euro im Jahr 1999 (–16%). So reagieren also Staat und Wirtschaft auf die wachsende Bedeutung des „lebenslangen Lernens“.

Rückgang an Studienanfängern und der Absolventenquoten

Der Bildungsbericht beschränkt sich, wie schon erwähnt, im Wesentlichen auf Beschreibungen der tatsächlichen Entwicklung. So heißt es etwa zur Einführung der Bachelor-Studiengänge unkritisch:

Der rasch ansteigende Anteil der Studienanfängerinnen und – anfänger in Bachelorstudiengängen stellt die derzeit wichtigste Entwicklung dar. Die fortschreitende Umsetzung des Bologna-Prozesses führt zu einer permanenten Erhöhung des Anteils der Bachelorstudiengänge. Im Februar 2008 führten fast 60% der grundständigen Studienangebote zum Bachelor. Besonders weit ist die Umstellung an den Fachhochschulen fortgeschritten, wo bereits 85% der Studiengänge zum Bachelor führten, während es an den Universitäten erst knapp die Hälfte war.

Sozusagen nur im Kleingedruckten findet man dazu kritische Anmerkungen. So etwa im Zusammenhang mit der Tatsache, dass sich die Betreuungsrelation (Verhältnis von Lehrenden zu Studierenden) zwischen 2000 und 2006 verschlechtert hat. Das sei für das Erreichen der anspruchsvollen Ziele, die mit dem gestuften Studiensystem verbunden sind, „eine ungünstige Voraussetzung, zumal die Betreuungserfordernisse in modularisierten Studiengängen höher sind.“ So erstaunt auch die Feststellung des Berichtes nicht, dass in Bachelor-Studiengängen teilweise höhere Abbruchquoten als in herkömmlichen Studiengängen festzustellen sind. Auch hinsichtlich der Berufsaussichten der Bachelor zeigt sich noch ein diffuses Bild: Während die Großunternehmen den Bachelorabsolventen bereits frühzeitig Einstiegsoptionen anboten, taten sich kleinere Firmen, denen der Abschluss zunächst unbekannt war, schwerer. Im Öffentlichen Dienst sei die Situation noch völlig unklar.

Während von konservativen Bildungspolitikern die Einführung von Studiengebühren damit begründet wird, dass damit der „Kunde König“ werde, scheinen an den Hochschulen die Kunden einfach wegzubleiben:

Insgesamt liegt die Studienanfängerzahl (trotz einer steigenden Zahl von Studienberechtigten) 2006 immer noch um 20.000 und die Anfängerquote um mehr als zwei Prozentpunkte niedriger als im Jahre 2003. 2005 wurde der ohnehin vorhandene Abstand zum OECD-Durchschnitt sogar wieder etwas größer. Die Studienanfängerquote liegt bei 30% und ist damit deutlich von der angestrebten Zielgröße von 40 % entfernt.

Der Rückgang der Studienanfängerzahlen hängt sicherlich nicht nur mit der zurückgehenden Studierneigung, sondern auch mit der Zunahme lokaler Zulassungsbeschränkungen zusammen.

Im Wintersemester 2005/06 hatten zwei Drittel der Studienanfängerinnen und -anfänger vor Studienbeginn ein lokales Zulassungsverfahren oder das Verfahren der ZVS (Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen) durchlaufen. Insgesamt konnten zum Sommersemester 2008 nur 35% der Fachhochschulstudiengänge und 50% der universitären Studiengänge ohne Zulassungsbeschränkungen gewählt werden.

er viel gerühmte sog. Qualitätspakt, mit dem Bund und Länder mit zusammen 1,3 Milliarden Euro, verteilt auf 4 Jahre, zusätzliche Studienkapazitäten schaffen wollen, ist angesichts solcher schon vorhandenen Kapazitätsengpässe allenfalls ein Tropfen auf einem heißen Stein.

Ganz zurückhaltend deutet der Bericht an, dass auch die Einführung von Studiengebühren etwas mit dem Rückgang der Studienanfängerzahlen zu tun haben könnte:

Insgesamt verzeichneten die Länder mit Studienbeiträgen 2007 einen geringeren Zuwachs der Studienanfängerzahlen, aber die Entwicklungen in den einzelnen Ländern verliefen unterschiedlich. Individuelle Probleme bzw. Befürchtungen hinsichtlich der Studienfinanzierung können das Interesse an der Aufnahme eines Studiums negativ beeinflussen

Selbst wenn man dieser vorsichtigen Bewertung folgte, so müsste angesichts der rückläufigen Studienanfängerzahlen, vor allem aber angesichts des Vergleichs, dass in anderen vergleichbaren Ländern teils deutliche Steigerungen zu verzeichnen sind, doch alles getan werden, um Barrieren vor der Aufnahme eines Hochschulstudiums beiseitezuräumen.

Die Zahl der Hochschulabsolventen ist zwar leicht angestiegen, doch die Absolventenquote (also der Anteil der Absolventen eines Abschlusses im tertiären Bildungsbereich gemessen an der Bevölkerung des entsprechenden Alters) liegt in Deutschland mit 23 % weit unter dem Durchschnitt der OECD-Staaten. Finnland, Schweden oder die Schweiz hatten sogar deutliche Steigerungen zu verzeichnen. Was aber noch dramatischer ist: Die Zahl der Hochschulabsolventen ist zwar leicht angestiegen, doch die Absolventenquote (also der Anteil der Absolventen eines Abschlusses im tertiären Bildungsbereich gemessen an der Bevölkerung des entsprechenden Alters) liegt in Deutschland mit 23 % weit unter dem Durchschnitt der OECD-Staaten. Finnland, Schweden oder die Schweiz hatten sogar deutliche Steigerungen zu verzeichnen. Was aber noch dramatischer ist:

Dazu der Bildungsbericht:

Angesichts des spezifischen Qualifikationsbedarfs, der mit dem Wandel zu wissensgesellschaftlichen Strukturen von Arbeit, Beschäftigung und Wertschöpfung verbunden ist, lassen sich diese Unterschiede kaum mit dem Hinweis auf die besonderen Leistungen der beruflichen Bildung in Deutschland legitimieren. Der Fachkräftebedarf speziell in den Ingenieurwissenschaften und einigen Naturwissenschaften wird ein zentrales bildungs- und arbeitsmarktpolitisches Thema bleiben. Dies ist nicht nur einem Nachfrage-, sondern auch einem Studieneffektivitätsdefizit geschuldet.

Der Rückgang der Absolventenquoten erklärt sich auch aus der weit über dem Durchschnitt (21%) liegenden Studienabbruchquote gerade in natur- und ingenieurwissenschaftlichen Fächern von 30%. Darin spiegelt sich, dass gerade in diesen Fächern die Hochschullehrer die Qualität ihrer Lehre oftmals nur daran messen, wie viel Prozent der Studierenden durch die Klausuren fallen. Durchfallquoten von 80 und mehr Prozent gelten unter vielen in diesen Fächern Lehrenden geradezu als Qualitätsausweis.

Betreuungsverhältnis hat sich verschlechtert

Qualität der Lehre hat aber auch viel mit der Betreuungsrelation zu tun, also mit dem zahlenmäßigen Verhältnis von Lehrenden und Lernenden. Dieses Betreuungsverhältnis hat sich zwischen 2000 und 2006 verschlechtert. Die Zahl der Professuren ist verglichen mit 1997 zwar an den Fachhochschulen um etwa 1.300 gestiegen, während die Universitäten 1.160 Professuren weniger aufwiesen. Nach Fächergruppen betrachtet, fällt die sinkende Zahl der Professuren in den Sprach- und Kulturwissenschaften an Universitäten (– 9%)sowie den Ingenieurwissenschaften (!) an beiden Hochschularten auf (– 10 bzw. – 7%).

Nach wie vor sind Hochschullehrer eine Männerdomäne. Der Anteil der Professorinnen lag 2006 an Universitäten wie Fachhochschulen bei nur 15 %.

Dringend erforderlich: Die Ausschöpfung des Bildungspotentials

Im Hinblick auf die stagnierende Studierbereitschaft resümiert der Bildungsbericht:

Angesichts der nahezu vollständigen Ausschöpfung der traditionellen Bildungsmilieus bei der Studienaufnahme muss sich der Blick vor allem auf diejenigen Gruppen richten, die bislang nur eine geringe Teilhabechance an Hochschulbildung aufweisen. Hier kommt auch der weiteren Verbesserung des BAföG und einem Ausbau des Stipendienangebots zur Studienfinanzierung eine wichtige Funktion zu. Des Weiteren gilt es, die Auswirkungen von Studienbeiträgen genau zu beobachten.

Die Chance, ein Hochschulstudium zu beginnen, hängt nach wie vor stark von der sozialen Herkunft und der Bildungsherkunft der Studienberechtigten ab. So nehmen von den Kindern aus einer Beamtenfamilie, in denen der Vater über einen Hochschulabschluss verfügt, nahezu alle ein Studium auf (95%), während etwa die Beteiligungsquote bei Beamtenkindern ohne akademisch qualifizierten Vater bei nur 37% liegt. Auch bei den Selbstständigen und Angestellten zeigt sich dieser klare Unterschied je nach Bildungsstatus der Eltern/des Vaters. Am unteren Rand der Bildungsbeteiligung liegen die Arbeiterkinder mit einer Beteiligungsquote von nur 17%. (In der Untersuchung wird übrigens ein Anteil von 41 % der 19-25-jährigen Bevölkerung der Gruppe der Arbeiterkinder zugeordnet.)

Dass diese unterschiedliche Beteiligungsquote keineswegs nur etwas mit den schulischen Leistungen zu tun hat, erklärt die Studie wie folgt:

In Familien, in denen ein Elternteil oder beide bereits über einen Hochschulabschluss verfügen, hat die Studienaufnahme der Kinder auch die Funktion, den erreichten familiären Bildungsstatus zu erhalten. Deshalb tendieren diese Studienberechtigten auch bei schlechteren Noten häufiger zu einem Studium.

Die soziale Auslese an der Hochschule ist allerdings nur das Ende des Ausleseprozesses in den Bildungsbiografien:

Mit einem höheren sozioökonomischen Status gehen bis zu dreimal geringere Hauptschul- und bis zu fünfmal höhere Gymnasialbesuchsquoten einher. Internationale Schulleistungsstudien zeigen, dass die Kopplung zwischen sozialem Status der Herkunftsfamilie und erworbenen Kompetenzen in Deutschland nach wie vor stärker ausgeprägt ist als in anderen Staaten. Auch der Hochschulzugang erzeugt neue Disparitäten: Kinder aus Akademikerfamilien nehmen bei gleichen Abiturnoten häufiger ein Studium auf als Kinder aus nichtakademischen Elternhäusern.

Durchlässigkeit nur nach unten

Von der viel zitierten Durchlässigkeit unseres Bildungssystem ist auch an den Hochschulen nichts zu erkennen: Sonderzugangswege für Berufstätige sind mit gerade einmal 0,6 Prozent praktisch bedeutungslos. Selbst an den Fachhochschulen liegt der Anteil nur bei knapp 2%. Das deutsche Bildungssystem verzeichnet durchgängig keinen Trend zum Aufstieg, sondern ein deutliches Übergewicht an Abwärtswechseln. Auf jeden aufwärts gerichteten Wechsel kommen fast fünf Abwärtswechsel zu einer niedriger qualifizierenden Ausbildung.

Fazit:

Ich wünschte, dass ich mit diesen wenigen Hinweisen Ihr Interesse auf den Bildungsbericht 2008 lenken konnte. Ich habe mich bei diesen kleinen Einblicken keineswegs auf kritische Aspekte beschränkt oder beschränken müssen. Der Grund ist ganz einfach, dass es ziemlich wenig gibt, was am deutschen Bildungswesen positiv hervorzuheben ist.

Wir erleben in den letzten Jahren eine Bildungsreform nach der anderen, sowohl das Schul- als auch das Hochschulsystem wurden geradezu umgewälzt. Es wurde evaluiert, getestet, es wurden Bildungsstandards und dutzende von Tests eingeführt, es wurde die selbständige Schule und die unternehmerische Universität propagiert. Dabei ist das wichtigste Ziel offenbar völlig aus dem Blick geraden, nämlich die Ausschöpfung der Bildungsreserven und die Erhöhung des Qualifikationsniveaus der Gesellschaft.

Statt Globalisierung und demografische Entwicklung nur als Hebel für Sozialabbau und Umverteilung von unten nach oben zu nutzen, sollten die wirklichen Herausforderungen ganz oben auf der Agenda stehen. Nämlich dass der technische Fortschritt (und damit die Wettbewerbsfähigkeit) von einer höheren Qualifikation der Menschen abhängig sind und dass das Ausscheiden von mehr Menschen aus dem Berufsleben mehr qualifizierten Nachwuchs erfordert.

Ernsthafte Gefährdung des Arbeitskräftepotentials und des sozialen Zusammenhalts

Der Bildungsbericht 2008 konstatiert eine „ernsthafte Gefährdung des künftigen Arbeitskräftepotentials“. Er zählt dafür eine ganze Reihe von kumulativen Effekten auf:

  • die hohe Quote der Abgänger ohne Schulabschluss
  • der langsam steigende, aber immer noch zu niedrige Anteil an Absolventen mit Hochschulzugangsberechtigung
  • die abnehmende Integrations- und Qualifikationsfunktion des dualen Ausbildungssystems, insbesondere für Jungendliche mit niedrig qualifizierendem (Hauptschule) oder ohne Schulabschluss
  • die nur zögerliche Entwicklung des Schulberufssystems
  • die nur geringe Bildungsmobilität unterer Qualifikationsgruppen
  • die deutlich hinter den angestrebten Zielen und dem OECD-Durchschnitt zurückbleibende Studienanfängerquote
  • die viel zu geringe Förderung der Weiterbildung und zu niedrige Weiterbildungsbeteiligung.

Eine Fortsetzung des hier skizzierten Trends würde bedeuten, dass das Bildungswesen seine Aufgaben zur Sicherung des Arbeitskräftebedarfs und der sozialen Kohärenz mittel- und langfristig nur mit erheblichen Einschränkungen erfüllt.

Weniger wissenschaftlich zurückhaltend formuliert lautet das Zeugnis des Bildungsberichts 2008 für das Bildungswesen und für die Bildungspolitik: Ungenügend.

Als zentrale Herausforderungen nennt der Bildungsbericht:

Der Umfang der Bildungsangebote muss in verschiedenen Bereichen des Bildungswesens weiter erhöht werden, wenn der absehbare Bedarf erfüllt und gesellschaftlicher Fortschritt gesichert werden soll. Hierzu gehören

  • die Versorgung mit frühkindlichen Angeboten für unter 3-Jährige,
  • eine Verstärkung der voll qualifizierenden Berufsausbildung und der Abbau von Umwegen beim Übergang aus der Schule,
  • die Steigerung der Studierendenzahlen und Studienabschlüsse sowie
  • die Verstärkung von Angebot und Nutzung bei der Weiterbildung im Erwachsenenalter.
  • Mindestens so wichtig wie der quantitative Ausbau ist jedoch die Qualitätsentwicklung im Bildungswesen. Wichtige Aufgaben sind hierbei

  • die Minderung von Risikolagen für Kinder auf der Grundlage eines frühzeitigen und verstärkten Einsatzes geeigneter Interventions- und Fördermaßnahmen,
  • die Förderung von Grundkompetenzen im Sekundarbereich I als Voraussetzung für verstärkte Übergänge in die Berufsausbildung und die Hochschule,
  • die Reduzierung der Anzahl der Schülerinnen und Schüler ohne Schulabschluss,
  • die gezielte Unterstützung für junge Menschen mit Migrationshintergrund, nicht nur durch eine kontinuierliche Sprachförderung.
  • Die Autorengruppe hält es für geboten, die besondere Aufmerksamkeit auf drei Problemlagen zu richten, die zentrale Herausforderungen der nächsten Jahre darstellen dürften:

  • Die Strukturen der beruflichen Ausbildung bedürfen einer Weiterentwicklung. Das duale System büßt tendenziell eine seiner großen Stärken ein, Jugendliche mit geringerem Bildungsniveau durch Ausbildung beruflich zu integrieren. Der Ausbau des Schulberufssystems kommt nur langsam voran. Das Übergangssystem hat sich seit Jahren ausgeweitet und trägt die Hauptlast bei der Vorbereitung gering qualifizierter Jugendlicher und insbesondere solcher mit Migrationshintergrund auf eine berufliche Ausbildung. Gerade dabei zeigt es in den letzten Jahren deutlicher seine Vorteile, aber auch seine Schwächen. Die Optimierung und Neuorganisation des Übergangssystems ist daher eine zentrale Herausforderung, damit junge Menschen erfolgreicher und zügiger in qualifizierende Bildungsgänge im dualen System bzw. im Schulberufssystem kommen. Die Wirkungen für die unterschiedlichen Gruppen von Jugendlichen sowie die Effektivität und Effizienz des Übergangssystems insgesamt sind genauer zu prüfen.
  • Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund müssen frühzeitig, differenziert und kontinuierlich gefördert werden. Eine weitere zentrale Herausforderung stellt die Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund dar, gerade auch der in Deutschland geborenen. Deren Kompetenzrückstand hat sich seit der ersten PISA-Studie, die massiv auf diese Herausforderung aufmerksam machte, nicht verringert: Da der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund in den jüngeren Kohorten steigt, wird die Frage ihrer frühzeitigen und differenzierten Förderung immer bedeutsamer. Diese Förderung muss sich bis ins Jugendalter ziehen, denn der Übergang in die berufliche Ausbildung hat sich für diese Jugendlichen als besondere Hürde erwiesen.
  • Der Ersatz von pädagogischem Personal und das zusätzlich erforderliche Personal dürfen bisherige Professionalisierungsanstrengungen nicht in Frage stellen. Der absehbare Bedarf an zusätzlich qualifiziertem Personal im frühkindlichen Bereich und an Schulen stellt ein ernsthaftes Problem dar. Frühpädagogik ist in Deutschland weder als Profession noch als Disziplin entwickelt, obwohl die verstärkte Förderung von Kindern unter drei Jahren bildungs- und familienpolitisch diskutiert wird. Seit mehr als 10 Jahren steht die Verbesserung der mathematischen, naturwissenschaftlichen und technischen Kompetenzen von Jugendlichen auf der Tagesordnung; erste Erfolge zeichnen sich ab. Diese würden zunichte gemacht, wenn es nicht gelänge, die für diese Fächer erforderlichen Lehrkräfte auszubilden, zu rekrutieren und zu professionalisieren. Gegenwärtig spricht jedoch alles dafür, dass schon quantitativ der Ersatzbedarf nicht gedeckt werden kann. Der drohende Mangel an pädagogisch qualifizierten Lehrkräften insgesamt kann die Qualitätsentwicklung in Schule und Unterricht gefährden

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