Gastärzte – ein weiteres Symptom der Krankheit namens Privatisierung

Jens Berger
Ein Artikel von:

Nach aktuellen Zahlen der Bundesärztekammer haben im letzten Jahr 3.039 ausländische Ärzte ihren Job in Deutschland aufgenommen – die meisten davon waren Krankenhausärzte. Nach Angaben des Deutschen Krankenhausinstituts sind momentan rund 5.500 Stellen für Krankenhausärzte nicht besetzt. Schuld daran sei der Fachkräftemangel, so raunt es aus dem Blätterwald. Doch wie so oft springen die Kommentatoren hier zu kurz. Im letzten Jahr verließen nämlich auch 3.410 Ärzte Deutschland. Alleine mit dem negativen Wanderungssaldo der letzten vier Jahr hätte man jede offene Stelle besetzen können. Grund für die Ärzteknappheit ist nicht der Fachkräftemangel, sondern die mangelnde Bereitschaft des Gesundheitssystems, seine Mitarbeiter ordentlich zu bezahlen und für angemessene Arbeitsbedingungen zu sorgen. Leidtragende dieser Entwicklung sind nicht nur die Patienten, sondern vor allem auch die ausländischen Ärzte selbst, die oftmals schlechter bezahlt werden als die bereits outgesourcten Krankenhaus-Putzfrauen. Von Jens Berger.

Der europäische Arbeitsmarkt ist frei und weitestgehend dereguliert. Wer in seinem Heimatland keinen Arbeitsplatz bekommt oder nur Angebote hat, die zu schlecht bezahlt sind und zu schlechte Arbeitsbedingungen aufweisen, kann meist ohne große Probleme einen Job im europäischen Ausland annehmen – vorausgesetzt, der Bewerber verfügt über ausreichende Sprachkenntnisse und es besteht eine echte Nachfrage nach seinen Fähigkeiten. Diese Freizügigkeit wird vor allem von Krankenhausärzten auch gerne genutzt. So arbeiteten zum Jahreswechsel 2012 insgesamt 28.355 ausländische Ärzte [PDF – 33 KB] in Deutschland. Hinter den Österreichern belegen dabei die Griechen, Rumänen, Russen und Polen die Plätze zwei bis fünf. Schon heute reiben sich die Krankenhausbetreiber angesichts der Eurokrise freudig die Hände, bieten doch vor allem Griechenland und Spanien ein vorzügliches Personalreservoir für potentielle Neuzugänge, die bereit sind, auch zu schlechten Konditionen in Deutschland anzuheuern.

Wie das DIW ermittelt hat, verdient hierzulande ein junger Klinikarzt im Schnitt gerade einmal 10,80 Euro pro Stunde und kommt damit bei einer – nicht eben seltenen – 80-Stunden-Woche auf vergleichsweise läppische 2.009 Euro Netto im Monat. Wer als junger Arzt die Möglichkeit hat, und vor allem die nötige Qualifikation vorweisen kann, geht da lieber ins Ausland. Am beliebtesten sind bei deutschen Ärzten die Schweiz, wo Assistenzärzte bei einer geregelten 50-Stunden-Woch im Schnitt auf 3.910 bis 6.220 Euro Monatsgehalt kommen, Großbritannien, wo Klinikärzte meist rund doppelt so hohe Bezüge wie hierzulande haben, und die USA, wo Assistenzärzte rund das Vierfache verdienen und Krankenhaus-Fachärzte auf ein Durchschnittsgehalt[*] von mehr als 175.000 US$ pro Jahr kommen**. In den USA schlagen jedoch auch die Kosten für ein Medizinstudium, die nicht selten im siebenstelligen Bereich angesiedelt sind und erst einmal über viele Jahre hinweg abgearbeitet werden müssen, zu Buche. Wer in Deutschland studiert hat, startet jedoch dank staatlich finanziertem Studium meist schuldenfrei ins Berufsleben. Das macht die USA nicht nur für deutsche Mediziner so attraktiv.

Auch für Bewerber aus anderen Ländern steht Deutschland auf der Wunschliste meist relativ weit hinten. Deutschland hat jedoch nicht nur die im OECD-Vergleich schlechtesten Gehälter für Krankenhausärzte, sondern auch vergleichsweise geringe Anerkennungsschranken. Wer in einem EU-Land studiert hat, profitiert in der Regel von einem automatisierten Anerkennungsverfahren, an dessen Ende nach einigen Jahren Berufserfahrung als Assistenzarzt in einem deutschen Krankenhaus die Approbation steht. Wer in den USA als Arzt arbeiten will [PDF – 47.6 KB], muss erst einmal auf eigene Kosten die gefürchteten und kostspieligen USMLE-Prüfungen (vergleichbar mit dem ersten und zweiten Staatsexamen in Deutschland) mit einer sehr guten Note bestehen. Davon machen in Deutschland jedoch nicht nur deutsche Ärzte Gebrauch. Unter den Ärzten, die eine bessere Stelle im Ausland annehmen, ist jeder dritte Auswanderer aus Deutschland ein ehemaliger Einwanderer. So dreht sich das Ärztekarussell munter weiter und vor allem den deutschen Patienten könnte dabei schlecht werden.

Ein wenig zugespitzt könnte man sagen, dass die besten Zuwanderer erst gar nicht nach Deutschland kommen, viele gute deutsche Ärzte das Land verlassen und unter den verbleibenden nach Deutschland zugewanderten Ärzten die eher durchschnittlichen im Lande bleiben, während die besseren nach einigen Jahren in Länder weiterziehen, die durchaus attraktiver sind und vor allem attraktivere Arbeitsbedingungen bieten.

Da deutsche Krankenhäuser angesichts der hiesigen Arbeitsbedingungen vermehrt Probleme haben, ihren Personalbedarf mit Ärzten aus dem EU-Ausland zu decken, werden neuerdings, vor allem auf dem Lande, vermehrt Ärzte aus Nicht-EU-Ländern verpflichtet. Der private Krankenhauskonzern Asklepios hat beispielsweise vor fünf Jahren ein Joint-Venture mit der Tongji-Universität in Shanghai gegründet, das dem „Austausch von Wissen und Fachkräften“ dienen soll. Ob deutsche Ärzte in China tätig sind, ist nicht bekannt. Bekannt ist jedoch, dass die chinesischen Ärzte mittlerweile ihren Dienst in deutschen Krankenhäusern des Asklepios-Konzerns mehr schlecht als recht verrichten.

Die Herkunftsländer der Ärzte aus Nicht-EU-Ländern weisen in der Regel ein weitaus schlechteres Ausbildungsniveau auf. Für Ärzte aus diesen Ländern ist es nur unter sehr harten Bedingungen möglich, am Ende auch die ersehnte Approbation in Deutschland zu bekommen. Das ist für private Krankenhausbetreiber aber oft gar kein echtes Hindernis, da sie es gar nicht darauf abgesehen haben, dass diese Ärzte beruflich weiterkommen. Wer beispielsweise aus Ägypten, Syrien, China oder Äthiopien kommt, bekommt in Deutschland in der Regel bei Nachweis eines Studienabschlusses eine sogenannte Berufserlaubnis [PDF – 649 KB]. Diese ist örtlich und zeitlich (meist auf maximal sieben Jahre) befristet, sodass diese Ärzte auf Gedeih und Verderben auf das Wohlwollen ihres jeweiligen Arbeitgebers angewiesen sind. Ärzte, die aus solchen Ländern stammen, werden in Deutschland vielfach als moderne Medizin-Arbeitssklaven gehalten. Wenn der Arbeitgeber neben 500 Euro Monatslohn und freier Kost und Logis auch noch Sprach- und Fortbildungskurse finanziert, können sich diese Ärzte schon glücklich schätzen. Für den Klinikbetreiber ist es dabei schlussendlich egal, ob der betreffende Arzt jemals auf ein deutsches Ausbildungsniveau kommt und am Ende seine Approbation bekommt. Im Zweifel stehen schon die nächsten Kandidaten aus Schwellenländern und Drittweltstaaten bereit – moderne Gastarbeiter, in diesem Fall „Gastärzte“.

Selbstverständlich dürfen diese Ärzte jedoch nicht als vollwertige Klinikärzte eingesetzt werden, ihr Tätigkeitsbereich wird in der Regel durch Auflagen eng begrenzt und sie dürfen meist auch nur unter „ärztlicher Aufsicht“ tätig werden. In der beruflichen Praxis, die von permanenter Überlastung und Personalengpässen gekennzeichnet ist, spielen die Vorgaben jedoch vielfach keine Rolle. Wenn Not am Mann ist (und in privatisierten Krankenhäusern ist dies nicht die Ausnahme, sondern die Regel) werden die 500-Euro-Gastärzte auch oft mit Tätigkeiten betraut, für die sie nicht vorgesehen sind. Welcher Patient kennt sich denn schon mit den betreffenden Regeln, Auflagen und rechtlichen Fragen aus und welcher Angehörige wagt es, den Krankenhausbetreiber zu verklagen?

Leidtragende sind dabei vor allem die Patienten, die vielfach von vergleichsweise schlecht ausgebildeten Ärzten mit mangelhaften Sprachkenntnissen behandelt werden. Aber auch das übrige Personal gehört zu den Leidtragenden. Wenn Krankenschwestern neben ihrer – ohnehin schon physisch und psychisch extrem belastenden – Arbeit auch noch Aufpasser für die Gastärzte spielen müssen und die ebenfalls chronisch überlasteten Ärzte einen großen Teil der Arbeit der Gastärzte kontrollieren oder gleich übernehmen müssen, ist dies nur eine zusätzliche Belastung für alle Beteiligten.

Man sollte tunlichst darauf achten, nicht mit dem Finger auf die eingewanderten Ärzte zu zeigen. Sie sind selbst Opfer eines Systems, für das sie nichts können. Im Gegenteil – der Wunsch dieser Ärzte ist es, in einem vermeintlich fortschrittlichen Land wie Deutschland ihr berufliches und privates Glück zu finden. Das ist menschlich verständlich und legitim. In einer besseren Welt würden diese Ärzte auch so ausgebildet werden, wie es ihnen zusteht. Sie würden intensive Sprachkurse bekommen und ihnen würde bei der Integration unter die Arme gegriffen. Wer eine solche bessere Welt sucht, muss nur über die Ostsee schauen – Schweden bietet eingewanderten Ärzten genau diese Zugeständnisse und ist daher auch bei deutschen Ärzten als Einwanderungsland sehr beliebt.

Warum sind in Deutschland keine schwedischen Verhältnisse möglich? Warum duldet die Gesellschaft in einem der modernsten und reichsten Länder der Welt, dass die Qualität einer elementaren Daseinsvorsorge wie dem Gesundheitssystem derart vor die Hunde geht? Warum akzeptieren wir, dass Krankenhäuser nicht mehr nach qualitativen Maßstäben geführt werden, sondern nur noch einzig und allein Renditeobjekte sind, bei denen eine kleine, ohnehin schon wohlhabende Schicht, die sich Eigentümer nennt, 15% Rendite anstrebt? Auf diese Fragen kann es keine zufriedenstellende Antwort geben. Wir haben uns und unsere Gesellschaft bereits derart den Mechanismen eines freien Marktes unterworfen, dass wir nun die Rendite unserer Ideologie kassieren. Noch ist es nicht zu spät, das Ruder rumzureißen.

Dabei ist der angebliche Ärztemangel doch selbst eine Folge simpler marktwirtschaftlicher Prozesse. Wenn ein Krankenhausbetreiber seine Stellen nicht besetzen kann, so liegt dies nicht daran, dass es zu wenig Ärzte gibt. Es liegt schlichtweg daran, dass die Krankenhausbetreiber ihnen kein adäquates Angebot machen. Würde sie höhere Gehälter zahlen und bessere Arbeitsbedingungen bieten, gäbe es auch keine Personalnot. Marktwirtschaftliche Logik wird hierzulande jedoch nur dann angewandt, wenn es im Sinne der Arbeitgeber ist. Auf die Idee, dass auch Arbeitnehmer marktwirtschaftlich agieren, wenn sie denn in der Position sind, dies zu tun, kommen die Turbokapitalisten, die unsere Krankenhauskonzerne lenken, freilich nicht. Natürlich könnte man auch mit der gegebenen Budgetierung den „Fachkräftemangel“ im Krankenhausbereich eindämmen – aber dann müsste man ja auf die 15% Rendite verzichten und das kann und will unsere Gesellschaft den Klinikbetreibern offenbar nicht zumuten. Dann darf sich aber auch niemand darüber beschweren, dass er im Notfall von einem schlecht ausgebildeten Arzt behandelt wird, der nur gebrochen Deutsch spricht.


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