OPCW-Bericht: Die Macht der Agenturen und die Kultur der Ungenauigkeit

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Der jüngste OPCW-Bericht zum mutmaßlichen Giftgaseinsatz im syrischen Duma wird von vielen Medien falsch dargestellt. Wichtigen Anteil an der großflächigen Fehlinformation haben die Nachrichtenagenturen und eine in vielen Medien gepflegte Kultur der vorsätzlichen Ungenauigkeit – gepaart mit der Verweigerung, Wissenschaftler zu befragen. In den vergangenen Tagen haben sich zahlreiche Medien dadurch erneut als Vermittler zwischen Original-Quelle und Konsument disqualifiziert – die Bürger müssen diese Quellen zukünftig selber prüfen. Von Tobias Riegel.

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Erst kürzlich haben sich die NachDenkSeiten in diesem Artikel mit dem manipulativen Potenzial der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) befasst. Zu Verzerrungen des jüngsten OPCW-Berichts zum mutmaßlichen Giftgaseinsatz im syrischen Duma durch viele deutsche Medien wurde aktuell in Alternativ-Medien bereits berichtet, etwa hier und hier. Zur Erinnerung: Einerseits diente der angebliche Giftgaseinsatz in Duma zur Rechtfertigung US-geführter Raketenangriffe auf Syrien im April. Andererseits wurde kürzlich mit der Änderung der Ausrichtung der OPCW die mutmaßliche Grundlage für künftige Kriegseinsätze aufgrund von öffentlichen „Urteilen“ der OPCW gelegt.

Die Vorgänge der letzten Tage haben nicht die OPCW, wohl aber die den OPCW-Bericht verzerrenden Medien in Misskredit gebracht. So wurde, ohne dass der OPCW-Bericht dafür einen Anlass geliefert hätte, von vielen Medien getitelt, die OPCW hätte „Spuren“ oder gar „den Einsatz“ von Chlorgas in Duma nachgewiesen, etwa von der ARD, vom „Spiegel“, vom ZDF, vom „Stern“ und zahlreichen anderen Medien.

OPCW-Bericht wird falsch interpretiert – Was sagen Chemiker?

Alle diese Berichte sind nicht korrekt, der OPCW-Bericht vermeldet an keiner Stelle, dass in Duma „Spuren von Chlorgas“ oder der „Einsatz von Chlorgas“ festgestellt worden sei. Der OPCW-Bericht erwähnt, nachdem er Nervengifte wie Sarin ausgeschlossen hat, das Vorkommen von „chlorierten organischen Chemikalien“ (‚chlorinated organic chemicals’).

Da die erwähnten großen Medien diesen Service nicht leisten wollen, haben die NachDenkSeiten verschiedene Chemiker, die lieber im Hintergrund verbleiben möchten, um Rat gefragt. Sie bewerteten den folgenden Satz als zutreffend:

„Das Auffinden von im OPCW-Bericht genannten ‘chlorierten organischen Chemikalien‘ (‚chlorinated organic chemicals’) ist kein Beweis für den Einsatz von Chlorgas oder einer anderen militärischen Nutzung von Chlor. Diese chlorierten organischen Verbindungen treten zu zahlreichen Gelegenheiten im Alltag auf – etwa bei der Verbrennung bestimmter Plastik-Arten, in Lösungsmitteln oder auf mit gechlortem Wasser gereinigten Gegenständen.“

Mit anderen Worten: Die OPCW-Erklärung von den „chlorinated organic Chemicals“ sagt nichts über die Existenz von Chlorgas oder gar dessen militärischen Einsatz aus. Es ist möglich, dass der ausstehende abschließende OPCW-Bericht zu spezifischeren Ergebnissen kommt, die dann neu bewertet werden müssen. Der vorliegende vorläufige Bericht aber kann nicht so ausgelegt werden, wie es aktuell viele Medien tun.

Die verzerrenden Berichte zu Duma und zum OPCW-Bericht zeigen zudem erneut: Medienkonsumenten müssen die Originalquellen selber studieren – die großen Medien haben sich als Vermittler von Texten wie dem OPCW-Bericht vom 6. Juli erneut selber disqualifiziert. Viele Original-Quellen sind im Internet verfügbar. Will man Manipulationen möglichst minimieren, sollten Bürger mit Medienkompetenz die Mühe nicht mehr scheuen, sie zu suchen und zu studieren.

Die Wurzel der Desinformation: Nachrichtenagenturen

Vor allem das manipulative Potenzial von Nachrichtenagenturen wurde in den vergangenen Tagen erneut deutlich – nachdem es kürzlich bereits im Zusammenhang mit der Skripal-Affäre aufgeschienen war, wie die NachDenkSeiten berichteten.

Denn die wirkungsvollsten Verbreiter der falschen Nachricht, der OPCW-Bericht würde einen Einsatz von Chlorgas in Duma nahelegen, waren die Nachrichtenagenturen dpa für den deutschsprachigen und Reuters für den englischsprachigen Raum. Doch während Reuters diesen Fehler immerhin mittlerweile korrigiert hat, beharrt dpa bis heute auf ihren kaum vertretbaren Äußerungen. So schrieb die Agentur am 6. Juli:

„Die Ermittler der Organisation für ein Verbot von Chemiewaffen (OPCW) haben im syrischen Duma Spuren von Chlorgas entdeckt. Das geht aus einem Zwischenbericht der Experten hervor, wie die OPCW am Freitag in Den Haag mitteilte. Bei einem Angriff im April in Duma waren rund 40 Menschen getötet und Dutzende verletzt worden.“

Am 8. Juli setzte dpa noch eins drauf:

“Nach einem Zwischenbericht der Organisation für ein Verbot von Chemiewaffen (OPCW) wurde bei den Kämpfen dort auch Chlorgas eingesetzt. Die Ermittler hätten in der Stadt Duma Spuren des Gases entdeckt. Bei einem Angriff im April waren in Duma rund 40 Menschen getötet und Dutzende verletzt worden.“

Beide Absätze stimmen nicht mit der Wahrheit überein. Wie gesagt, erwähnt der Bericht keine „Spuren von Chlorgas“ und auch keinen „Einsatz von Chlorgas“.

Auf Nachfragen der NachDenkSeiten, auf welche Quellen sich die Berichte beziehen, sendete dpa einen Link zu einer Pressemitteilung der OPCW, die jedoch die Aussagen der dpa ebensowenig stützt wie der ausführliche OPCW-Bericht.

Chemie-Experten würden die Sphäre des Ungefähren bedrohen

Weitere Nachfragen an die dpa wurden mit Schweigen quittiert. Ebenso fruchtlos blieben Anfragen der NachDenkSeiten bei drei Berliner Universitäten nach der Vermittlung eines Chemie-Experten, um über das Thema zu sprechen. Ein Wort zu den „Experten“: Noch zu den schwammigsten Themen („Terror“) werden diese Charaktere von den Medien eingeführt, um Eindeutigkeit zu suggerieren. Nun gibt es mit dem Thema Chemie ein Feld, auf dem naturwissenschaftliche Expertise tatsächlich zu eindeutigen Antworten führen würde. Ausgerechnet bei diesem Thema verzichten ARD, Spiegel und viele andere Medien aber darauf, wissenschaftlichen Rat hinzuzuziehen – und belassen so die Vorgänge im Unklaren.

Das ist nachvollziehbar, denn viele Medien-Kampagnen der letzten Jahre funktionieren nur in einer Sphäre des Ungefähren. Darum ist der aktuelle Umgang mit dem OPCW-Bericht nicht zuletzt Symptom dieser Kultur der vorsätzlichen Ungenauigkeit – einer gewollten Ungenauigkeit, die das Feld für Manipulationen öffnet.