Helmut Schmidts Plädoyer für einen fernsehfreien Tag und seine Hintergründe

Helmut Schmidts Plädoyer für einen fernsehfreien Tag und seine Hintergründe

Helmut Schmidts Plädoyer für einen fernsehfreien Tag und seine Hintergründe

Albrecht Müller
Ein Artikel von: Albrecht Müller

Am 26. Mai 1978 veröffentlichte „Die Zeit“ einen Essay des damaligen Bundeskanzlers: Plädoyer für einen fernsehfreien Tag.
Sie finden den Text hier. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Der Vorschlag war nicht wörtlich gemeint. Wie der Untertitel sagt, wollte Schmidt unter anderem die Debatte über das Verhältnis von personaler und elektronischer Kommunikation anstoßen. Der Vorschlag hatte praktische Konsequenzen für die damalige Medienpolitik und Medienentwicklung. Programmvermehrung und Kommerzialisierung von Hörfunk und Fernsehen wurden zumindest bis zur Regierungsübernahme durch CDU und CSU, konkret durch Helmut Kohl und Schwarz-Schilling, im Jahre 1982 aufgehalten. Das Thema hat damals sehr viele Menschen bewegt. Hätte es nachhaltig auch die medien-politischen Entscheidungen beeinflusst, dann sähe die Welt heute anders aus.

Zur Entstehungsgeschichte dieses Vorschlags

Die Planungsabteilung des Bundeskanzleramtes, deren Leiter ich damals war, ging einmal im Jahr, meist im November/Dezember in Klausur, um über Schwerpunkte des kommenden Jahres zu beraten. So geschah es auch im Herbst 1977. Zum ersten Mal nicht in einem der üblichen unkreativen Hotels in der Eifel, sondern auf einem Bauernhof im Schwarzwald, auf dem Fiegenhof bei Oberkirch.

Bei unseren jährlichen Klausuren stellten wir regelmäßig die Frage: Was wäre im kommenden Jahr nötig, was müsste in der Sache geschehen, welche Debatte müsste der Bundeskanzler anstoßen und was würde Kommunikation auslösen. Einer unserer Mitarbeiter verwies spontan auf ein Projekt in Ungarn, von dem er gelesen habe und das mit Sicherheit Kommunikation auslösen würde. Außerdem sei es in der Sache jedenfalls ein Anstoß für eine wichtige Debatte. Wir berieten über diesen Vorschlag und nahmen ihn in das Planungspapier für das Jahr 1978 auf. Dieses wurde wie üblich noch vor Weihnachten an den Bundeskanzler weitergeleitet. Dieser notierte am Rande unseres Papiers sein Interesse an dieser Idee. Wir haben dann im Laufe des Frühjahrs 1978 das Vorhaben weiter geprüft und dazu auch eine qualitative Studie beim Sinus Institut in Heidelberg in Auftrag gegeben und auch mit Medienexperten darüber beraten.

Die Entscheidung des Bundeskanzlers und der Konflikt mit den Ministerpräsidenten von CDU und CSU

Der Bundeskanzler hat dann entschieden, einen Essay zum Thema zu schreiben und sich vorher mit verschiedenen Fachleuten aus Politik und Wissenschaft zu beraten. Beides war für die 2. Hälfte des Mai 1978 geplant. Anfang Mai erreichte mich die Kopie eines Vermerks meines für die Post und das Fernmeldewesen und Technologie zuständigen Kollegen Konow an den Bundeskanzler. Der Vermerk diente der Vorbereitung eines Gesprächs des Bundeskanzlers mit den Ministerpräsidenten. Mein Abteilungsleiter-Kollege berichtete, die Ministerpräsidenten der CDU und CSU wollten bei dieser Gelegenheit zusammen mit dem für das Post- und Fernmeldewesen zuständigen Bundesminister Gscheidle (SPD) vorschlagen, der Bund solle die Verkabelung von 11 Städten mit Fernsehverteilnetzen finanzieren und damit den Einstieg in das Kabelfernsehen möglich machen. Kostenpunkt: 200 Millionen DM.

Ich machte daraufhin in einem Zusatzvermerk den Bundeskanzler darauf aufmerksam, dass das Begehren der Ministerpräsidenten von CDU und CSU dem gerade in Vorbereitung befindlichen Vorschlag des Bundeskanzlers für einen fernsehfreien Tag diametral widerspreche. Die Verkabelung, die mit dem Pilotprojekt eingeleitet und vorangetrieben werden sollte, würde die bis dahin wegen der begrenzten terrestrischen Sendemöglichkeit geltenden Beschränkung der Programme aufheben und die unbeschränkte Programmvermehrung – und übrigens auch die Kommerzialisierung des Fernsehens und des Hörfunks – möglich machen. Das widerspreche dem Anstoß zur Debatte über einen fernsehfreien Tag und damit über das Verhältnis von personaler Kommunikation und elektronischer Kommunikation.

Helmut Schmidt entschied sich gegen die Finanzierung der Pilotprojekte und damit gegen die Programmvermehrung und ihre Kommerzialisierung. CDU und CSU waren empört. Schmidt hielt seine Position bis zum Ende seiner Kanzlerschaft im September 1982 durch, auch wenn er gelegentlich angesichts massiven Drucks aus Teilen der Wirtschaft und der Medienkonzerne wackelte.

Nach dem Machtwechsel vom September/Oktober 1982 machte sich die Regierung Kohl sofort an die Revision der bisherigen Position. 1984 wurde dann der entsprechende Beschluss zur Verkabelung und damit auch zur Kommerzialisierung getroffen. Das war der sogenannte Urknall. Die damalige Regierung startete zugleich eine große Werbekampagne. Alle im Lande herumfahrenden Autos der Post und des Fernmeldewesens waren mit einem Kabelbaum und der entsprechenden Werbebotschaft geziert. Nach meiner Erinnerung stand darauf unter anderem: Mehr Programme. Mehr Vielfalt.

Die Planungsabteilung und ich als Abteilungsleiter haben die öffentliche Debatte zwischen 1978 und 1982 mitverfolgt und durch eigene Beiträge befördert. Wir prognostizierten, dass wir nicht mehr Vielfalt, sondern mehr Einfalt bekämen. Die Argumentation der Planungsabteilung zum Thema führte dann dazu, dass wir von der CDU/CSU in besonderer Weise und besonders aggressiv angegriffen wurden. Der für das Vorhaben hauptverantwortliche CDU-Politiker Schwarz-Schilling nannte mich ein wandelndes Investitionshemmnis. Das war leicht zu ertragen, zumal es bei den Vorhaben der CDU/CSU und ihrer Ministerpräsidenten in jener Zeit nicht um wirklichen technischen Fortschritt, sondern um die Vermehrung von Fernseh-Verteilnetzen ging.

10 Jahre nach dem Öffnungsbeschluss der Regierung Kohl von 1994 erschien im ARD-Jahrbuch 94 ein Beitrag des damaligen ARD-Vorsitzenden Jobst Plog. Er ist ein guter Rückblick und deshalb hier verlinkt.

Übrigens haben die Hauptverantwortlichen für den sogenannten Urknall, den Beschluss der CDU/CSU-geführten Bundesregierung zur Realisierung der Pilotprojekte der Verkabelung und damit der Kommerzialisierung, später diesen Beschluss selbst bedauert. Zu spät. Wenn man die Warnungen von Bundeskanzler Helmut Schmidt ernst genommen hätte, dann hätte man sehr viel klügere medienpolitische Entscheidungen treffen können. Die Thematisierung des Verhältnisses von personaler Kommunikation und elektronischer Kommunikation, die mit dem Plädoyer für einen fernsehfreien Tag angestoßen worden war, war wichtig und richtig.

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