75 Jahre Israel – 75 Jahre Naqba

75 Jahre Israel – 75 Jahre Naqba

75 Jahre Israel – 75 Jahre Naqba

Norman Paech
Ein Artikel von Norman Paech

Der Autor hat auf der vom 9. bis 11. Juni stattfindenden Jahreskonferenz der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft in Höxter einen Vortrag zum 75-jährigen Jubiläum der Staatsgründung Israels gehalten. Obwohl wir dieses Jahrestages auf den NachDenkSeiten schon gedacht haben, übernehmen wir den Text von Norman Paech. Er ist interessant und es gibt Anfragen nach ihm. Albrecht Müller.

Norman Paech:

In letzter Zeit, wenn ich über die Bedeutung des Völkerrechts im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern schreibe oder rede, überkommt mich ein Gefühl von Wut und gleichzeitig Trauer. Jetzt sind Regierung und Parlament Israels dabei, die letzten Teile ihrer demokratischen Fassade einzureißen und abzutragen, und die Medien hier jammern über die Gefahren für die Demokratie in Israel, obwohl sie wissen müssen, dass diese Demokratie, wenn überhaupt, nur für die jüdische Bevölkerung, aber nie für die arabische gegolten hat. Das Wort Demokratie ist zum Fetisch der Legitimation Israels geworden, um von der jahrzehntelangen Unterdrückung und Besatzung abzulenken.

Die Geburt Israels: Demokratie und jüdisches Projekt

Was die jüdische Bevölkerung zu Hunderttausenden derzeit auf die Straße treibt, lässt die palästinensische Bevölkerung nicht kalt, aber sie ist daran nicht beteiligt, denn sie hatte nie Teil an dieser Demokratie. Ihre Situation spielt bei den Protesten kaum eine Rolle. Dabei wird der Levin-Plan, wenn er einmal in Kraft ist, schwerste Auswirkungen auch auf das Leben und die ohnehin schmalen Rechte der Palästinenser und Palästinenserinnen haben. Er wird zum Beispiel alle Gesetze beschleunigen, die in die Grund- und Menschenrechte der Palästinenser eingreifen, er wird dem Militär und Offiziellen Straflosigkeit für Kriegsverbrechen in den besetzten Gebieten verschaffen, er wird die faktische Annexion der Westbank vollziehen und die systematische rassische Diskriminierung der Palästinenser vertiefen und letztlich die Suprematie und Herrschaft der Juden über die Palästinenser weiter verstärken.

Fragen wir uns, woher dieser Abstieg in die Barbarei und die Selbstaufgabe des jüdischen Projektes kommen, müssen wir an seine Anfänge zurückgehen. Denn meine These ist, dass der Geburtsfehler dieses Staates, der niemals korrigiert wurde, zwangsläufig zu dieser Katastrophe führen musste. Das möchte ich Ihnen am Beispiel des Umgangs mit dem Völkerrecht erklären.

Am 29. November 1947 verabschiedete die UN-Generalversammlung die berühmte Teilungsresolution 181(II) mit 33 gegen 13 Stimmen bei 10 Enthaltungen. Unter Punkt 3 heißt es:

Zwei Monate nach Abschluss des Abzugs der Streitkräfte der Mandatsmacht (England), in jedem Fall spätestens am 1. Oktober 1948, entstehen in Palästina ein unabhängiger arabischer Staat und ein unabhängiger jüdischer Staat sowie das in Teil III dieses Plans vorgesehene internationale Sonderregime für die Stadt Jerusalem. Die Grenzen des arabischen Staates und der Stadt Jerusalem sind die in den Teilen II und III beschriebenen Grenzen.“

Das Stimmenverhältnis zeigt, dass der Abstimmung kontroverse Diskussionen über die Teilung in der UNO vorausgegangen waren. So war das Subkommitee 2 des „UN-Special Committee“, welches mit der Ausarbeitung einer Resolution beauftragt war, in einem ausführlichen Gutachten zu dem Ergebnis kommen, dass die Vereinten Nationen „nicht die Macht haben, einen neuen Staat zu schaffen. Solch eine Entscheidung kann nur durch den freien Willen eines Volkes des in Frage stehenden Landes selbst getroffen werden. Diese Bedingung ist im Falle des Mehrheitsvorschlages nicht erfüllt, da er die Errichtung eines jüdischen Staates in voller Missachtung der Wünsche und Interessen der Araber in Palästina involviert.“

In der Tat hatte bereits die King-Crane-Kommission, die 1919 Palästina bereiste, davor gewarnt, …„wie sehr das zionistische Programm von der Bevölkerung Syriens und Palästinas als ungerecht empfunden wird“. Mit ähnlichen Erkenntnissen kamen alle Reisende und Kommissionen aus dem Land zurück, dessen arabische Bevölkerung die Kolonisierung ihres Landes durch die fremden Siedler ablehnte. 1930 kam die Shaw-Kommission zu der Erkenntnis: „Der jüdische Landerwerb stellt eine unmittelbare Gefahr für das nationale Überleben der Araber dar.“ Das letzte Aufbäumen der Bevölkerung 1936 wurde von den jüdischen Siedlern gemeinsam mit der englischen Armee nach drei Jahren blutig niedergeschlagen.

Die Mehrheit der Mitglieder der UN-Generalversammlung verwarf die Warnung und stimmte für die Teilung, die den Landbesitz der jüdischen Siedler auf über 56 Prozent des palästinensischen Territoriums verzehnfachen sollte. Alle arabischen Staaten stimmten dagegen. Diese hatten gute Gründe dafür, denn sie kannten die Kolonisationspläne der zionistischen Bewegung und ahnten, dass die Resolution die Situation nicht beruhigen, sondern die Spannungen zwischen den jüdischen Siedlern und der palästinensischen Bevölkerung noch verstärken und zu einer der gewaltsamsten Phasen in der Geschichte des Landes führen sollte.

Noch bevor Ben Gurion im Mai 1948 die israelische Staatsgründung proklamierte, wurden etwa 250.000 Palästinenser vertrieben, bis zum Waffenstillstand 1949 dann weitere 550.000. Die ethnische Säuberung hatte begonnen. 1948 lebten in dem Gebiet des heutigen Israel – ohne Westbank und Gazastreifen – ca. 700.000 Palästinenser und Palästinenserinnen, nach dem Ende des Krieges mit den arabischen Staaten 1949 waren es noch 156.000. Nun hatte Israel 78 Prozent des ehemaligen britischen Mandatsgebiets unter seiner Kontrolle. Die Menschen verließen nicht freiwillig ihre Häuser und Dörfer, in denen sie seit Jahrzehnten, lange bevor die ersten Siedler aus Europa kamen, gelebt hatten. Sie wichen dem Druck der militärischen Drohung, der Gewalt und zahlreicher Massaker, z.B. in Deir Jassin, neben deren Ruinen dann die Holocaustgedenkstätte Yad Vaschem errichtet wurde. Bei der Liquidierung palästinensischer Führer schreckte die israelische Armee auch nicht vor dem Einsatz biologischer Waffen zurück. Über 500 Ortschaften wurden dem Erdboden gleichgemacht, das „verlassene Land“, ca. 300.000 Hektar Gärten, Felder, Olivenhaine und Zitrusplantagen enteignet und in jüdischen Besitz überführt – wahrlich ein Geburtsakt biblischen Ausmaßes und Grausamkeit.

Die Kinder der damaligen Flüchtlinge sind heute verstreut über die Nachbarstaaten Jordanien, Libanon, Syrien, im Gazastreifen und dem Westjordanland, zumeist in Lagern – an die sieben Millionen Flüchtlinge. Nichts ist ihnen geblieben als ein abstraktes Recht auf Rückkehr, welches ihnen die UNO-Generalversammlung in der Resolution 194 zwar bestätigt und die israelische Regierung als Preis für die Aufnahme in die UNO verpflichtet hatte, das sie aber gegen den Widerstand Israels und der USA nicht durchsetzen können. Ihnen bleibt nur die Erinnerung an das, was auch wir immer wieder vergessen wollen und was wahrlich den Namen Naqba, Katastrophe, verdient und bis in die Gegenwart andauert.

Mit der Eroberung des Westjordanlandes 1967 wurde die Politik der Vertreibung durch die Gründung jüdischer Siedlungen weiter verschärft. Inzwischen leben über 650.000 jüdische Siedler in über 130 Siedlungen und an die 100 sog. Außenposten, die alle nach den Genfer Konventionen illegal sind. Sie terrorisieren ihre palästinensischen Nachbarn, denen sie das Land weggenommen haben. Die Opferzahlen von Toten, Verletzten, zerstörten Häusern steigen täglich, und jeder Tag reiht ein trauriges Schicksal an das vorherige.

Gegen das Völkerrecht in die Katastrophe

Der völkerrechtliche Rahmen, in dem sich dieses Drama von der Geburt bis zum gegenwärtigen Überlebenskampf abspielt, wird durch die Haager Landkriegsordnung im IV. Haager Abkommen von 1907, das IV. Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen von 1949 und die beiden Zusatzabkommen zu den Genfer Abkommen von 1976 gebildet. Das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) ist 2000 hinzugekommen. Israel bestreitet allerdings bis heute, dass diese Abkommen für Israel und den Streit um die Besatzung gelten.

Der Einwand Israels, dass das Haager Abkommen nicht anwendbar sei, da es zu einer Zeit entstanden sei, in der es Israel noch nicht gab, zieht nicht, da das Abkommen in Gewohnheitsrecht erstarkt ist.

Israel bestreitet aber auch die Anwendbarkeit der Genfer Konventionen auf den Konflikt, da die besetzten Gebiete völkerrechtlich umstritten seien und keinen Staat bildeten. Das Abkommen sei zudem nur anwendbar, wenn es in dem Gebiet zuvor einen legitimen Souverän gegeben habe, der aus dem Amt getrieben worden sei. Schließlich sei die Grüne Linie von 1948 international nicht anerkannt, sodass Israel 1967 keine internationale Grenze überschritten habe. Der Internationale Gerichtshof (IGH) hat 2004 in seinem Gutachten zur Rechtmäßigkeit der Errichtung der Mauer demgegenüber eindeutig festgestellt, dass es nicht entscheidend sei, ob das Gebiet vorher unter der Hoheitsgewalt eines legitimen Souveräns gewesen sei. Entscheidend sei, ob eine fremde Macht ihre Hoheitsgewalt manifestiert. Das Abkommen schütze die Zivilbevölkerung und nicht die Souveränität eines Staates.

Betrachten wir nur einige der strafbaren Tatbestände, so ist die Vertreibung schon seit dem Haager Abkommen ein Verbrechen. Es wird dort zwar nicht erwähnt, das Verbot galt jedoch schon gewohnheitsrechtlich, und auch die jüdischen Siedler sowohl vor wie nach der Staatsgründung Israels waren daran gebunden. 1949 fand es dann Eingang in die IV. Genfer Konvention, Art. 49. Der Oberste israelische Gerichtshof suchte nach letzten Schlupflöchern und meinte, das Verbot auf Massenvertreibungen begrenzen zu können. Das widersprach schon dem Wortlaut von Art. 49. Außerdem handelte es sich eindeutig um Massenvertreibungen, die ca. 800.000 Menschen betraf. Es entspann sich darauf eine lange Debatte, ob der Exodus freiwillig oder unter Zwang erfolgte und das Verbot nur bei physischem oder schon bei psychischem Zwang galt. Heute ist klar, dass wir von Vertreibung sprechen, wenn Personen ohne ihre Einwilligung ihren Lebensraum verlassen müssen. Das Internationale Jugoslawientribunal hat z.B. allein die Angst vor Gewalt, die Ausnutzung einer Zwangslage oder die Schaffung unhaltbarer Zustände als unzulässigen psychischen Zwang eingestuft. Nur die Evakuierung zur Sicherheit der Bevölkerung oder aus zwingenden militärischen Gründen erlaubt die Genfer Konvention (Art. 49 II). Das internationale Strafrecht stellt im Römischen Statut von 1998 die „Vertreibung oder zwangsweise Überführung der Bevölkerung“ als Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 7 II RSt) unter Strafe. Dieses Verbrechen verjährt nicht.

Es gibt im Haager wie auch im Genfer Abkommen detaillierte Vorschriften über die Pflichten und Verbote für die Besatzungsmacht. Um nur einige zu nennen: die Pflicht, die öffentliche Ordnung wiederherzustellen und das öffentliche Leben aufrechtzuerhalten (Art. 43 HLKO), das Leben der Bürger, die Rechte der Familie und die religiöse Überzeugung zu schützen (46 HLKO), das Gesundheitswesen sicherzustellen (Art. 56 GK IV) und mit Arzneimitteln zu versorgen (Art. 55 GK IV). Wir erinnern uns an das Lob für die vorbildliche Impfpolitik Israels, wovon allerdings die besetzten Gebiete und Gaza nichts zu spüren bekamen – ein klarer Verstoß gegen Artikel 55 GK. Erst spät wurden sie von der UNO und dann von Israel mit einem russischen Impfstoff versorgt.

Die Besatzungsmacht ist Treuhänder, nicht Souverän über das besetzte Gebiet und darf die Ressourcen des Landes, ob Mineralien oder Landwirtschaft, weder kontrollieren noch ausbeuten – eine viel weiter reichende Regelung zum Schutz der okkupierten Ressourcen als die bloße Kennzeichnungspflicht nach EU-Recht.

Mit der Besatzung in die Barbarei: Apartheid

Wer über Besatzung spricht, darf von Siedlerkolonialismus und Apartheid nicht schweigen. Schon vor genau 50 Jahren,1973, hat Maxime Rodinson in seinem Buch „Israel: A Colonial-Settler State?“ die selbst gestellte Frage bejaht. Auch die Identifizierung Israels als ein Apartheidsystem ist sehr viel älter als die jüngsten Berichte von Amnesty International, Human Rights Watch und B’Tselem.

Als der damalige Beauftragte des Menschenrechtsrats der UNO, John Dugard, nach seinem 2007 erschienenen Bericht über die besetzten palästinensischen Gebiete zwei Jahre später auf Druck Israels und der USA entlassen wurde, schrieb er: „Ich bin Südafrikaner, der in der Apartheid gelebt hat. Ich zögere nicht zu sagen, dass Israels Verbrechen unendlich viel schlimmer sind als die Verbrechen, die Südafrika mit seinem Apartheid-Regime begangen hat.“ (Dugard, 2016).

Sein Nachfolger Richard Falk, ebenfalls ein jüdischer Professor, schrieb bereits in seinem ersten Bericht 2010:

„Es ist die Meinung des gegenwärtigen Sonderberichterstatters, dass die Natur der Besatzung im Jahr 2010 die früheren Vorwürfe des Kolonialismus und Apartheid noch deutlicher faktisch und rechtlich beweist als drei Jahre zuvor. Die kolonialistischen und Apartheid-Züge der israelischen Besatzung haben sich in einem kumulativen Prozess eingegraben. Je länger das dauert, desto schwieriger sind sie zu überwinden und desto ernster ist die Verkürzung der fundamentalen palästinensischen Rechte.“ (Falk, 2010)

Als er wenig später, 2014, der UN-Generalversammlung empfahl, beim Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag ein Gutachten über den rechtlichen Status dieser verlängerten Besatzung einzuholen, in dem „der rechtlich inakzeptable Charakter von ‚Kolonialismus’, ‚Apartheid’ und ‚ethnischer Säuberung’ festgestellt wird“, wurde auch er aus seinem Amt entlassen. Es dauerte allerdings acht Jahre, bis die UN-Generalversammlung den Ball aufnahm und im Dezember 2022 den IGH beauftragte, Besatzung, Besiedlung und Annexion der palästinensischen Gebiete zu untersuchen. Die Resolution fand eine bemerkenswerte Abstimmung: 84 Stimmen dafür, 24 dagegen und 53 Enthaltungen.

2017 war Richard Falk dann wieder unterwegs, diesmal mit seiner Kollegin Virginia Tilley im Auftrag der „Wirtschafts- und Sozialkommission Westasien“ der UNO. Die Schlussfolgerung ihres Gutachtens war, „dass die israelische Politik als rassistisch zu beurteilen ist und zum Zwecke der Unterdrückung der Palästinenserinnen und Palästinenser in Israel ein Apartheidsystem errichtet hat“. (Falk, Tilley, 2017) Sie erweiterten damit den Vorwurf der Apartheid auf ganz Israel und beschränkten ihn nicht auf die besetzten Gebiete. Das Gutachten rief eine derartige Empörung bei einflussreichen Mitgliedern der UNO hervor, dass UN-Generalsekretär António Guterres den Bericht von allen offiziellen UN-Websites entfernen ließ. Die Generalsekretärin der Wirtschafts- und Sozialkommission, Rima Khalaf, trat aus Protest von allen ihren Ämtern zurück und bekannte sich weiterhin zu dem Bericht. Als Guterres Virginia Tilley aufforderte, sich von ihrem Bericht zu distanzieren, legte auch sie ihr Mandat nieder und erklärte, dass sie weiterhin zu ihrem Bericht stehe.

Nehmen wir diesen Kampf zwischen Wahrheit und Politik als gutes Omen für die weiteren Auseinandersetzungen, in der die Wahrheit nicht untergehen darf und die Politik sich verändern muss. Erst jüngst hat Amnesty International diese Spur weiter verfolgt und ein vernichtendes Urteil über 75 Jahre Israel abgegeben:

„Israel verfolgt seit seiner Gründung im Jahr 1948 eine eindeutige politische Strategie, um eine jüdische demographische Hegemonie zu schaffen und aufrechtzuerhalten, und dabei die Herrschaft über das Land zugunsten der jüdischen Israelis zu maximieren, dabei gleichzeitig die Zahl der Palästinenser auf ein Minimum zu beschränken, ihre Rechte einzuschränken und sie daran zu hindern, diese Enteignung zu bekämpfen.“

Die Wahrheit vor Gericht?

Die internationale Lage wird für die israelische Regierung immer ungemütlicher, was zum Teil ihre zunehmende Radikalität zu erklären vermag. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat nach langen Beratungen den Weg zu Ermittlungen wegen möglicher Kriegsverbrechen in Palästina freigegeben. Chefanklägerin Fatou Bensouda hatte schon im Dezember 2019 erklärt, dass Ermittlungen zu Kriegsverbrechen gerechtfertigt seien. Von der Vorverfahrenskammer des Gerichtshofs waren jedoch zuvor zwei wichtige Fragen zu klären: War er strafrechtlich überhaupt zuständig, und – erheblich schwieriger – ist Palästina überhaupt klageberechtigt? Die Ermittlungen sollen vor allem den Überfall Israels auf Gaza vom Sommer 2014 sowie den andauernden Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen umfassen. Während 50-tägiger Kämpfe wurden 2.250 Palästinenser und mehr als 70 Israelis getötet. Amnesty International warf beiden Seiten Kriegsverbrechen vor. Aber auch der „Marsch der Rückkehr“ 2018 in Gaza an der Grenze zu Israel, mit dem die Palästinenser gegen die Eröffnung der US-amerikanischen Botschaft in Jerusalem protestierten und mehr als 120 Tote und Tausende Verletzte zu beklagen hatten, soll in die Ermittlungen einbezogen werden. Schließlich soll die Siedlungspolitik im Westjordanland unter dem Aspekt des Landraubs untersucht werden. Dies sind genügend Tatbestände, die im Römischen Statut als Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie Apartheid unter Strafe gestellt und deshalb justiziabel sind.

Schwieriger war die Frage für den Gerichtshof, ob Palästina überhaupt klageberechtigt ist, da es nicht von der UNO als Staat anerkannt wird. Dafür hatten vor allem die USA und viele europäische Staaten einschließlich der Bundesrepublik gesorgt, die auch bei dieser Frage der Legitimation hart an der Seite Israels den Widerstand unterstützten. Vergebens, denn nach langen Beratungen begründete die Kammer in einem umfangreichen Gutachten die Klageberechtigung Palästinas und die Zuständigkeit, nicht nur in Gaza, sondern auch in den besetzten Gebieten Ermittlungen zu führen. Wie nicht anders zu erwarten, hat die Israelische Regierung – Israel ist nicht Mitglied des Römischen Statuts – sofort nach Bekanntgabe der Zuständigkeitserklärung mit dem üblichen Vorwurf des Antisemitismus jegliche Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof abgelehnt und den Zutritt zu den besetzten Gebieten für die Ermittler des Gerichtshofes gesperrt. Forscht man allerdings nach dem gegenwärtigen Stand der Ermittlungen, so wird man nicht fündig. Es sind keine Aktivitäten erkennbar, es gibt offensichtlich nichts mitzuteilen.

Das sollte nicht überraschen. Der Gerichtshof ist an sich formal unabhängig. Er und seine Anklagebehörde sind keine Organe der UNO, sie beruhen auf einem internationalen Vertrag. Die Tatsache aber, dass die ehemalige Chefanklägerin Bensouda ihre Ermittlungen gegen US-GI wegen Folterungen im afghanischen Gefängnis von Bagram und ihr Nachfolger Karim Khan die Untersuchungen gegen britische Soldaten wegen Folterung im irakischen Gefängnis Abu Graib eingestellt haben, zeigt, dass Justiz auch oder gerade in diesen Höhen sehr politisch ist. Unmittelbar nach dem Angriff Russlands gegen die Ukraine hatte Khan 42 seiner Beamten in die Ukraine zur Beweissicherung entsandt, seine Behörde scheint also ausgelastet.

Es hat schon seine Folgerichtigkeit, dass die Staaten, die die israelische Führung vor dem Internationalen Strafgerichtshof schützen, ein Sondertribunal für den russischen Präsidenten Putin planen. Sie selbst haben das internationale Strafrecht seinerzeit so konzipiert, dass ihre eigenen Führungen nie vor dem Gerichtshof zur Verantwortung gezogen werden können. Jetzt muss ein separates Tribunal gebastelt werden, welches nach erfolgreicher Verurteilung wieder abgebaut wird. Merke: Wer in der Politik von Werten und Moral spricht, meint immer die Doppelmoral.

Ich komme zurück auf meine Ausgangsthese, dass der Geburtsfehler dieses Staates, der niemals korrigiert wurde, zwangsläufig zu dieser Katastrophe heute führen musste. So standen am Anfang die Verachtung und der Verstoß gegen das internationale Recht. Der internationale Konsens, der den Staat Israel überhaupt erst ermöglichte, beruhte schon auf dem Bruch des Völkerrechts und wurde bereits von der ersten Führung unter David Ben Gurion mit Füßen getreten. Diese Missachtung des Völkerrechts und der bedenkenlose Verstoß dagegen waren das Merkmal aller Regierungen seitdem, gleichgültig, welche Partei oder Koalition sie bildeten. Ein Regierungssystem, ob demokratisch oder autoritär, muss mit einer derartigen jahrzehntelangen Politik hors la lois schließlich im Faschismus enden oder in sich zusammenstürzen.

Nicht ohne Grund sagen viele Kritiker der israelischen Politik, dass die Gefahr für die Existenz Israels nicht von außen, sondern von innen kommt. Israel wäre nicht der erste Staat, dessen Regierungssystem kollabiert. Nicht alle haben das wie Südafrika ohne Krieg, Gewalt und Einbußen ihrer territorialen Integrität überlebt. Die Sowjetunion hat den Preis ihrer Auflösung und territorialen Aufteilung zahlen müssen, und Jugoslawien ist im Krieg untergegangen. Deutschland ist über den Faschismus in den Krieg gerutscht, mit den bekannten Folgen der territorialen Teilung. So wird auch Israel um seine Existenz zu fürchten haben, wenn das Regierungssystem sich nicht aus dieser Sackgasse befreien kann. Es hat nur die Wahl: Faschismus und Krieg oder Demokratie und Völkerrecht. Wenn es überhaupt eine Verantwortung der Bundesregierung für Israel gibt, so ist es nicht die Sicherung seiner Existenz, sondern der Demokratie.

Norman Paech, Hamburg, 6. Juni 2023

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