Je suis heuchlerisch … warum zählen für uns nur „unsere“ Toten?

Jens Berger
Ein Artikel von:
Jens Berger

Wenige Tage nach dem fürchterlichen Anschlag von Orlando, bei dem 49 Clubgänger aus der LGBT-Szene erschossen wurden, ist die Solidaritätswelle in den Medien und sozialen Netzwerken mal wieder auf ihrem Höhepunkt. Der Eiffelturm erstrahlt in den Regenbogenfarben der LGBT-Community, auf Facebook wird man von Profilfotos erschlagen, die von eben diesen Farben überdeckt werden. Vor wenigen Monaten wurde nach den Anschlägen von Paris das One World Trade Center in den französischen Nationalfarben illuminiert, die auch damals „unsere“ Facebook-Profile überdeckten, genau so wie der „Je suis Charlie“-Schriftzug im Jahr zuvor. Nein, was sind wir doch solidarisch! Komischerweise sind wir jedoch immer nur dann solidarisch, wenn die Opfer aus unserem Kulturkreis kommen. Opfer aus Afrika und Asien sind uns offenbar herzlich egal; vor allem dann, wenn ihre Mörder unsere gewählten Politiker sind. Wir sind nicht die Weltmeister der Solidarität, sondern die Weltmeister im Heucheln. Von Jens Berger.

Am 7. Januar begann das Jahr mit einem Terroranschlag in der libyschen Kleinstadt Zliten. Islamisten zündeten eine Autobombe, die mindestens 60 Menschen tötete und mehr als 200 Menschen verstümmelte. Hat irgendwer von uns damals sein Facebook-Profilbild mit der libyschen Flagge überdeckt? Wenige Monate zuvor stürmten Terroristen im Norden Kenias eine Schule und töteten dabei mehr als 147 Schüler. Offenbar suchten die Täter dabei vor allem Christen aus. Zeigte damals irgendwer ein Kreuz zum Zeichen der Solidarität mit den Opfern? Am 25. Januar dieses Jahres zündeten Selbstmordattentäter eine Bombe auf einem belebten Markt in Bodo, Kamerun. 32 Menschen starben. Unseren Nachrichten war dies noch nicht einmal eine Meldung wert. Auch das Massaker am nigerianischen Dorf Dalori, bei dem mindestens 86 Menschen starben und der Selbstmordanschlag zweier nigerianischer Terroristinnen in Dikwa (wenige Tage später, 60 Todesopfer), kamen in unseren Nachrichten gar nicht erst vor. Einen ARD-Brennpunkt gab es auch nicht, als am 27. März dieses Jahres 72 Menschen, darunter 29 Kinder, starben, weil sich ein Selbstmordattentäter im pakistanischen Lahore am Eingang zu einem beliebten Park in die Luft gesprengt hat.

Am 12. Juni kam es zum Massaker von Orlando. Zwei Tage später, also vorgestern, wurden in Niger am Tschad-See 42 Fischer kaltblütig von Terroristen abgeschlachtet. Keine Meldung dazu in den Medien, keine Solidaritätsadresse mit den Opfern von der Kanzlerin. Kein Facebook-Nutzer kam auf die Idee, sich einen Fisch in sein Profilbild montieren zu lassen. Warum auch? Sind ja nur Afrikaner, die sind es ja gewohnt, abgeschlachtet zu werden. „Hund beißt Briefträger“ ist keine Schlagzeile, „Briefträger beißt Hund“ sehr wohl. Insofern ist jeder tote Franzose, jeder tote Amerikaner für uns nicht nur eine Schlagzeile wert, sondern fordert auch unsere volle Solidarität heraus. Kenianische Kinder, pakistanische Frauen oder gar afrikanische Dorfbewohner sind uns fern. Selbst das Schicksal eines gequälten Hundes interessiert uns mehr als der Tod Tausender Afrikaner oder Asiaten. Und in unsere schicken Facebook-Profile schaffen „die“ es natürlich schon mal gar nicht.

Weltmeister im Heucheln

Warum auch? Der Wahnsinn hat doch Methode, das Leid gehört zur Tagesordnung. Im Irak gehören Anschläge mit zivilen Todesopfern zur Tagesordnung. Und alleine der Krieg in Syrien hat bereits rund 470.000 Todesopfer gefordert – das sind seit März 2011 im Schnitt täglich 300 Tote; Tag für Tag sechsmal so viele Opfer wie beim Massaker von Orlando. Schert es wen? Nein, „wir“ machen uns eher darum Sorgen, dass syrische Kriegsflüchtlinge in unserer Nachbarschaft einquartiert werden könnten. Solidarität? Mit Syrern? Ich bitte Sie! Hier geht es doch auch um den Wert unseres Häuschens. Und für die Solidarität habe ich doch schon mein Profilbild überpinseln lassen. Das muss dann doch auch mal reichen!

Und wie sieht es mit den fast 1.000 zivilen Opfern aus, die in Afghanistan, Pakistan, Somalia und im Jemen von Drohnen abgeschlachtet wurden? Die Mörder sind keine Unbekannten und auch keine Islamisten. Sie sitzen in Stuttgart-Möhringen bei einer „Terrororganisation“ namens AFRICOM, die zum „Terrornetzwerk“ US-Army gehört. Stört uns das? Nein, die Opfer sind ja keine schwulen Partygänger, keine französischen Konzertbesucher und schon gar keine Karikaturisten! Sie sind also niemand von „uns“!

Selbst schuld – wer in Somalia oder im Jemen lebt, der muss halt damit rechnen, von uns nicht als Mensch, sondern als potentieller Kollateralschaden gesehen zu werden. Uns interessieren nur „unsere“ Opfer. Und wenn – Gott bewahre – demnächst sogar Deutsche Opfer von Terrorattacken werden … ja dann wird es wochenlang Brennpunkte in der ARD geben und wir werden ganz bestimmt unsere Facebook-Profile auf Ewigkeiten aus bloßer Solidarität heraus schwarz-rot-gold erstrahlen lassen. Denn wenn es um echte Solidarität geht, macht uns niemand etwas vor!

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