Rezension: „Hochschule im historischen Prozess“ von Jens Wernicke

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Es kann mittlerweile kein Zweifel mehr daran bestehen, dass wir am Beginn einer epochalen Umstrukturierung des deutschen Hochschulsystems stehen, die einige Kommentatoren mit der Zäsur der von Humboldt inspirierten preußischen Universitätsreform (1810) vergleichen. Die treibenden Kräfte dieses Umbaus bringen selbst zum Ausdruck, dass es nicht um die Reform einer überlieferten Struktur ginge, sondern um eine gänzliche Neukonstruktion der Hochschulen in ihren tragenden Säulen. Als Leitbild wurde dafür aus dem angelsächsischen Raum der Terminus der »unternehmerischen Hochschule« importiert.
Die vorliegende Veröffentlichung ist hervorragend dazu geeignet, das Verständnis dieses Umbaus und die mit ihm verbundenen politischen Widersprüche und Auseinandersetzungen zu fördern und begrifflich zu schärfen. Dieses Vorwort von Torsten Bultmann ist zugleich eine gute Rezension.

Jens Wernicke hat eine überzeugende historisch-materialistische Tiefenanalyse des Wandels der deutschen Hochschulstrukturen und der durch die jeweiligen historischen Formen spezifisch geprägten hochschulpolitischen Konflikte während der letzten 200 Jahre vorgelegt. Der Autor begreift das Wesen dieser Konflikte als eine soziale (Klassen-) Auseinandersetzung um gesellschaftliche Positionen, wobei die Form, in welcher dieser Kampf ausgetragen wird, zugleich seinen gesellschaftlichen Inhalt verhüllt. Denn eine zentrale Funktion des öffentlichen Bildungssystems mit den Hochschulen an seiner Spitze ist es, soziale Ungleichheit zu legitimieren, indem diese mit Bildungsunterschieden begründet und jene wiederum auf amtlich zertifizierte Unterschiede an Begabung und Eignung zurückgeführt werden. Dies ist zugleich ein Prozess der Individualisierung und Naturalisierung, welcher die sozialen Strukturen, über die sich gesellschaftliche Ungleichheit reproduziert, entpolitisiert. Hochschulen haben in diesem Prozess seit jeher eine spezifische Funktion für die (Selbst-)Be­gründung einer sozialen und kulturellen »Elite«, das heißt zugleich für die nachträglich Legitimation eines hierarchisch gegliederten Schulsystems sowie die Prägung des jeweils gesellschaftlich anerkannten Bildungs- und Wissenskanons.

Vor diesem Hintergrund hat sich der Autor – mit Erfolg – dafür entschieden, die Schlüsselkategorien der soziologischen Ungleichheitsforschung Pierre Bourdieus systematisch auf seinen Gegenstand – Hochschulstrukturen und Hochschulpolitik – anzuwenden. Hochschulen werden verstanden als spezifische, d.h. mit eigenen Regeln funktionierende Felder der symbolischen Begründung und Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen und damit der Reproduktion von Klassenmacht.

Dieser Machtkampf wiederum ist jeweils durch spezifische Hochschulstrukturen geprägt, die von längerer historischer Stabilität sind und vom Autor als Ausdruck unterschiedlicher Entwicklungs- und Reifestadien der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft analysiert werden. In seiner Periodisierung schließt sich Jens Wernicke an die Dissertation von Andreas Keller (2000) – erschienen unter dem Titel Hochschulreform und Hochschulrevolte – an. Keller hatte ausführlich begründet, dass es in der jüngeren deutschen Geschichte im wesentlichen zwei relevante Hochschulmodelle gab, die ungeachtet aller Unterschiede zwischen einzelnen Einrichtungen eine länger währende institutionelle Stabilität garantierten – am längsten davon bekanntermaßen das aus der Preußischen Universitätsreform (1810) hervorgegangene Humboldtsche Modell, welches sich als kulturstaatlich verfasste Ordinarienuniversität etablierte. Dieses Modell beruhte prinzipiell auf einer wenig formell geregelten patriarchalischen Kooperation und Elitenkooptation der Institutsleiter. Es entsprach einer Wissenschaft auf geringem Vergesellschaftungsniveau, welche vor allem ihrer eigenen Reproduktion und der Ausbildung höherer Staatsbeamter sowie weniger freier Berufe (Ärzte, Anwälte) diente. Daher ist es erklärlich, dass dieser Typus, der in seinen institutionellen und habituellen Grundmustern bis in die 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts Bestand hatte, insbesondere vermittels des politischen Druckes aus zweierlei Richtungen abgelöst wurde, welche nur partiell etwas gemeinsam hatten: dem Demokratisierungsdruck der 68er-Studentenbewegung und des damaligen akademischen Mittelbaus sowie dem wissenschaftlich-technologischen Modernisierungsbedarf der wirtschaftlichen und staatlichen Eliten. Das Ergebnis war der neue Typus der »Gruppenuniversität«. Diese lässt sich am besten verstehen als Ausdruck einer staatlich-bürokratisch gelenkten Praxis wissenschaftsbasierter kapitalistischer Modernisierung und Wachstumspolitik, die in der damaligen Periode mit dem rasanten quantitativen Ausbau – und folglich der sozialen Öffnung – der Hochschulen verbunden war. Die »Gruppenuniversität« brachte auch spezifische symbolisch-politische Konfliktmuster und Rituale mit sich, die wie in der vorliegenden Arbeit gesondert interpretiert werden müssen. Sie wird heute nun durch ein neuartiges »drittes« Modell abgelöst, eine Transformation, die sich unter dem Leitbild der »unternehmerischen Hochschule« zweifelsfrei unter neoliberaler Hegemonie vollzieht, über deren endgültige politische Ausprägung allerdings politisch noch längst nicht entschieden ist.

Wenn sich auf diese Weise historische Typologien von Hochschulentwicklung voneinander abgrenzen lassen, so gibt es zwischen ihnen jedoch ausdrücklich auch Kontinuitätslinien und Übergänge. Diese lassen sich anhand der politischen Auseinandersetzungen um die jeweiligen gesellschaftlichen Leitbilder der Wissenschaftsentwicklung gut nachzeichnen. Wenn etwa aktuell neoliberale Politik den Hochschulen mehr »Autonomie« verspricht, greift sie damit dem Anschein nach auf einen Terminus zurück, der seit der Humboldtschen Reform die deutsche Hochschultradition mit dem Anspruch einer »Autonomie der Wissenschaft« geprägt hat. Diese Konstituierung einer institutionellen Sphäre autonomer Vernunft war zunächst die Voraussetzung, Wissenschaft von religiösen und feudalen ideologischen Fesseln zu befreien. Dies war wiederum die Bedingung, um zu einem späteren historischen Zeitpunkt auf exakter Wissenschaft beruhende bürgerliche Produktivitätsentwicklung zu ermöglichen. Zugleich wurde so die Entwicklung der Wissenschaft von ihrer Anwendung in der Gesellschaft – zu Humboldts Zeiten: im Staatsdienst – abgespalten und einem ideologisierten Zwecksfreiheitspostulat apolitischer Wissenschaft in der Ordinarienuniversität der Boden bereitet, welches gerade ihre Indienstnahme durch die staatlichen und wirtschaftlichen Eliten verhüllte. Unter dem Terminus »gesellschaftliche Verantwortung« versuchte dann die 68er-Bewegung, diese Auseinandersetzung um die gesellschaftliche Funktion der Wissenschaft in die Hochschulen hinein zu holen. Die radikaldemokratischen Hochschulreformer griffen dazu bewusst auf das Autonomiepostulat zurück, welches sie als Unabhängigkeit von gesellschaftlichen Partikular- und Machtinteressen interpretierten und mit dem Gedanken der demokratischen Selbstverwaltung der Hochschulen verbanden. Indirekt bezogen sie sich damit auch auf ein universalwissenschaftliches gesellschaftliches Emanzipationskonzept, welches bereits im Humboldtschen Autonomiebegriff zumindest unterschwellig als Utopie oder als uneingelöstes Versprechen wirkte. Wenn heute die neoliberalen Reformer normativ und politisch unwidersprochen mit dem Autonomiebegriff hantieren können – worunter sie ausschließlich die Unabhängigkeit autokratisch agierender Hochschulmanager von der Hochschule ebenso wie von umfassenden gesellschaftlichen Interessen jenseits des Marktes verstehen -, dann bringt dies auch zum Ausdruck, dass die Gegner und Leidtragenden dieser Politik, bei denen es sich um die Mehrheit der Hochschulangehörigen handeln dürfte, derzeit noch über kein tragfähiges Konzept eine Re-Demokratisierung der Wissenschaft für die »nach-industrielle« – das heißt auch: zunehmend wissenschaftsbasierte – Gesellschaft verfügen. Das muss jedoch keinesfalls so bleiben.

Für diese offene – und zum Teil noch zu eröffnende – Debatte liefert die Arbeit von Jens Wernicke eine hervorragende historisch-kritische Grundlage. Der Autor betont an mehreren Stellen, dass die durch gesellschaftliche Machtverhältnisse geprägten historischen Formen von Hochschule und die durch diese bedingten symbolischen Konfliktmuster innerhalb derselben einen »Möglichkeitsraum« eröffnen. Das heißt erstens, dass Hochschulen ein relativ eigenständiges Feld sozialer Auseinandersetzungen und damit keineswegs nur ein nachgeordneter Reflex außer-wissenschaftlicher Machtverhältnisse sind. Das heißt zweitens, dass die Vorlaufsformen und Ergebnisse dieser Konflikte keineswegs vollständig vorherbestimmt sind, so dass etwa die politischen Akteure nur wie Hamster im Rad vorgeprägte Bewegungen machen könnten. Gerade die Reformen in der Folge von 1968 zeigen, dass autonome politische Intervention auch Ergebnisse befördern kann, die weit über die Logik einer »offiziell gemeinten« kapitalistischen Modernisierung hinausgehen – selbst wenn diese Ergebnisse dann später in das Rollback einer staatlich-bürokratisch kontrollierten »halbierten Demokratisierung« (Wolf-Dieter Narr) mündeten.

Die »unternehmerische Hochschule« ist teilweise gesetzlich auf den Weg gebracht, ist aber noch längst nicht in eine sich selbst tragende Struktur und Wissenschaftskultur gemündet. Das heißt, die Konflikte um ihre Um- und Durchsetzung haben gerade erst begonnen. Sie dürften mit Widersprüchen und Interessenpolarisierungen verbunden sein, von denen wir teilweise wohl noch nicht einmal eine Ahnung haben. Eine politisierende Intervention in diese Widersprüche lohnt sich daher auf jedem Fall.

Der Autor, Torsten Bultmann, ist Geschäftsführer des Bundes demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi)

Jens Wernicke, Hochschule im Historischen Prozess, AStA der Freien Universität Berlin, Hochschulpolitische Reihe Band 13, Berlin 2009

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