Schwergewicht Deutschland

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Ende Oktober löste die Kritik des amerikanischen Finanzministeriums an den deutschen Exportüberschüssen in Berlin Empörung aus.
Doch man sollte dem amerikanischen Finanzministerium dankbar dafür sein, dass es öffentlich zum Ausdruck brachte, was Deutschlands Partner nicht zu sagen wagen: „Deutschland hatte während der ganzen Eurozonen-Finanzkrise große Zahlungsbilanzüberschüsse“. Und genau diese Sachlage „verhinderte die Wiederherstellung gleichgewichtiger Zustände“ in den anderen Euroländern bzw. führte zu einer „Deflationstendenz sowohl für die Eurozone als auch für die Weltwirtschaft“.
Auch der IWF teilt diese Besorgnis. Doch der deutsche Finanzminister wies die amerikanische Kritik zurück und meinte, Zahlungsbilanzüberschüsse seines Landes „seien kein Grund zur Besorgnis – weder für Deutschland noch für die Eurozone noch für die Weltwirtschaft“. Beitrag von Martin Wolf in Le Monde.
Ins Deutsche übertragen von Gerhard Kilper.

Diese Reaktion des deutschen Finanzministers war genau so vorhersehbar wie sie unhaltbar und falsch ist. Der Überschuss Deutschlands, den der IWF in diesem Jahr auf 215 Mrd. Dollar (d.h. 159 Euro, fast genauso viel wie der Überschuss Chinas) beziffert, ist in Wirklichkeit ein riesiges (makroökonomisches) Problem, in erster Linie für die künftige Entwicklung in der Eurozone.

Überschüsse im Export bedeuten nicht nur bessere Wettbewerbsfähigkeit eines Landes, sie bedeuten auch Überschuss seiner gesamtwirtschaftlichen Produktion im Verhältnis zu seinen Gesamtausgaben. Die Überschussländer importieren dann diejenige Nachfrage, die sie selber nicht generieren können.

Solange die weltweite Nachfrage stark ist, stellte dieser Sachverhalt unter der Bedingung, dass von Defizitländern geborgte Gelder in wirtschaftliche Aktivitäten investiert werden, mit denen eingegangene Schulden bei Fälligkeit zurückgezahlt werden können, kein Problem dar. Leider geschah dies selten, auch weil der Niedrigpreis-Importzufluss die Defizitländer zu Investitionen in (international) nicht austauschbare Aktivitäten verführte, die also nicht zur Schuldenrückzahlung taugen.

Im aktuellen wirtschaftlichen Kontext mit Zinssätzen nahe Null und einer chronisch defizitären weltweiten Güternachfrage ist der Import von Nachfrage durch Überschussländer mit protektionistischer Politik gleichzusetzen. Eine solche Politik des Exportüberschusses verschärft die weltweite wirtschaftliche Schwächephase.

Es ist daher nicht überraschend, dass im zweiten Trimester des Jahres 2013 das Bruttoinlandsprodukt der Eurozone immer noch um 3,1% niedriger als bei seinem Höchststand vor der Krise war.

Die größte Volkswirtschaft der Eurozone, durch ihre Exportüberschüsse selbst in höchstem Maße zahlungsfähig, untergräbt die Gesamtnachfrage anstatt sie zu begünstigen. Daher ist es auch nicht überraschend, dass die Eurozone in Richtung Deflation gedrückt wird. Die letzte, auf das Jahr bezogene Eurozonen-Inflationsziffer, betrug 0,8%.

Aufgrund ihrer extremen Nachfrageschwäche besteht für die Eurozone das Risiko, in eine deflationistische Falle à la Japan zu geraten und selbst nicht mehr imstande zu sein, ihre erforderlichen internen Wettbewerbsangleichungen durchführen zu können.

Die von der Wirtschaftskrise betroffenen Eurozonenländer sehen sich gezwungen, pure Deflationsentwicklung einfach akzeptieren zu müssen. Dies wird notwendigerweise zu einem hohen Arbeitslosenniveau führen und ihren tatsächlichen Schuldenstand weiter erhöhen.

Mythen

Fatal ist, dass die in unter der Führung Deutschlands durchgesetzte Politik – aufgrund der zerstörerischen Wirkung allgemein betriebener Haushalts-Austeritätspolitik – in der Eurozone zu solchen Ergebnisse führt.

Jan In’t Veld, Ökonom bei der EU-Kommission, schätzt in einem am 21.Oktober 2013 publizierten Text, dass das budgetäre Gürtel-enger-Schnallen zwischen 2011 und 2013 kumulierte Produktionsverluste in einer Größenordnung Hvon 18% des jährlichen Bruttoinlandsprodukts in Griechenland, von 9,7% in Spanien, 9,1% in Frankreich, 8,4% in Irland und von 8,1% des BIP in Deutschland zur Folge hatte.

Da die angeschlagenen Eurozonen-Krisenländer ihre Außenhandelsdefizite reduzieren und da das Hauptgläubigerland Deutschland seine Außenhandelsüberschüsse beibehält, generiert die Eurozone insgesamt Außenhandelsüberschüsse.

Nach Berechnungen des IWF wird sich der Umschlag vom Außenhandelsdefizit zum Überschuss zwischen 2008 und 2015 auf 3,3% des Bruttoinlandsprodukts der Eurozone belaufen. Was nichts anderes als eine protektionistische Politik der Eurozone gegenüber dem Rest der Welt bedeutet.

Doch wird es für die Eurozone unmöglich sein, (längerfristig) ihr Wachstum auf Exporte zu stützen, für den Erfolg einer solchen Politik ist das wirtschaftliches Gewicht der Eurozone zu groß.

Die Eurozone muss zuvorderst ihre internen wirtschaftlichen Verwerfungen wieder auf Gleichgewichtspfad bringen. Nach Angaben der Wirtschaftlichen Weltperspektiven des IWF vom Oktober 2013 beruhte die bisherige Verbesserung der Eurozonen-Wettbewerbsfähigkeit auf massivem Arbeitsplatzabbau und auf dem Einbruch der Binnen-Nachfrage. Letzterer half zwar den Krisenländern beim Abbau ihrer Außenhandelsdefizite. Aber der „Erfolg“ des Anpassungsprozesses wurde mit einer Wirtschaftskrise und mit einem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit erkauft. Der IWF kann selbst unter diesen Bedingungen keine signifikante Reduktion der Netto-Schuldenlage der Krisenländer erkennen.

All das wird jedoch in der Öffentlichkeit als akzeptabel, wünschenswert und sogar als moralisch angesehen, insgesamt jedenfalls als Erfolg.

Warum?

Weil man an bestimmte Mythen glaubt:

  1. Die Krise sei eher durch staatliches Budget-Fehlverhalten als durch unverantwortliche, grenzüberschreitende Kredit-Zahlungsströme ausgelöst worden.
  2. Die Haushaltspolitik spiele bei der Regulierung der volkswirtschaftlichen Gesamtnachfrage überhaupt keine Rolle.
  3. Die Ankäufe von Staatsanleihen durch die EZB (als Kreditgeber letzter Hand) stellten Schritte in die Hyperinflation dar.
  4. Und schließlich sei (bessere) Wettbewerbsfähigkeit die Ursache von Außenhandelsüberschüssen und nicht etwa ungenügende (Binnen-) Gesamtnachfrage im Verhältnis zum volkswirtschaftlichen Gesamtangebot.

Diese verbreiteten Mythen sind nicht ungefährlich – weder für die Eurozone noch für die Weltwirtschaft.

Sie drohen für die schwächsten Eurozonen-Länder zur Falle für eine permanente Depression zu werden oder im Zeitablauf gar zur Katastrophe des Zusammenbruchs der EU-Währungsunion selbst.

Im einen wie im anderen Fall wird das europäische Projekt nicht mehr Symbol für Wohlstand, sondern Symbol für Armut sein. Welch eine tragische Entwicklung!

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