20 Jahre Camp David: Der Friedensprozess, der keiner war. Teil 2

20 Jahre Camp David: Der Friedensprozess, der keiner war. Teil 2

20 Jahre Camp David: Der Friedensprozess, der keiner war. Teil 2

Ein Artikel von Fabian Goldmann

Ist die 1994 etablierte „Palästinensische Autonomiebehörde“ nicht der lebendige Beweis dafür, dass Palästinenser und Israelis auf dem richtigen Weg waren? Nein, sagt Fabian Goldmann. Denn mit „Regierungsfunktionen“ und „Quasistaatlichkeit“ hätte diese Autonomiebehörde kaum etwas zu tun – sie sei stattdessen Teil der israelischen Besatzung geworden. Teil 1 des Textes findet sich hier. Von Fabian Goldmann.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Der 4. Mai 1994 war ein historischer Tag für Israelis und Palästinenser. Erstmalig seit Beginn der israelischen Besatzung im Jahr 1967 verpflichtete sich die israelische Regierung, Teile ihrer Armee aus zwei palästinensischen Städten abzuziehen. Das dementsprechend benannte „Gaza-Jericho-Abkommen“ legte zudem fest, wer dort von nun an die Kontrolle übernehmen sollte: eine neu geschaffene „Palästinensische Autonomiebehörde“ (PA). Eine „quasistaatliche Einrichtung, die seit 1994 nominell Regierungsfunktionen“ ausübt. So heißt es im dazugehörigen Wikipedia-Eintrag.

Ist diese Behörde nicht der lebendige Beweis dafür, dass Palästinenser und Israelis auf dem richtigen Weg waren – zumal der Machtbereich der PA in den folgenden Jahren noch auf weitere Städte ausgeweitet wurde? Nein. Denn mit „Regierungsfunktionen“ und „Quasistaatlichkeit“ hat die PA in etwa soviel zu tun wie die begrenzte Gefangenenselbstorganisation in manchen überfüllten Gefängnissen mit der Leitung ebendieser.

Wie Israel seine Besatzung auf die Palästinensische Autonomiebehörde auslagerte

Institutionen wie das palästinensische Präsidentenamt und der Palästinensische Legislativrat, die Aufstellung eigener palästinensischer Sicherheitskräfte, das Abhalten von Staatsempfängen und die Herausgabe von eigenen Briefmarken bis hin zum Bau eines (bald wieder zerstörten) internationalen Flughafens waren das Ergebnis mühevoller israelisch-palästinensischer Verhandlungsrunden. Doch der „Oslo-Friedensprozess“ sorgte auch dafür, dass hinter der Fassade der neu geschaffenen Insignien palästinensischer Souveränität weiterhin israelische Politiker über Leben und Sterben in den palästinensischen Gebieten entschieden.

Darstellungen der palästinensischen Selbstverwaltung klingen häufig wie folgt: Im Zuge des „Oslo-Friedensprozesses“ wurden die palästinensischen Gebiete in drei Zonen eingeteilt. Zone A (etwa 18% des Landes inkl. der meisten größeren Städte) stand unter alleiniger Kontrolle der Palästinensischen Autonomiebehörde. In Zone B (20%) übernahm die PA die Zivilverwaltung, während Israel weiterhin die Sicherheitsverwaltung inne hielt. In Zone C (62%) übte Israel die alleinige Kontrolle aus.

Solche Darstellungen führen gleich mehrfach in die Irre: Denn zum einen bestand diese Aufteilung häufig nur auf dem Papier. Bis heute nimmt die israelische Armee für sich in Anspruch, zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort in den palästinensischen Gebieten präsent sein zu können. Wichtiger noch: Wirkliche palästinensische Autonomie gibt es in keiner der Zonen. Dafür gesorgt haben die Bestimmungen des israelisch-palästinensischen „Friedensprozesses“.

Jeder Bereich palästinensischer Politik ist von israelischer Zustimmung abhängig

Die Bestimmungen des „Oslo-Friedensprozesses“ sorgten nicht nur für den Aufbau unzähliger palästinensischer Institutionen, sie sicherten auch, dass diese im Zweifel machtlos blieben. Ganze Politikbereiche wie die Beziehungen zu anderen Ländern, die Kontrolle von Grenzen, Luftraum und Funkwellen oder der Export und Import von Waren blieben weitgehend der Zuständigkeit der PA entzogen. In hunderten Paragraphen setzten israelische Unterhändler zudem Bestimmungen durch, die für gewöhnlich Aufgabe staatlicher Regierungen und Parlamente sind: vom Umgang mit Nutztierinfektionen, über Exportquoten für Olivenöl bis hin zu Briefmarkenmotiven.

In Bereichen, in denen palästinensische Institutionen einen gewissen eigenen Entscheidungsspielraum zugestanden bekamen, sorgten wiederum neu eingerichtete Komitees dafür, dass letztlich doch jede palästinensische Entscheidung von israelischer Zustimmung abhängig blieb: Palästinensischer Legislativrat und Präsident können zwar Gesetze und Verordnungen erlassen, in Kraft treten diese aber nur, solange der israelische Beamte im „Legislation Subcommittee“ kein Veto erhebt. Palästinensische Behörden können zwar den Bau neuer Straßen planen und Abwassergebühren festlegen. Umgesetzt werden diese aber erst, wenn das „Joint Civil Affairs Coordination and Cooperation Committee“ keine israelischen Interessen verletzt sieht. Die Sicherheitskräfte der PA können auf den Straßen Palästinas den Verkehr regeln und Kriminelle verhaften – aber nur entlang der Vorgaben, die das „Joint Security Coordination and Cooperation Committee“ zuvor für sie erarbeitet hat.

Wie der „Friedensprozess“ einen brutalen Unterdrückungsapparat schuf

Die Sicherheitspolitik war es auch, die in den israelisch-palästinensischen Verhandlungen den größten Raum einnahm und die weitreichendsten Folgen für das Leben der Palästinenser in den besetzten Gebieten hatte. Während Israel sich das Recht vorbehielt, weiterhin zu jeder Zeit und an jedem Ort seine Armee einzusetzen, führte der „Oslo-Friedensprozess“ zur Errichtung eines gigantischen palästinensischen Sicherheitsapparates.

Dessen Aufgabe war es nicht, die Menschen in den besetzten Gebieten vor der Gewalt israelischer Soldaten oder Siedler zu schützen. Genau das ist palästinensischen Polizisten ebenso wie palästinensischen Richtern bis heute explizit verboten. Stattdessen diente die Aufstellung von mehreren zehntausend palästinensischen Sicherheitskräften vor allem den Interessen Israels. Palästinensische Sicherheitskräfte zerschlugen Milizen, die zuvor gegen die Besatzung gekämpft hatten und verhafteten Oppositionelle, die den Verhandlungen mit Israel kritisch gegenüberstanden. Gegen die Folgen der anhaltenden Besatzung taten sie nichts.

Die Folgen dieser Politik hat ein Bericht der NGO „Middle East Monitor“ festgehalten: 98 Prozent aller Palästinenser, die von palästinensischen Sicherheitskräften verhaftet werden, wird ein politisches oder sicherheitsrelevantes Vergehen vorgeworfen. 95 Prozent aller Inhaftierten in palästinensischen Gefängnissen werden Opfer von Folter. Dass dies kein unerwünschtes Nebenprodukt der Errichtung der PA, sondern deren Aufgabe war, formulierte Jitzhak Rabin 1994 wie folgt: „Die PA könnte sich um Gaza kümmern, ohne Probleme durch Rechtsmittel beim Obersten Gerichtshof, ohne Probleme durch [die israelische Menschenrechtsorganisation] B’Tselem und ohne Probleme aller Arten von blutenden Herzen, Müttern und Vätern.“

Statt zu einem Ende der Unterdrückung führten die israelisch-palästinensischen Verhandlungen dazu, dass neben der israelischen Armee noch ein zweiter Unterdrücker hinzukam. Statt einem Staat bekamen die Palästinenser mit der PA eine in jedem Bereich von Israel abhängige Verwaltungsbehörde. Statt Frieden bekam die palästinensische Bevölkerung in den „Friedensjahren“ von Oslo lediglich eine auf ihre eigene Führung ausgelagerte Besatzung.

Wie der „Friedensprozess“ eine korrupte palästinensische Clique an die Macht brachte

Bleibt die Frage: Warum machte die palästinensische Führung da mit? Antworten auf diese Frage gibt es viele. Sie reichen von der Unerfahrenheit palästinensischer Politiker, die quasi über Nacht von Kämpfern zu Unterhändlern und Diplomaten wurden, bis hin zum endlosen Strom an EU-Milliarden, der noch den größten Idealisten dazu gebracht hätte, die Rechte seines Volkes zu verkaufen. Wichtig ist aber auch: Es war nicht nur die palästinensische Führung, die beim „Friedensprozess“ mitmachte. Es war der „Friedensprozess“, der sich die nötige palästinensische Führung schuf.

Mit der „Palästinensischen Befreiungsorganisation“ PLO stand Israel zwar formell eine Organisation gegenüber, die einen großen Teil des politischen Spektrums der Palästinenser repräsentierte, aber die Verhandlungen führten lediglich eine kleine Gruppe um PLO-Chef Jassir Arafat. Diesem wiederum war es überhaupt erst durch den „Oslo-Friedensprozess“ (genauer: das Gaza-Jericho-Abkommen von 1994) erlaubt worden, nach Palästina zurückzukehren. Seit Beginn der israelischen Besatzung von 1967 hatte Arafat keinen einzigen Tag in Palästina verbracht und entsprechend wenig mit der Lebensrealität der dortigen Bevölkerung zu tun.

Große Teile der palästinensischen Bevölkerung wie auch der PLO haben Arafats Verhandlungen mit Israel nie unterstützt. Lokale Politiker, die tatsächlich das Leben unter Besatzung kannten und oft mehr Vertrauen in der Bevölkerung genossen, unterstützten zwar die Idee von Gesprächen mit Israel, wandten sich aber gegen die Zugeständnisse, zu denen Arafats Gruppe immer wieder bereit war. Politiker wie Marwan Barghuthi, der die erste Intifada von 1987 angeführt hatte und noch heute als populärster palästinensischer Politiker gilt, verschwanden hingegen mit Oslo von der politischen Bildfläche oder gleich ganz in den Gefängnissen von Israel und der PA. In den Augen der palästinensischen Bevölkerung wurde der „Oslo-Friedensprozess“ zunehmend zum Diktat Israels und einer kleinen, vom Volk entfremdeten palästinensischen Elite.

Der „Oslo-Friedensprozess“ führte nicht zu einem Machtgewinn für die Palästinenser, er führte zu einem Machtgewinn für Arafat. Neben seinem PLO-Vorsitz hatte er nach Unterzeichnung der ersten Abkommen bald schon den Vorsitz über die neu geschaffene PA, das palästinensische Parlament und das Innenministerium inne. Arafat befehligte nicht nur sämtliche Sicherheitskräfte, er kontrollierte auch alle Gelder der PA. Der palästinensische Gesetzgebungsprozess lag ebenfalls in seiner Hand: Von rund 500 palästinensischen Gesetzen und Dekreten, die zwischen 1993 und 2000 verabschiedet wurden, gingen lediglich 15 auf das Konto des palästinensischen Parlaments. Alle anderen waren von Arafat erlassen worden.

Auch finanziell lohnten sich die Verhandlungen für den PLO-Chef. In einer Prüfung stellte der Europäische Rechnungshof schon 1997 fest, dass Hunderte Millionen von Hilfsgeldern aus der EU, den USA und den Golfstaaten sowie Steuerzahlungen seiner eigenen Bevölkerung in Arafats schwarzen Kassen verschwunden waren. Die palästinensische Abgeordnete Rawya Shawa schätzte Arafats Privatvermögen am Ende des „Oslo-Friedensprozesses“ auf vier Milliarden Dollar. Statt einer souveränen und vom Volk legitimierten politischen Führung hatte der „Friedensprozess“ den Palästinensern lediglich eine machthungrige und korrupte Führungsclique gebracht.

Erst durch den „Friedensprozess“ wurde ein palästinensischer Staat unmöglich

Man könnte an dieser Stelle einwenden, dass all dies nur Geburtsschwierigkeiten einer politischen Selbstverwaltung waren, über deren finale Ausgestaltung noch gar nicht entschieden worden war. Schließlich hatten israelische und palästinensische Unterhändler einander in zahllosen Dokumenten versichert, dass erst zukünftige „Endstatusverhandlungen“ die Details eines Friedens im Nahen Osten festlegen sollten.

Doch als diese Verhandlungen nach mehreren Verschiebungen vom 11. bis 25. Juli im amerikanischen Camp David stattfanden, wurden die vermeintlichen Konstruktionsfehler palästinensischer Selbstverwaltung nicht behoben. So widersprüchlich die Aussagen und gegenseitigen Vorwürfe damals beteiligter Politiker und Unterhändler auch sind, in einem Punkt sind sie sich alle einig: Zu keinem Zeitpunkt ging es in Camp David um die Errichtung eines souveränen Staates Palästina.

Der Mythos, dass die Verhandlungen schließlich an der Sturheit Arafats scheiterten, konnte auch deshalb so gut gedeihen, weil die Verhandlungen keine Abschlussdokumente hinterlassen haben. Mehrere Leaks von zuvor unter Verschluss gehaltenen Präsentationen, Gesprächsprotokollen und Briefwechseln (v.a durch al-Jazeera und den Guardian, aber auch Haaretz ) haben diese Lücke glücklicherweise in den letzten Jahren geschlossen. Sie belegen: Das „großzügige Angebot“ des israelischen Ministerpräsidenten Ehud Barak hat es nie gegeben.

Statt eines Palästinas in 97 Prozent der Westbank und des Gazastreifens, wie Medien damals berichteten, umfasste das israelische Angebot vier palästinensische Kantone, die durch israelisch kontrollierte Straßen und Absperrungen voneinander getrennt sein sollten. Die größeren israelischen Siedlungsblöcke sollten ebenso unter israelischer Kontrolle verbleiben wie das Jordantal. Eine palästinensische Regierung sollte weder über eigene bewaffnete Kräfte verfügen noch die eigenen Außengrenzen kontrollieren dürfen. Der Großteil von palästinensischer Außen- und Innenpolitik sollte auch in Zukunft von der Zustimmung Israels abhängig sein. Kurz gefasst: Statt eines souveränen Staates Palästinas schlug Barak die Fortführung der israelischen Besatzung unter anderem Namen vor.

Heute, 20 Jahre nach Camp David, fast 30 Jahre nach Beginn der israelisch-palästinensischen Verhandlungen und über 50 Jahre nach Beginn der israelischen Besatzung, sind die Palästinenser weiter von politischer Selbstbestimmung entfernt denn je. Das liegt auch daran, dass die Bestimmungen des „Friedensprozesses“ weiterhin Gültigkeit haben. Nach wie vor wird das Leben der palästinensischen Bevölkerung nicht nur von der israelischen Besatzung, sondern auch von einer in jeder Hinsicht von Israel abhängigen „Palästinensischen Autonomiebehörde“ bestimmt, deren vorrangige Aufgabe es nicht ist, das Wohl der eigenen Bevölkerung zu schützen, sondern den Sicherheitsinteressen Israels zu dienen. Viele Palästinenser betrachten die PA deshalb nicht als ihre eigene politische Vertretung, sondern als Teil der israelischen Besatzung.

Auf noch eine zweite Weise hat der „Friedensprozess“ einen Frieden für Israelis und Palästinenser, wie ihn internationales Recht einmal vorsah, unmöglich gemacht: Als die PLO 1988 Israel anerkannte und damit die Voraussetzung für Verhandlungen legte, lebten 90.000 jüdische Siedler in den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten. Als am 25. Juli 2000 im amerikanischen Camp David bekannt wurde, dass der „Friedensprozess“ zwischen Israelis und Palästinensern vorerst gescheitert war, waren es fast 500.000. Das, was ein Staat „Palästina“ hätte werden können, besteht heute aus dutzenden verstreuten palästinensischen Inseln in einem Meer aus israelischen Siedlungen, Straßen, Kontrollpunkten und Sperrgebieten. Während die Welt sich der Illusion eines Friedens auf Basis der Zweistaatenlösung hingegeben hatte, schuf Israel im Schatten des „Friedensprozesses“ die Realitäten, die einen palästinensischen Staat heute unmöglich machen.

Titelbild: Gts / Shutterstock

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