Macrons Wunsch eines strategisch autonomen Europas scheitert nicht zuletzt an Deutschland

Macrons Wunsch eines strategisch autonomen Europas scheitert nicht zuletzt an Deutschland

Macrons Wunsch eines strategisch autonomen Europas scheitert nicht zuletzt an Deutschland

Jens Berger
Ein Artikel von: Jens Berger

Europa müsse eine „strategische Autonomie“ anstreben und dem Druck widerstehen, zu „Amerikas Gefolgsleuten“ zu werden. In der Taiwan-Frage dürfe man kein „Mitläufer“ sein. Sonst riskiere man, „zu Vasallen [der USA] zu werden“. Diese Sätze stammen nicht etwa von Oskar Lafontaine, der sich auf den NachDenkSeiten jüngst ähnlich äußerte, sondern von niemand anderem als Emmanuel Macron. Die Aufregung war vor allem in Deutschland groß. So begrüßenswert Macrons Worte sein mögen – sie gehen an der politischen Gemengelage im heutigen Europa vorbei. Vor allem in Deutschland bevorzugen Politik und Medien stattdessen eine Nibelungentreue gegenüber dem Imperium jenseits des Atlantiks. Von Jens Berger.

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Eins muss man dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron ja lassen – er weiß zu überraschen. Während sich die politischen Eliten Deutschlands derzeit gegenseitig darin übertreffen, in möglichst schrillen Tönen China als „Systemgegner“ und „Rivalen“ darzustellen, und der deutschen Wirtschaft zu einer „Diversifizierung ihrer Investitionen“ raten, reiste der französische Präsident mit einem Tross Wirtschaftsvertretern samt vorbereiteten Milliardeninvestitionen über Ostern ins Reich der Mitte und besprach ganze sechs Stunden lang mit dem seinem chinesischen Kollegen Xi auf Augenhöhe die Weltlage. Das allein ist schon bemerkenswert, hat sich in Europa doch die Unart durchgesetzt, selbst einer Weltmacht wie China gegenüber in schlimmster alter Kolonialherrenart aufzutreten.

Noch bemerkenswerter war zumindest für deutsche Ohren jedoch das Interview, das Macron auf dem Heimflug dem US-amerikanischen, zum Springer-Konzern gehörenden Medienportal „Politico“ gab. Man fühlte sich beinahe an die Zeiten De Gaulles erinnert, der ein „Europa der Vaterländer“ propagierte, das seine Interessen – natürlich unter französischer Führung – klar von denen der USA unterschied. In Deutschland wird heute gerne verdrängt, dass die europäische Integration, die später im EG-Fusionsvertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften führen sollte, vor allem seitens Frankreichs stets auch als Gegenmodell zur US- und NATO-Orientierung verstanden wurde, wie sie zu jener Zeit beispielsweise Großbritannien vollzog. De Gaulle sah die NATO als Instrument US-amerikanischer Interessen, verwies die NATO-Truppen des Landes und zog 1966 die französischen Truppen aus den Militärstrukturen der NATO ab. Erst 2009 vollzog Frankreich unter Sarkozy die vollständige Reintegration seiner Militärstrukturen in die NATO. Die Transatlantiker hatten – wenn auch vergleichsweise spät – auch in Frankreich gesiegt.

Diese historischen Zusammenhänge vor Augen wirken Macrons Äußerungen schon weniger überraschend. Dass die Interessen Frankreichs und auch Deutschlands keinesfalls deckungsgleich mit denen der USA sind, ist zumindest Lesern der NachDenkSeiten durchaus bekannt. Insbesondere in puncto China liegen die Differenzen auf der Hand. Während die USA verzweifelt die unipolare Weltordnung mit sich selbst als einziger Supermacht erhalten und jeden Konkurrenten entweder – wie bei der EU – vereinnahmen oder, wenn das nicht möglich ist – wie bei China –, bekämpfen wollen, kann die wirtschaftlich eng mit China verzahnte EU gar kein Interesse daran haben, sich am Gängelband der USA in diesen und andere Konflikte hineinziehen zu lassen.

Europa müsse seinen eigenen Interessen sehen und denen der USA voranstellen – dies ist im Kern die Botschaft Macrons. Dass diese Botschaft nicht nur den Doktrinen der USA, sondern auch den Vorstellungen ihrer Parteigänger in Europa diametral widerspricht, ist klar. Dementsprechend erwartbar war die harsche Kritik an Macrons Äußerungen in den transatlantisch geprägten deutschen Medien und seitens der deutschen Politik. Der SPIEGEL erklärte Macron sogleich zur „chinesischen Propaganda-Marionette“ und Politiker aus den Reihen aller großen Parteien übertrafen sich gegenseitig in Schmähkritik am Franzosen, der „von allen guten Geistern verlassen“ sei, wie es beispielsweise der transatlantische Falke Norbert Röttgen höchst diplomatisch formulierte.

Ist Macron von allen guten Geistern verlassen? Ja und nein. Inhaltlich hat er natürlich vollkommen recht. Schon 1987 prognostizierte der Historiker Paul Kennedy in seinem sehr empfehlenswerten Buch „Aufstieg und Fall der großen Mächte“ die Probleme, die mit dem Aufstieg Chinas und dem relativen Abstieg der USA verbunden sind und warnte vor „Erosionskonflikten“, in die Europa sich nicht hineinziehen lassen sollte. Setzt man die transatlantische Brille ab, sind Macrons Äußerungen unspektakulär und eigentlich sogar unstrittig. Dummerweise trägt Rest-Europa jedoch ebenjene transatlantische Brille und ist unfähig, die eigenen Interessen auch nur zu erkennen. Wir riskieren nicht, „Vasallen“ zu werden, wie Macron es formuliert; wir sind es bereits.

Und genau an diesem Punkt ist Macron in der Tat von allen guten Geistern verlassen. Will er zusammen mit Polen eine von den USA unabhängige Sicherheitspolitik formulieren? Viel Spaß. Will er den Balten erklären, dass deren Interessen nicht mit denen der USA deckungsgleich sind? Viel Spaß. Will er Annalena Baerbock davon überzeugen, dass es nicht im Interesse der Europäer sein kann, sich von den USA in den Taiwan-Konflikt ziehen zu lassen? Das mutet sinnlos an.

So wirkt Macrons Zwischenruf vor allem hilflos – ein „gaullistischer“ Ausreißer im transatlantischen Blockflötenkonzert. Viel wurde in den letzten Jahrzehnten vom deutsch-französischen Tandem gesprochen, das Europa mitziehen sollte. Nimmt man Macron beim Wort, wollen die Fahrer dieses Tandems jedoch in entgegengesetzte Richtungen fahren. Aber wer weiß? Vielleicht sorgt der „große Kladderadatsch“, den die US-Doktrin zurzeit in der Ukraine anrichtet, ja dafür, dass zumindest die deutsche Politik ihren Kompass neu justiert? Die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.

Titelbild: Frederic Legrand – COMEO/shutterstock.com

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