Neoconomy – die neoliberale Revolution der amerikanischen Wirtschaftspolitik

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

„Welchen ökonomischen Kurs die USA und mit ihr der Rest der Welt nach der Wiederwahl von US-Präsident George W. Bush (und seiner republikanischen Mehrheit nunmehr in beiden Häusern des Kongresses) zu erwarten haben, macht u.a. der STERN in dem Artikel „Die konservative Revolution“ deutlich, der in seiner heutigen Online-Ausgabe erschienen ist.“
So beginnt dieser Beitrag eines unserer aktiven Leser, eines Wirtschaftspraktikers mit gesamtwirtschaftlichem Durchblick, wie ich meine.

Der STERN-Artikel weist angesichts europäischer Sorgen vor einem Rechtsruck der künftigen US-Politik darauf hin, im Schatten der außenpolitischen Kontroversen über den Irak-Krieg sei im Bereich der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik vom „Rest der Welt übersehen (worden), dass Bushs Revolution schon längst marschiert: die Neoconomy“. Diese These wird jedenfalls von dem britischen Ökonomen und Wirtschaftsjournalisten Daniel Altman in seinem im Sommer publizierten Buch „Neoconomy. George Bush’s Revolutonary Gamble with Americas’s Future“ vertreten, auf das übrigens auch der SPIEGEL schon in einer Septemberausgabe bereits aufmerksam gemacht hatte („George W. Bushs heimliche Steuerrevolution“) – und im Ergebnis kaum widersprach.

Kernthese des Buchs von Altman, der die US-Wirtschaftspolitik der letzten Jahre intensiv beobachtet hat, ist die These, dass die Bush-Administration hinter der Fassade einer teilweise eher pragmatisch-keynesianisch anmutenden (und kurzfristig durch die Unterstützung der Geldpolitik sogar z.T. erfolgreichen) Fiskalpolitik weitaus radikalere und sehr riskante langfristige Ziele verfolgt, nämlich eine Art Steuerrevolution in Verbindung mit einer Minimierung des Sozialstaates. Diese Revolution werde allerdings nicht im fernsehen übertragen und ihre Ziele verschleiert. Angestrebt werde das „Ende der Steuern, wie wir sie kennen“. Langfristig sollen die Besteuerung von Kapital in jeglicher Form, also Steuern auf Zinsen, Dividenden, sonstige Kapitaleinkünfte und Erbschaften sowie Unternehmenssteuern abgeschafft werden. Begrenzte staatliche Abgaben würden dann nur noch auf Arbeit und Konsum erhoben werden. Das Resultat nennt Altman „Neoconomy“, eine neue oder vielmehr uralte Free Market Economy fast ohne Steuern, aber auch ohne staatliche Infrastruktur- oder Forschungspolitik, ohne soziales Netz. Krankenversicherung und Altersvorsorge würden weitgehend privatisiert. Reiche und Arme würden in verschiedenen finanziellen Welten leben. Eine glückliche Minderheit, die ihr Einkommen aus Zinsen und Aktiendividenden bezieht, würde keinerlei einkommensbezogene Steuern mehr bezahlen und sozusagen als „Free Rider“ von staatlichen (Rest-)Leistungen profitieren können, die aus dem Steueraufkommen der Arbeitenden und Konsumenten aufgebracht werden.

Mit den bisherigen, zunächst befristeten, aber im Umfang und im Tempo schon einzigartigen Steuersenkungsmaßnahmen („Economic Growth Act“ etc.), die insbesondere die Spitzenverdiener bevorteilt haben, und einer Reihe zusätzlicher „tax cuts“ (wie die drastische Verringerung der Dividendensteuer) habe die Bush-Administration in der ersten Amtszeit unter dem Vorwand, die Rezession und die ökonomische Verunsicherung durch den Terrorismus zu bekämpfen, nur einen Teil der Wegstrecke zur Neoconomy zurückgelegt. Weitere und weitreichendere Schritte seien bei Wiederwahl zu erwarten. Bush hatte schon im Wahlkampf angekündigt und nun sofort bekräftigt, die Steuersenkungen „permanent“ machen zu wollen sowie die Pflichbeiträge zur Altersvosrorge zu privatisieren. Zu seinen erklärten Zielen gehört auch, möglichst bald die in Amerika noch existierende Vermögenssteuer („estate tax“) zu eliminieren. Alle diese finanzpolitischen Schritte sind nach Altman Teil einer langfristigen Strategie. Die durch die Steuerausfälle bereits entstandenen enormen Haushaltsdefizite würden zudem bewusst in Kauf genommen, um später auf der Ausgabenseite und d.h. vor allem bei den staatlichen Sozialprogrammen drastisch sparen und den Staatseinfluss auf die Wirtschaft zurückdrängen „zu müssen“.

Dahinter stehe die Gedankenwelt des Harvard-Professors Martin Feldstein, einst schon Wirtschaftsberater von Präsident Reagan, ökonomischer Mentor der Republikaner, jüngst auch als Nachfolger von Zentralbank-Präsident Greenspan im Gespräch und intellektueller Kopf der “Neoconomists”, den Autor Altman selbst als Lehrer erlebt hat. Ähnlich wie schon Milton Friedman, der Papst der Neoliberalen, seien Feldstein und einige seiner Schüler, die der Bush-Administration als wirtschaftspolitische Kader dienten, von der fixen Idee besessen, das Hauptproblem für die Innovationsdynamik und das langfristige Wachstum der US-Wirtschaft liege in der privaten Kapitalbildung wäre. Deshalb müssten möglichst alle Steuern und Regulierungen, die der privaten Kapitalbildung im Wege stünden, vermindert und schließlich abgeschafft werden. Das wäre so etwas wie eine historische Rückkehr zum Kapitalismus pur.

Ob der ja auch sonst so gläubige Bush und die Spitzen seiner Republikaner tatsächlich fest von dieser Ideologie überzeugt sind oder Altman übertreibt und sie vorwiegend darum bemüht waren (und sein werden), die Interessen ihrer Klientel aus dem Kreis der Finanzelite, des Big Business und der einflussreichen parteinahen Antisteuer-Lobby zu begünstigen, kann dahin gestellt bleiben. Die Wirkungen bleiben die gleichen. Autor Altman lässt sogar offen, ob die Neoconomy als Wachstumsprogramm eventuell zeitweise funktionieren könnte, auch wenn er viele grundsätzliche Zweifel an ihren simplizistischen ökonomischen Hypothesen äußert. Gleichwohl würde sich ihre Umsetzung nach seiner Meinung auf Dauer auswachsen zu „America’s nightmare“ wegen der wirtschaftlichen Paralysierung des Staates und der „nasty side effects“ vor allem im sozialen Bereich. Zu erwarten wäre im jeden Fall eine extreme Ungleichverteilung und eine neuer kapitalistischer Feudalismus, der selbst in Amerika politisch nicht auf Dauer zu halten wäre.

Wie der STERN zutreffend anmerkt, können sich die USA eine solche Wirtschaftspolitik eigentlich schon jetzt nicht mehr leisten. Weder die Probleme des eklatanten Handelsbilanzdefizits (das zugleich so viel Kapitalimport in die USA nötig macht) noch des immer größeren Budgetdefizits können so gelöst werden, inzwischen wächst auch in der amerikanischen Wirtschaft das Jobdefizit und die anhaltende Dollarschwäche signalisiert ein immenses Risiko. Möglicherweise hat die Wiederwahl von Bush aber wenigstens ein Gutes. Wir werden wohl schon bald klar sehen können, was diese neoliberale Ideologie bedeutet, wer sie trägt und wie sie sich selbst diskreditiert. Die Frage ist bloß, wann das soweit sein wird und welche Opfer es bis dahin gekostet hat – für Amerika und für den Rest der Welt.