Konjunkturprognose: Die Welt wird von den Füßen auf den Kopf gestellt

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Trotz des äußerst schwachen Wachstums von erwarteten 0,8 % in diesem Jahr scheint für die acht Wirtschaftsinstitute alles zum Besten zu stehen. Eigentlich brauchte man deren „Gemeinschaftsdiagnosen“ keine Aufmerksamkeit mehr zu schenken. Sie liegen meist daneben und loben vor allem ihren Auftraggeber. Im Wahljahr geben die „Wissenschaftler“ sogar eine eindeutige Wahlempfehlung für die auftraggebende Regierung ab.
Das Frühjahrsgutachten ist wieder einmal ein Beispiel, wie dogmatisch bornierte Ökonomen, die Welt von den Füßen auf den Kopf stellen. Der Zusammenhang zwischen der rigiden „Sparpolitik“ und rezessiver Wirtschaftsentwicklung wird stur geleugnet. Ein Nachlassen bei den offensichtlich katastrophalen Problemlösungskonzepten zur Ursache der Probleme erklärt. In ihrer Fixierung auf staatliche Ausgabenkürzungen und den Abbau von Sozialleistungen bemerken die ideologisch bornierten Think-Tanks nicht einmal die Widersprüche, in die sie sich selbst verwickeln. Von Wolfgang Lieb

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Die Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose der (einschließlich der Kooperationspartner insgesamt) acht Wirtschaftsinstitute haben einen „Dienstleistungsauftrag“ des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie und diese Dienstleistung erfüllen sie auch in aller Regel. Das heißt, sie sind ihrem jeweiligen Auftraggeber zu Diensten und bieten einen für die Regierung positiven Ausblick (Siehe Flassbeck/Spiecker). Selbst wenn es mit der Wirtschaft zum aktuellen Zeitpunkt nicht so gut läuft, so wird der Ausblick in die fernere Zukunft meist in rosigen Farben gezeichnet. Das gilt natürlich besonders in einem Wahljahr. Besonders dreist ist diesmal die ungeschminkte Wahlempfehlung der Institute für die derzeitige Regierung: „Diese (positive (WL)) Prognose ist insbesondere mit der Unsicherheit behaftet, dass im September 2013 die Wahlen zum Bundestag anstehen. Änderungen im finanzpolitischen Kurs sind für die Zeit danach nicht auszuschließen“, heißt es in dem „wissenschaftlichen“ Gutachten und das gleich zweimal (S. 32 und S. 33).

Die Dienstbeflissenheit gegenüber dem Auftraggeber erweist sich einmal mehr in der gestern vorgestellten „Gemeinschaftsdiagnose Frühjahr 2013“.

Unter der Überschrift „Deutsche Konjunktur erholt sich“ erwarten die Institute in diesem Jahr eine Zunahme des Bruttoinlandproduktes um 0,8 % und im kommenden Jahr um 1,9 %.

Reales BIP in Deutschland

Trotz des äußerst schwachen Wachstums in diesem Jahr scheint für die Wirtschaftsinstitute alles zum Besten zu stehen: Die Zinsen seien niedrig, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen gut, die Auslandsnachfrage würde sich dementsprechend beschleunigen, der Arbeitsmarkt sei robust, die privaten Konsumausgaben würden steigen, der Preisauftrieb sei gering und – das Wichtigste – der Staatshaushalt sei ausgeglichen.

Eigentlich müsste die Konjunktur geradezu explodieren. Warum aber dann nur ein Wachstum von 0,8 %?

Nun sind die Abweichungen der „Gemeinschaftsprognosen“ vom tatsächlichen Wachstum vor allem bei den Frühjahrsprognosen teilweise dramatisch. Selbst für ihre Prognosen im zurückliegenden Jahr müssen die Institute einräumen, dass beim Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung das „Gegenteil“ eingetreten ist, was sie erwartet hatten. Die konjunkturellen Triebkräfte seien im Frühjahrsgutachten „nicht richtig vorausgesehen“ worden, tut man die eigene Fehleinschätzung lapidar ab.

Schaut man auf die Prognosen im Zeitverlauf, so ist Folgendes zu beobachten: Wenn es mit der Konjunktur schlecht läuft liegen die Prognosen in der Regel zu hoch, wenn es gut läuft zu niedrig. Letzteres erklärt sich meist damit, dass man nachlassendem „Reformwillen“ entgegenwirken will. Denn eine Konstante gibt es bei allen dieser Gutachten, nämlich das zugrunde liegende angebotsorientierte Wirtschaftsdogma.

Wie in jedem zurückliegenden Gutachten – egal wie die wirtschaftliche Lage eingeschätzt wurde – wird gefordert, dass die Staatsausgaben zurückgefahren und die Löhne niedrig gehalten werden.

In Deutschland sollten „Vorkehrungen getroffen werden, damit es nicht zu ähnlichen Fehlentwicklungen kommt wie in einigen Krisenländern“, wird gewarnt. Die „Übererfüllung“ der Schuldenbremse beim Bund beruhe nicht auf nachhaltigen Faktoren (niedrige Zinsen und „kalte Progression“) und deshalb müssen die „Konsolidierungsbemühungen trotz des strukturell ausgeglichenen Haushalts fortgesetzt
werden. (S. 66) Und natürlich darf wieder einmal die Warnung vor den finanzpolitischen Herausforderungen durch die „Alterung der Bevölkerung“ nicht fehlen. Um die Löhne niedrig zu halten, darf es nach Meinung der Institute nicht zu einem flächendeckenden Mindestlohn kommen. Die Empfehlungen folgen der seit Jahren ständig wiederholten Litanei.

Der Zusammenhang zwischen der rigiden „Sparpolitik“ und rezessiver Wirtschaftsentwicklung wird stur geleugnet: „Die Rückführung der Haushaltsdefizite kommt angesichts einer meist schwachen, zum Teil sogar stark rezessiven Wirtschaftsentwicklung nur mühsam voran.“ Die Logik, dass Sparen am einfachsten gelingt, wenn die Wirtschaft brummt, wird einfach negiert. Ja, noch mehr, es wird die Lockerung der „Sparpolitik“ in einigen Ländern beklagt.

Man immunisiert sich also gegen das Scheitern der „Reformbemühungen“, indem man Ursache und Wirkung umkehrt: Sollte es zu weiteren schweren Belastungen der Konjunktur kommen, dann könne das nur daran liegen, dass die „strukturellen Anpassungsprozesse“ (sprich im Wesentlichen der Sozialabbau) verlangsamt oder gar scheitern würden.

Auch was die Lage in der Europäischen Union anbetrifft findet man die Ignoranz der Glaubenslehre gegenüber der Wirklichkeit und damit gleichzeitig die Bestätigung des Kurses der Bundesregierung. Da werden die Konsolidierungsbemühungen der Länder im Euroraum gelobt, aber man wundert sich, dass „die ungünstige Konjunktur…dem Defizitabbau entgegen“ wirkte. Wie sollte in Europa auch „gespart“ werden können, wenn sich der Euroraum insgesamt in einer Rezession (das BIP schrumpfte um 0,6 %) befindet?

Die der Krise im Euroraum „zugrundeliegenden Probleme“ seien noch nicht gelöst, weil sich einige Regierungen „erheblichen Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Reformen gegenüber“ sähen. Für die Institute ist also nicht die Finanzkrise die Ursache der Krise im Euroraum, sondern „ein Nachlassen bei der Politik der Konsolidierung und der Strukturreformen“; also kurz, dass der eingeschlagene Austeritätskurs nicht konsequent genug durchgehalten werde. Die Gedankenwelt dieser Ökonomen ist so verschroben, dass sie ein Nachlassen bei den offensichtlich katastrophalen Problemlösungskonzepten zur Ursache der Probleme machen. Diese Umkehrung von Ursache und Wirkung ist ganz typisch für die neoliberalen Ideologen: Wenn ihre Rezepte scheitern, dann kann es nur daran liegen, dass diese nicht konsequent genug umgesetzt wurden und deshalb eine Erhöhung der Dosis erforderlich ist. Die Idee, dass die vorgeschlagenen Rezepte falsch sind, unterliegt einem Denktabu.

Ihre optimistischen Erwartungen für das laufende und vor allem für das kommende Jahr stützt die Gemeinschaftsprognose vor allem auf die privaten Konsumausgaben. Man ist zwar erstaunt über die Stagnation des privaten Konsums im letzten Halbjahr 2012, setzt jedoch auf den Strohhalm deren (angeblichen) Anstiegs im ersten Quartal dieses Jahres.

Dabei kommt man an dem – für der angebotsorientierten Lehre verpflichteten Ökonomen erstaunlichen – Eingeständnis nicht herum, dass steigende Löhne und damit steigende Binnennachfrage ein Wachstumsantrieb sein könnten. Gleichzeitig wird aber vor der Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns gewarnt, dessen Fehlen doch eine der Hauptursache für Dumpinglöhne und für das Stagnieren der effektiven Durchschnittslöhne darstellt.

Zur Begründung für die „erheblichen negativen Beschäftigungseffekte“ eines Mindestlohns von 8,50 Euro rührt man ausschließlich in der eigenen Suppe, denn es werden selbstverständlich überwiegend nur Studien der beteiligten Institute als Beleg angeführt (S. 53 Fußnote 37). Die Befunde einer Vielzahl von Studien, die zu ganz anderen Ergebnissen führen, werden unterschlagen oder einfach nicht zur Kenntnis genommen (Vgl. z.B. WISO Diskurs: Wirkungen der Mindestlohnregelungen in acht Branchen). Ein weiterer Beleg dafür, wie sich die beteiligten Institute in ihre eigene Ideologie eingegraben haben.

Interessant ist eine Angabe, die ansonsten immer gerne verschwiegen wird: Der Bund habe sein „strukturelles Defizit“ auch auf Kosten der Sozialversicherungen abgebaut:

„Er reduziert zum einen seine Zuschüsse an den Gesundheitsfonds um 2,5 Mrd. Euro in diesem Jahr und um 3,5 Mrd. Euro im nächsten. Zum anderen kürzt er seine Zuschüsse an
die gesetzliche Rentenversicherung um 1 Mrd. Euro im Jahr 2013 und um 1,25 Mrd. Euro im Jahr 2014. Zudem wird die Bundesbeteiligung an den Kosten der Arbeitsförderung bei gleichzeitigem Wegfall des von der Bundesagentur für Arbeit an den Bund zu leistenden Eingliederungsbeitrags gestrichen, was den Bundeshaushalt per saldo um rund 2 Mrd. Euro entlastet. Dies führt zusammen mit den zu Beginn dieses Jahres deutlich gesenkten Sozialabgaben dazu, dass die hohen Überschüsse der Sozialversicherung merklich schrumpfen.“

Einen solchen Hinweis, dass die sog. Konsolidierungspolitik vor allem durch Kürzungen bei den Sozialleistungen erfolgt, findet man in der öffentlichen Darstellung der Regierungspolitik höchst selten. Auch dass „weitgehende Einigkeit besteht, dass die derzeitigen Bundeszuschüsse (an die Sozialversicherungen (WL)) die versicherungsfremden Leistungen nicht abdecken“ (S. 65) wird ständig unterschlagen.

In ihrer Fixierung auf staatliche Ausgabenkürzungen und dem Abbau von Sozialleistungen bemerken die ideologisch bornierten Think-Tanks nicht einmal die Widersprüche, in die sie sich selbst verwickeln. Da wird auf der einen Seite auf die ansteigende Nettozuwanderung ausländischer Arbeitskräfte hingewiesen, die die immer als argumentativer Hebel eingesetzte Bevölkerungsvorausberechnung erheblich übertreffe (S. 48, Kasten 4.1). Im Schlussteil wird aber dann die gleiche (überholte) Vorausberechnung als Beleg für den Rückgang der Erwerbsbevölkerung herangezogen, um daraus wiederum abzuleiten, dass das Leistungsniveau in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung nicht beibehalten werden könne und deshalb zumindest das Renteneintrittsalter weiter erhöht werden müsse. (S. 54) Darüber ob die Älteren überhaupt Beschäftigung finden, machen sich die von den von den Zuwendungen der Bundesregierung lebenden Gutachter keinerlei Gedanken.

Obwohl die prognostizierte Wachstumsrate für Deutschland nur leicht über einer wirtschaftlichen Stagnation liegt und europaweit weiterhin eher eine rezessive Tendenz vorhergesagt wird, lehnen unsere Marktgläubigen politische Maßnahmen zur Konjunkturstabilisierung ab. (vor allem S. 54 Fußnote 42) Eine konjunktur- und beschäftigungsfördernde Finanzpolitik würde nur zu weiteren Sparmaßnahmen führen (S. 55).

Das ist typisch für das vorherrschende Denkmuster, man könne sich gesundsparen.