Stefan Lorenz Sorgner contra Philipp von Becker: „Transhumanismus“

Stefan Lorenz Sorgner contra Philipp von Becker: „Transhumanismus“

Stefan Lorenz Sorgner contra Philipp von Becker: „Transhumanismus“

Ein Artikel von Dierk Streng

Das Phänomen ChatGPT hat aufs Neue die Endlichkeit menschlichen Vermögens dem Anschein einer Unendlichkeit maschineller Kräfte gegenübergestellt. Im Lichte der aktuellen Geschehnisse kommt ein Pro-und-Contra-Band des Westend Verlags zum Thema Transhumanismus wie gerufen, der am 11. April 2023 erschienen ist. Transhumanismus ist der Name einer philosophischen Position, die sich von der konsequenten technischen Umgestaltung des Menschen und seiner Lebensgrundlagen immer neue Freiheitsgrade menschlicher Existenz verspricht. Der Transhumanismus fußt dabei, im Unterschied zu einer traditionellen Auffassung des menschlichen Wesens als naturgegeben, auf einer Konzeption, der zufolge der Mensch wesenhaft durch einen kulturell technischen Kontext geprägt ist, den er permanent selbst gestaltet. Eine Rezension von Dierk Streng.

Die Grundlagen der menschlichen Existenz werden dabei zum Objekt eines Programms technischer Optimierung. Diese unternimmt es, neben einer industriellen wie bildungsgestützten Verbesserung menschlicher Lebensverhältnisse, das Subjekt durch Drogen und Implantate in seiner Leistungsfähigkeit zu steigern. Langfristiges Ziel ist die immer stärkere Lösung des Menschen von seiner physischen Basis und möglicherweise gar die Ablösung der menschlichen, endlichen Subjektivität durch Superintelligenzen auf maschineller Basis, in denen sich die menschliche Intelligenz fortschriebe.

Auf Grundlage einer solchen Akzentverschiebung von dem, was gegeben ist, auf das, was machbar ist, unternimmt Stefan Lorenz Sorgner eine Neuausrichtung bioethischen Denkens. In seiner Betonung „reproduktiver Freiheit“ vollzieht er dabei einen Perspektivwechsel weg von einem diskriminierungsträchtigen Fokus auf eine bloße Verhinderung unerwünschter Eigenschaften. Stattdessen vertritt er ein Paradigma, das die kreative Schaffung von Menschen mit von den Erzeugern erwünschten Eigenschaften ins Zentrum stellt. Gleichzeitig wird die technische Verbesserung der menschlichen Lebensverhältnisse als zentrales Verfahren zur Aufhebung globaler Ungleichheit wie auch, über eine sich durch Wohlstand und Bildung ergebende Senkung der Reproduktionsrate, der Steuerung des Klimawandels angesehen.

Was im Aufsatz von Sorgner, neben dem Fehlen einer klaren argumentativen Struktur, gleich zu Anfang ins Auge sticht, ist ein eklatanter Mangel an Problemreflexion. Was zunächst wie lautere Naivität erscheint, erscheint aber im Weiteren als Zug einer durchaus suggestiven Strategie, die zuerst maximalen Geltungsanspruch erhebt, um die sich erhebenden Zweifel im Nachhinein in den Detaildiskussionen zu verarbeiten. Man mag das als Auswirkung des Pro/Contra-Formats deuten, das strukturell nicht dazu einlädt, den gegnerischen Standpunkt in der eigenen Argumentation explizit, sei es auch kritisch, zu reflektieren.

Dennoch wundert man sich, dass Sorgner kaum einen Gedanken daran verschwendet, welche lobbyismusbedingten Reibungsverluste oder Missbrauchsversuche noble Ideen, und eine solche ist der Transhumanismus, im Prozess ihrer Umsetzung im Regelfall erleiden müssen. Gleichzeitig bleiben die möglichen Blowback-Effekte technischen Eingreifens in die Natur zur Korrektur menschengemachter Veränderungen wie des Klimawandels weidlich unterbelichtet. Dies gilt auch für die Ungleichheiten, die sich unter dem Druck ökonomischer Verhältnisse für die Anwendung selbstoptimierender Techniken durch Einzelne ergeben würden. Man denke hier an die denkbaren Kosten von Substanzen zur geistigen Leistungssteigerung, die eine große Leistungskluft zwischen Gut- und Minderverdienern oder Gut- und Schlechtversicherten schlagen können, die dann ihrerseits das Einkommensniveau noch weiter auseinandertreiben könnte. Eigentlich wäre erst eine Reform der gesellschaftlichen Strukturen nötig, um dann über die reale Implementierung eines aus dem Transhumanismus gewonnenen Programms nachdenken zu können.

Entgegen dem Freiheitsversprechen Sorgners analysiert Philipp von Becker den transhumanistischen Standpunkt als konsequente Fortschreibung eines neoliberalen Programms. Er verweist treffend darauf, dass entsprechende Entscheidungen für die eine oder andere Eigenschaft des zu zeugenden Kindes, die eine oder andere technische Modifikation der eigenen körperlichen oder geistigen Existenz immer in einem gesellschaftlichen Kontext stattfinden würden, der in zentraler Form durch ökonomische Bedingungen strukturiert ist. Weiterhin würden digitale Möglichkeiten zur totalen Überwachung und Verhaltenssteuerung der Menschen durch den Staat wie durch Konzerne die Grundlagen autonomen Handelns unterminieren. Unter den Imperativen der Betreiber der Plattformen, dem Druck des Wettbewerbs, der immerfort wachsenden Perfektion der technischen Apparatur zerbräche auch das transhumanistische Glücksversprechen. Der Mensch geriete, in Adaption von Gunter Anders‘ Begriff „prometheischer Scham“, in immer stärkeren Zugzwang, der Perfektion des maschinellen Konstrukts, das doch zur Abhilfe seiner existenziellen Mängel geschaffen worden ist, durch eigene Perfektionierung gerecht werden zu müssen. Und am Ende stünde eine Freiheit, die nur noch zur Absegnung maschineller Verdikte genutzt würde.

Wie Sorgner bleibt allerdings auch von Becker der Einseitigkeit des Pro/Contra-Schemas treu, welches aber den Band (getreu dem Versprechen der Herausgeberin) nicht daran hindert, dem Leser eine informierte Meinungsbildung zu ermöglichen. Becker lässt – in aller Luzidität seiner streckenweise virtuosen Kritik – das humane Potenzial außer Acht, das im Transhumanismus steckt. Der durch den technischen Fortschritt erschließbare Gestaltungsspielraum macht gerade erkennbar, welche Eigenschaften für den Menschen wesentlich sind und welche nicht. Wie weit dessen Transzendierung sinnvollerweise gehen sollte, ist dabei aber der schmerzvollen künftigen Erfahrung überlassen. Sinnvolles Optimieren wie maßvolles Transzendieren der jeweils gegebenen Bedingungen der menschlichen Existenz scheinen mir nicht weniger als das zu sein, was den Menschen im besten Fall immer schon ausgezeichnet hat. Und ein Verzicht darauf, die technische Entwicklung in diesem Bereich achtsam zu adaptieren, würde die Gefahr heraufbeschwören, von den Kräften des Marktes und den Begehrlichkeiten der Politik überrollt zu werden.

Doch auf der anderen Seite können wir jetzt schon sehen, was unbedachtes technisches Handeln mit den Lebensgrundlagen des Menschen anstellt, wie es uns die fluchbehafteten Segnungen der neueren Agrartechnik lehren. Und wir können sehen, was unbedachter Umgang mit den neuen Techniken mit der Kultur des Menschen macht: Die Eloge auf den Transhumanismus, den der ChatGPT-Bot am Ende von Sorgners Beitrag zum Besten geben darf, ist in ihrer wohlinformierten Seichtigkeit in diesem Sinne eine Warnung vor dem, was uns bevorstehen könnte. Ach, was heißt „bevorstehen“?

Transhumanismus – Dystopie oder letzte Hoffnung?

Erschienen in der Reihe „Streitfragen“. Herausgegeben von Lea Mara Eßer. Westend Verlag.

Titelbild: Westendverlag

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Rezensionen Wertedebatte

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