Armut und Reichtum per Gesetz – Die unsozialen Folgen der jüngsten Erbschaftsteuerreform

Christoph Butterwegge
Ein Artikel von Christoph Butterwegge

Am 17. Dezember 2014 hatte der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts das Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz in der bislang gültigen Fassung wegen einer „Überprivilegierung“ der Firmenerben für grundgesetzwidrig erklärt und dem Gesetzgeber eine Frist bis zum 30. Juni 2016 eingeräumt, um eine verfassungskonforme Neuregelung zu treffen. Erst nach anderthalb Jahren und zahlreichen Verhandlungsrunden konnten sich CDU, CSU und SPD auf einen Gesetzentwurf verständigen, der zwar am 24. Juni 2016 den Bundestag passierte, aber vom Bundesrat am 8. Juli 2016 abgelehnt und an den Vermittlungsausschuss zur „grundlegenden Überarbeitung“ überwiesen wurde. Von Christoph Butterwegge[*].

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Nachdem die großkoalitionäre Bundestagsmehrheit am 29. September 2016 auch den dort zwischen CDU, CSU, SPD und Landesregierungsgrünen, aber gegen die Stimmen der von LINKEN mitregierten Bundesländer Brandenburg und Thüringen sowie der Bundestagsgrünen beschlossenen „Kompromissvorschlag“ durchgewunken hat, entscheidet morgen [Freitag, 14. Oktober] der Bundesrat, in dem die von Bündnis 90/Die Grünen mitregierten Länder das Zünglein an der Waage bilden, abschließend über das Gesetz zur Anpassung des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.

Die erfolgreiche Einflussnahme der Wirtschaftslobbyisten auf die Legislative

Wer sehr reich ist, ist meistenteils auch politisch einflussreich. Mit einem durchschlagenden Erfolg des exzessiven Lobbyismus lieferte die jüngste Reform der Erbschaftsteuer dafür ein besonders drastisches Lehrbeispiel. Jan Hildebrand und Donata Riedel sprachen im Handelsblatt (v. 8./.9./10.7.2016) von einer „harte(n) Lobbyschlacht“, die durch das Missverständnis der Unternehmer ausgelöst worden sei, aufgrund des oben genannten Bundesverfassungsgerichtsurteils müsse sich an der weitgehenden Steuerbefreiung von Firmenerben kaum etwas ändern. Dabei fungierte die CSU als parlamentarischer Arm der Hardliner im Unternehmerlager, obwohl es in der Landesverfassung des Freistaates Bayern unmissverständlich heißt: „Die Erbschaftsteuer dient auch dem Zwecke, die Ansammlung von Riesenvermögen in den Händen einzelner zu verhindern.“

Wenn die bisherige Form der steuerlichen Begünstigung der Firmenerben aufgrund des Karlsruher Richterspruchs aber nicht in vollem Maße aufrecht zu erhalten sei, dann – so trichterten die Interessenvertreter des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) und des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) prominenten Unionspolitikern ein – müsse man eben auf andere Weise dafür sorgen, dass auch große Betriebsvermögen weiterhin ohne nennenswerte Steuerbelastung übertragen werden könnten.

Volker Kauder, Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, und sein Stellvertreter Ralph Brinkhaus, der zusammen mit Michael Meister, dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für Finanzen, maßgeblich an den Verhandlungen über den Gesetzentwurf beteiligt war, gaben in der FAZ (v. 8.7.2015) die Richtung vor, in welche sich die Union nach dem auf Finanzminister Wolfgang Schäubles zurückgehenden Kabinettsbeschluss vom selben Tag bewegte. Während die CSU das Gesetzgebungsverfahren mit ihren Maximalforderungen monatelang blockierte, beugte sich die CDU dem politischen Druck aus München, indem sie nunmehr ergänzend zu den Verschonungsregeln für Firmenerben die Bewertungsregeln für Betriebsvermögen so ändern wollte, dass die Steuerlast der Erwerber durch die Hintertür noch mehr sinkt.

Nach zahlreichen Expertenrunden, Koalitionsgipfeln und Konsensgesprächen der Fraktionsspitzen, bei denen sich CDU, CSU und SPD nie hatten einigen können, verständigten sich Wolfgang Schäuble sowie die Parteivorsitzenden der beiden anderen Koalitionsparteien, Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel und Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer, kurz vor Ablauf der vom Bundesverfassungsgericht gesetzten Frist auf eine Modifizierung des Gesetzentwurfs. Da die SPD einmal mehr nachgab, hatten die mächtigen Unternehmerfamilien durch massive Einflussnahme ihrer Lobby zusätzliche Erleichterungen für sich erreicht:

  1. Waren ursprünglich Betriebe mit bis zu 20 Beschäftigten von der Pflicht befreit, die Lohnsumme halbwegs konstant zu halten, und hatte die Regierung wegen der Kritik des Bundesverfassungsgerichts an dieser Privilegierung von über 95 Prozent aller Firmenerben zuerst eine Bagatellgrenze von drei Beschäftigten eingezogen, nachdem Finanzminister Schäuble in seinen ursprünglichen Eckpunkten sogar nur bei Unternehmen mit einem Wert bis 1 Mio. Euro auf die Prüfung der Lohnsumme verzichten wollte, stieg sie am Ende wieder auf fünf Beschäftigte.
  2. Beteiligungen an Holdings in Drittstaaten außerhalb der Europäischen Union bzw. des Europäischen Wirtschaftsraums gehörten nun zum Betriebsvermögen. Dies verdeutlicht hinlänglich, dass es den Lobbyisten und der CSU als ihrem parlamentarischen Arm nicht etwa – wie gebetsmühlenartig behauptet – um die Rettung des kleinen deutschen Handwerkbetriebs „an der nächsten Straßenecke“ und den Erhalt seiner Arbeitsplätze ging.
  3. Es blieb bei der Unterscheidung zwischen dem begünstigungsfähigen Betriebs- und dem nur eingeschränkt begünstigungsfähigen Verwaltungsvermögen. Wolfgang Schäubles Eckpunkten zufolge wäre nur Vermögen begünstigt worden, das seinem Hauptzweck nach einer originär land- und forstwirtschaftlichen, gewerblichen oder freiberuflichen Tätigkeit dient.
  4. Unternehmen wurden aufgrund einer Änderung des Bewertungsgesetzes auf dem Papier erheblich „billiger“, was mit dem niedrigen Zinsniveau begründet wird und die Belastung der Firmenerben durch die Erbschaftsteuer erheblich senkt. Die so Begünstigten können gewissermaßen dadurch reich werden, dass ihnen das Gesetz zur Anpassung des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erlaubt, sich armzurechnen. Dies gilt auch in Bezug auf den folgenden Punkt.
  5. Firmen, die wie Konzerne im Familienbesitz per Satzung oder Gesellschaftervertrag festgelegte Ausschüttungs- und Entnahmerestriktionen, Verfügungsbeschränkungen und Abfindungsregeln kennen, wurden durch einen Vorwegabschlag von 30 Prozent auf den Übertragungswert leichter steuerfrei vererb- oder verschenkbar.
  6. Erben großer Betriebsvermögen (ab einem Unternehmenswert von 26 Mio. Euro) können zwischen einer Verschonungsbedarfsprüfung, die das Bundesverfassungsgericht gefordert hatte, und einem Abschmelzmodell, also der Möglichkeit einer mit wachsendem Firmenwert sinkenden Verschonung wählen, ohne das eigene (Privat-)Vermögen offenlegen zu müssen.
  7. Eine von der Union in das Gesetz „hineinverhandelte“ sog. (Re-)Investitionsklausel erlaubt es Firmenerben, innerhalb von zwei Jahren durch Tätigung geplanter Investitionen Verwaltungs- bzw. Finanzvermögen in begünstigungsfähiges Betriebsvermögen umzuwandeln und der Steuer auf diese Weise zu entziehen.
  8. Im Todesfall hätte ein Rechtsanspruch auf eine zinslose Stundung der Erbschaftsteuer für die Dauer von zehn Jahren gegolten.

Die neue Regelung war für Firmenerben in manchen Fällen sogar günstiger als die ursprüngliche, vom Bundesverfassungsgericht aus guten Gründen bemängelte, weil der Unternehmenswert durch Veränderung der Berechnungsart (Verringerung des Kapitalisierungsfaktors, mit dem der Jahresgewinn multipliziert wird, von 17,86 im Jahr 2016 auf 13,75) sank. Selbst in Beispielrechnungen, die das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) anstellte, wurde nicht verhehlt, dass der Erbe eines Familienunternehmens im Wert von über 50 Mio. Euro nach den neuen Verschonungsregeln erheblich weniger Steuern zu entrichten hätte als nach dem alten Recht.

Der im Vermittlungsausschuss gefundene faule Kompromiss

Wer gehofft hatte, der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat würde das zweifelhafte Gesetzeswerk stoppen oder im Sinne des Bundesverfassungsgerichtsurteils gründlich überarbeiten, sah sich getäuscht: Der in der Nacht vom 21. auf den 22. September 2016 ausgehandelte Kompromiss war insofern ein fauler, als die CSU an ihren extrem unternehmerfreundlichen Positionen festhielt und nur unbedeutende Konzessionen zuließ. Neben dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen) ließ sich jedoch auch der nordrhein-westfälische Finanzminister Norbert Walter-Borjans (SPD) einbinden, ohne nennenswerte Verbesserungen durchgesetzt zu haben. Dass der Kapitalisierungsfaktor für die Wertermittlung von Betriebsvermögen von zuletzt 12,5 wieder ein wenig auf 13,75 angehoben wurde, war noch sein größter Verhandlungserfolg im Auftrag der sog. A-Länder. Außerdem wurden die Stundungsmöglichkeiten wieder stärker eingeschränkt: Nur im Erb-, also nicht im Schenkungsfall, kann dem Erwerber die Steuer auf Antrag bis zu sieben Jahre gestundet werden, aber nur im ersten Jahr ist dies noch zinslos möglich.

Dass nunmehr „Kunstgegenstände, Kunstsammlungen, wissenschaftliche Sammlungen, Bibliotheken und Archive, Münzen, Edelmetalle und Edelsteine, Briefmarkensammlungen, Oldtimer, Yachten, Segelflugzeuge sowie sonstige typischerweise der privaten Lebensführung dienende Gegenstände“ explizit als nicht begünstigungsfähig aufgezählt werden, sofern „der Handel mit diesen Gegenständen, deren Herstellung oder Verarbeitung oder die entgeltliche Nutzungsüberlassung an Dritte nicht der Hauptzweck des Betriebs ist“, hat Manfred Schäfers in der FAZ (v. 23.9.2016) sarkastisch als „eine Sache für die Galerie“ bezeichnet und ist für die Parlamentarier ausgesprochen peinlich. Wieso muss man, fragt sich nämlich der unvoreingenommene Bürger, ins Gesetz hineinschreiben, dass bestimmte Luxusartikel von diese als Statussymbole benutzenden Multimillionären nicht steuerfrei auf deren Nachfolger übertragbar sind, wenn es doch um den Erhalt mittelständischer Betriebe und ihrer Arbeitsplätze geht?

Bei den Änderungen, die der Vermittlungsausschuss zu nächtlicher Stunde beschloss, handelte es sich höchstens um kosmetische Korrekturen an einem Gesetz, das zumindest dem Geist des zitierten Verfassungsgerichtsurteils widersprach. Diesem ist zu entnehmen, dass Firmenerben zwar gegenüber Erben anderer Vermögensarten bevorzugt werden dürfen, aber nur zum Zwecke des Erhalts ihrer Betriebe und der Arbeitsplätze. Dass im Gesetzgebungsverfahren nach dem Karlsruher Urteilsspruch neue Privilegien für besonders vermögende Firmenerben geschaffen wurden, wie etwa der Vorwegabschlag für Familienunternehmen, ließ sich damit nicht rechtfertigen.

Die vom Bundestag am 24. Juni 2016 beschlossene Fassung blieb in der Substanz erhalten, wie schon die Tatsache zeigt, dass wegen der vom Vermittlungsausschuss empfohlenen Änderungen des Gesetzestextes nur ein jährliches Steuermehraufkommen von 30 Mio. Euro (bei einem Gesamtvolumen der Erbschaft- und Schenkungsteuer von zuletzt 6,2 Mrd. Euro) prognostiziert wird. Zwar sind die Verschonungsregeln noch komplizierter und zu einem teuren Beschäftigungsprogramm für Rechtsanwälte sowie Steuer- und Anlageberater, aber keineswegs verfassungskonformer geworden. Die auf Weisung der Karlsruher Richter eingeführte „Verschonungsbedarfsprüfung“ etwa greift nicht, wenn das Unternehmen aus strategischen Gründen frühzeitig einem Kind ohne eigenes Vermögen übertragen wird. Geschieht dies – wie demnächst aufgrund der neu eingeführten Verschonungsbedarfsprüfung wahrscheinlich noch häufiger als bisher –, hat man es im Grunde mit einem Umgehungstatbestand zu tun.

Die jüngste Erbschaftsteuerreform für Firmenerben könnte erneut das Bundesverfassungsgericht beschäftigen, weil CDU, CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen deren Steuerprivilegien bestätigt und die von ihm bemängelten Gesetzesbestimmungen nur unwesentlich modifiziert haben. Man fühlt sich durch die Regelungen, mit denen Firmenerben gegenüber Erben anderer Vermögensarten begünstigt werden, an George Orwells „Farm der Tiere“ erinnert: Dort sind alle Tiere gleich, aber manche gleicher.

Wer als Kind einer Unternehmerfamilie gewissermaßen mit einem goldenen Löffel geboren wurde, braucht in Wahrheit keine staatliche Unterstützung bei der Vermögensbildung und keine Steuerprivilegien von Standes wegen. Durch die Gesetzesnovellierung verschärft sich die Konzentration des Kapitals und die Zusammenballung von Reichtum, wirtschaftlicher Macht und politischem Einfluss bei relativ wenigen (Groß-)Unternehmerfamilien.

Man kann weiterhin einen ganzen Konzern übertragen bekommen, ohne dafür auch nur einen Cent betriebliche Erbschaft- bzw. Schenkungsteuer zahlen zu müssen. So bietet sich eine möglichst frühe Unternehmensübergabe an, damit der Nachwuchs die Verschonungsbedarfsprüfung noch problemlos besteht, bevor er vermögend wird. Nur beim Abschmelzmodell, das reiche Erben wählen können, um ihre Vermögensverhältnisse nicht offenlegen zu müssen, und ihnen trotzdem einen mit steigendem Unternehmenswert allerdings stufenartig sinkenden Steuernachlass gewährt, hat die SPD eine Verschonungsobergrenze in Höhe von 90 Mio. Euro durchgesetzt. Von einer Flat-tax-Lösung, wie sie manchen Bündnisgrünen vorschwebte (15 Prozent Erbschaft- bzw. Schenkungsteuer auf jegliches Vermögen), würden tendenziell ebenfalls die Reichsten profitieren.

Mein erschreckendes Fazit: Das neue Erbschaftsteuerrecht führt dazu, dass sich Firmenerben gegenüber dem Finanzamt armrechnen, von der eigentlich gebotenen Steuerzahlung befreien lassen und auf diese Weise ohne Mühen noch reicher werden können. Man kann daher mit Blick auf die Verschonungsregeln für Betriebsvermögen ohne Übertreibung von (Armut und) Reichtum per Gesetz sprechen. Wenn die Firmenerben das neue Gesetz zum eigenen Nutzen für sich anzuwenden wissen – wofür ein Heer von Steuerberatern sorgen dürfte –, bietet es mehr Steuerschlupflöcher, die Scheunentoren gleichen, als das frühere, vom Bundesverfassungsgericht für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar erklärte Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz.

Folgewirkungen der jüngsten Erbschaftsteuerreform für die Sozialstruktur und die politische Kultur

Mit der Erbschaftsteuer lässt sich die durch den Neoliberalismus forcierte Polarisierung der Sozialstruktur im Finanzmarktkapitalismus nicht umkehren oder aufhalten, sie könnte jedoch als Stoppsignal für Spaltungstendenzen fungieren und verhindern helfen, dass sich die Kluft zwischen Arm und Reich weiter vertieft. Erbschaftsteuerreformen bieten also durchaus Möglichkeiten zur politischen Beeinflussung der Vermögensverteilung, die sich in Deutschland zuletzt jener der USA angenähert hat, obwohl die Bundesrepublik im öffentlichen Diskurs seit dem „Wirtschaftswunder“ der 1950er- und 1960er-Jahre als „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ (Helmut Schelsky) ohne übermäßigen Reichtum und nennenswerte Armut gilt. Während der Gini-Koeffizient (ein Ungleichheitsmaß, das bei 0 eine völlige Gleichverteilung und bei 100 signalisiert, dass einer Person sämtliches Vermögen gehört) in den USA bei 80 liegt, erreicht er hierzulande mittlerweile auch schon 76.

Die von CDU, CSU, SPD und FDP in unterschiedlichen Koalitionsregierungen gesetzlich fixierten Verschonungsregeln für Firmenerben haben nicht bloß zur Vermögenskonzentration in wenigen Händen beigetragen, sondern Deutschland auch zu einer „patrimonialen Gesellschaft“ gemacht. So nennt der französische Ökonom Thomas Piketty in seinem Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ ein Land, in dem die Höhe des „väterlichen Erbes“ darüber entscheidet, wer arm und wer reich ist.

Seit die erste Große Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel den Unternehmerfamilien ermöglichte, Betriebsvermögen ab 1. Januar 2009 steuerfrei zu vererben oder zu verschenken, sind den teilweise hoch verschuldeten Bundesländern über 50 Mrd. Euro an Erbschaft- bzw. Schenkungsteuer entgangen, weil die von der anschließenden CDU/CSU/FDP-Koalition noch einmal gelockerten Verschonungsregeln (meistenteils aus Gründen der Steuervermeidung lange vor dem Tod des Erblassers) in Anspruch genommen wurden. Laut Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) ging der größte Teil der steuerbefreiten Unternehmensübertragungen – meist im Zuge einer Schenkung, also zu Lebzeiten des Firmenbesitzers – an Kinder unter 14 Jahren, denen auf diesem Weg allein zwischen 2011 und 2014 Unternehmenswerte in Höhe von etwa 40 Mrd. Euro zuflossen. Die 92 Kinder mit Erwerben in Höhe von 20 Mio. Euro oder mehr erhielten fast 30 Mrd. Euro, was im Durchschnitt 323 Mio. Euro pro Kind entspricht. Jenen armen Kindern und Jugendlichen, die Sozialgeld („Hartz IV“) beziehen oder auf der Straße leben, stehen also unvorstellbar reiche Kinder gegenüber, von denen fast nie die Rede ist.

Künftig wird sich die Kluft zwischen Arm und Reich vertiefen. Denn jährlich werden hierzulande Vermögenswerte zwischen 200 und 300 Mrd. Euro vererbt. Auch der demografische Wandel trägt seinen Teil dazu bei, dass sich riesige (Betriebs-)Vermögen in wenigen Händen konzentrieren. Wenn die Unternehmerfamilien in Zukunft wegen des allenthalben prognostizierten Geburtenrückgangs tendenziell schrumpfen, wächst automatisch der ihren wenigen Nachkommen oft steuerfrei zufallende Reichtum.

Der soziale Ausgleich, die Solidarität mit Benachteiligten und die Verteilungsgerechtigkeit bleiben auf der Strecke, wenn Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung das Ziel ist. „Bereichert euch und gebt das erworbene Produktivvermögen – Kern des privaten Reichtums im Kapitalismus – ungeschmälert durch die staatliche Erbschaftsteuer an eure Nachkommen weiter!“ ist kein sinnvolles Motto für Unternehmer, sondern zerreißt die Gesellschaft.

Sucht man nach Gründen für die „Politikverdrossenheit“ bzw. die „Wahlmüdigkeit“ von immer mehr Bürger(inne)n – hier liegt einer: Nicht bloß eine reine Klientelpartei wie die FDP, sondern auch beide „Volksparteien“ haben mit ihren Erbschaftsteuerreformen eine Regierungspolitik für das reichste Prozent, mehr noch für das reichste Promille der Bevölkerung gemacht. Dass die rechtspopulistische „Alternative für Deutschland“ (AfD), der aufgrund ihrer jüngsten Wahlerfolge bei Landtagswahlen in Ost- und Westdeutschland übermäßig viel Medienaufmerksamkeit zuteil wird, daran nichts ändern würde, wenn sie im September 2017 auch in den Bundestag einzöge, zeigt ein Blick ins Parteiprogramm, aus dem hervorgeht, dass sie die Erbschaftsteuer genauso wie die seit 1997 nicht mehr erhobene, aber nach wie vor im Grundgesetz stehende Vermögensteuer abschaffen möchte.

CDU, CSU und SPD haben die historische Chance, für mehr Verteilungsgerechtigkeit zu sorgen, erneut vertan und durch ihre Gesetzesnovelle sogar einen Beitrag zur Vertiefung der Kluft zwischen Arm und Reich geleistet. Wer die Wohlhabenden, Reichen und Hyperreichen aus der staatsbürgerlichen Verantwortung für die Lösung sozialer Probleme entlässt, statt sie durch progressive Steuern stärker zur Finanzierung des Gemeinwesens heranzuziehen, kann nichts für die Armen tun. Da die Unionsparteien, die SPD und zuletzt auch ein maßgeblicher Teil der Bündnisgrünen die reichsten Kinder im Land wiederholt mit Steuergeschenken in Milliardenhöhe bedachten, blieben für über zwei Millionen arme Kinder und Jugendliche am Ende nicht mehr genug Haushaltsmittel übrig. So hat die Große Koalition erst kürzlich beschlossen, den Bundeszuschuss für die Kinder- und Jugendhilfe zu kürzen sowie den Allerjüngsten, nämlich Säuglingen und Kleinkindern im Vorschulalter, die von Sozialhilfe bzw. Sozialgeld leben, im kommenden Jahr keine Anhebung des bisherigen Regelbedarfs in Höhe von 237 Euro pro Monat zu gewähren. Man kann nämlich entweder Reichtumsförderung im großen Stil betreiben oder die (Kinder-)Armut wirksam bekämpfen – beides zugleich geht nicht. Schließlich steht noblen Gesten christlicher Barmherzigkeit oder mitmenschlicher Solidarität die „Schuldenbremse“ im Grundgesetz und der erklärte Willen der Regierungsparteien, weder die „schwarze Null“ als besonderes Markenzeichen von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble noch das Merkel-Dogma „Keine Steuererhöhung, und zwar für niemanden, wie vermögend er auch sei!“ zu gefährden, im Wege …


[«*] Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrte von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. In der vergangenen Woche ist sein Buch „Armut“ erschienen, das Einführungscharakter hat, und heute erscheint die aktualisierte Neuauflage von „Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird“.