Das griechische Referendum als Akt der Verzweiflung

Ein Artikel von Niels Kadritzke

Zwar bleibt immer noch ein Funken Hoffnung, dass sich die Konfrontation zwischen der griechischen Regierung und den drei „Institutionen“ noch in einen für alle Seiten gerade noch hinnehmbaren Kompromiss auflösen könnte, es spricht jedoch alles dafür, dass der Weg zu dem Referendum am 5. Juli für die griechische Seite ein Akt der Verzweiflung war, den man auf keinen Fall eingeplant hatte. Verzweiflung zum einen über die Zumutungen der Verhandlungspartner für die griechische Seite im letzten Stadium der Verhandlungen in Brüssel. Zweitens die Enttäuschung über die vollständige politische Isolation innerhalb der Euro-Gruppe vor allem auch über die mangelnde Solidarität der Südeuropäer. Und drittens stand Tsipras auch vor dem Problem der politischen Durchsetzbarkeit jeder Art von Kompromiss in seiner Partei Syriza, ja sogar innerhalb seines eigenen Kabinetts. Auch in Athen wird gerätselt was Tsipras mit dem Referendum tatsächlich erreichen will.

In Ergänzung des Beitrags von Jens Berger beschreibt Niels Kadritzke das Drama vom Wochenende aus griechischer Sicht.

Es fällt schwer, in dem Beschluss der Regierung Tsipras, in der jetzigen Situation ein Referendum über den Stand der Verhandlungen in der Brüsseler Gruppe zu veranstalten (also zwischen der griechischen Delegation und den drei Institutionen EU-Kommission, EZB und IWF), etwas anderes als einen Akt der Verzweiflung zu sehen. Ich werde diese Ansicht im Folgenden begründen.

Ein Funken Hoffnung bleibt

Vorweg verweise ich allerdings auf eine andere Möglichkeit, die dramatische Zuspitzung im Verhältnis zwischen den drei Institutionen und der Regierung Tsipras zu interpretieren. Obwohl diese Interpretation phantastisch – und vor allem verzweifelt optimistisch – klingt, kann man sie derzeit nicht von vornherein als Verschwörungsphantasie der absurden Art abtun. Es gibt jedenfalls Athener Kreise, die sich vorstellen (oder wünschen), dass die Eskalation vom vergangenen Wochenende ein Drama ist, das über die Inszenierung eines scheinbar unauflösbaren Konflikts am Ende zur „Katharsis“ führen könnte, das heißt zur Auflösung der Konfrontation durch einen für alle Seiten gerade noch hinnehmbaren Kompromiss. Sodass Griechenland, Europa und die Welt aufatmen könnten, jedenfalls für einige Zeit.

Die beschwörende Hoffnung, dass an diesem Szenario etwas dran sein könnte, macht die schöne Theorie allerdings nicht realistischer. Dennoch gibt es einige Anhaltspunkte, dass die Sache mit dem Grexit – um das Drama bei seinem realistischen Namen zu nennen – noch nicht entschieden ist.

Da gibt es erstens Äußerungen aus Brüssel (wie fast immer von EU-Kommissionspräsident Juncker und Finanzkommissar Moscovici), die noch einen letzten Spielraum für weitere Verhandlungen erkennen lassen. Ähnliche zarte Andeutungen kommen von Frankreichs Finanzminister Sapin und aus Italien, was im Falle beider Länder verständlich ist, weil der ökonomische und politische fallout eines Grexit gerade an den Aktien- und Bondmärkten dieser beiden Länder abzulesen sein wird. In der Tat soll es hinter den Kulissen intensive französische Bemühungen geben, noch vor einem Referendum zu neuen Verhandlungen zu kommen, was aber in Berlin ausdrücklich ausgeschlossen wird.

Da gibt es zweitens das bemerkenswerte Engagement der USA, das sich nicht (wie bislang üblich) darauf beschränkt, dass Finanzminister Jack Lew beide Seiten zu einem dringend erforderlichen Übereinkommen mahnt (und dabei vor Kritik gerade an der deutschen Rolle nicht zurückscheut). Auch am Samstag hat Lew ausführlich mit Schlüsselpersonen wie Lagarde, Schäuble und Sapin telefoniert und seine Besorgnisse mitgeteilt. Bedeutsam ist dabei, dass Lew – nach eigenem Bekunden – seinen Gesprächspartnern klar gemacht hat, dass man nach dem griechischen Plebiszit auch über eine „wahrscheinliche Schuldenentlastung für Griechenland“ diskutieren müsse. Das Fehlen einer Aussage über dieses Thema ist einer der Hauptgründe, warum die griechische Regierung das letzte Vorschlagspapier der Institutionen als unakzeptabel zurückgewiesen hat. Gestern Abend hat auch noch Präsident Obama eingegriffen und in einem Telefonat mit Angela Merkel dafür geworben, „jeden Versuch zu unternehmen, auf einen Kurs zurückzukehren, der Griechenland erlaubt, seine Reformen und seine wirtschaftliche Entwicklung innerhalb der Eurozone fortzusetzen“. Mit derselben Botschaft hat sich Obama in Paris bei Hollande gemeldet.

Und da ist drittens die bemerkenswerte Äußerung des griechischen Finanzministers Varoufakis, wonach noch immer die Chance bestehe, die Verhandlungen fortzusetzen und mit einem Kompromiss abzuschließen, der es der Regierung Tsipras erlauben würde, dem Volk bei dem für nächsten Sonntag angesetzten Referendum ein „Ja“ zu einer Vereinbarung zu empfehlen.

Obwohl die Chancen, dass es diese Woche noch zu einer solchen Entwicklung kommt, eher bescheiden sind, wäre es falsch, eine solche Wende der Dinge auszuschließen. Wenn es denn so käme, würde das allerdings noch lange nicht heißen, dass ein solches Szenario vorweg geplant gewesen wäre. Vielmehr spricht alles dafür, dass der Weg zu dem Referendum am kommenden Sonntag dem 5. Juli für die griechische Seite ein Schritt der Verzweiflung war, den man auf keinen Fall eingeplant hatte.

Das Referendum als Akt der Verzweiflung

Diese Verzweiflung setzt sich aus drei Komponenten zusammen, die in der Summe den griechischen Regierungschef zu seinem Entschluss vom Freitagabend geführt haben.

  1. Der Verlauf der Verhandlungen

    Da ist erstens die Verzweiflung der griechischen Seite über die Zumutungen, die ihr im letzten Stadium der Verhandlungen, am Donnerstag letzter Woche, vorgesetzt wurden. Wie überrascht die Regierung in Athen von diesem Lauf der Dinge war, hat ein enger Mitarbeiter von Tsipras gegenüber der linken Tageszeitung Efemerida ton Syntakton (vom 27. Juni) so beschrieben: „Die griechische Regierung hat einen umfassenden und glaubwürdigen Vorschlag auf den Tisch gelegt, der am Montag auf dem Gipfeltreffen als eine sehr gute Verhandlungsgrundlage gewürdigt wurde“. Dann aber habe folgte am Mittwoch die „kalte Dusche“, als die Verhandlungspartner plötzlich „irrationale Vorschläge machten, die für keine griechische Regierung akzeptabel gewesen wären“.

    Die Zumutungen, die als unakzeptabel empfunden wurden, betreffen zum Beispiel das Bestehen auf dem Mehrwertsteuersatz von 23 Prozent für die Gastronomie und für Hotelübernachtungen, die den Tourismussektor besonders hart treffen müssen; aber auch die Abschaffung einer minimalen Beihilfe von 200 Euro (namens EKAS) für die Bezieher von Renten weit unterhalb der Armutsgrenze. Diese Beihilfen will die Regierung ab 2018 etappenweise abschaffen, während die Gläubiger darauf bestehen, mit dem Abbau sofort zu beginnen (und verlangen, schon 2016 ein Fünftel des EKAS-Etats einzusparen). Ein dritter Punkt ist das Arbeitsrecht, das als Konfliktherd eigentlich schon neutralisiert war. Hier fordern die Partner, dass die Regierung keine ihrer (angekündigten) Gesetzesänderungen ohne einhellige Zustimmung aller drei Institutionen vornehmen darf.

    Die Summe dieser Forderungen (eine genaue Liste wurde von der Kathimerini vom 26. Juni dokumentiert) wirkten auf die Syriza-Vertreter wie die Aufforderung zu einer bedingungslosen Kapitulation, also zur Aufgabe noch der allerletzten Positionen ihres Wahlprogramms. Und das vor dem Hintergrund, dass die Regierung in den Verhandlungen – auch unter dem Druck der stagnierenden Konjunktur und der sinkenden Steuereinnahmen – mindestens schon 75 Prozent ihrer ursprünglichen Vorstellungen für eine „soziale Abfederung“ der Krisenfolgen aufgegeben hatte (wie Finanzminister Varoufakis ehrlicherweise erklärt hat).

    Entscheidend für die Ablehnung der Troika-Position war aber nicht eine dieser neuen und verschärften Forderungen, sondern eine Nicht-Aussage:

    Zu keinem Zeitpunkt waren die „Partner“ bereit, eine Diskussion über das Thema „ Schuldenentlastung“ zuzusagen, geschweige denn konkrete Entlastungsangebote auszusprechen. Wäre eine solche Aussage gekommen, hätte die Regierung Tsipras der Syriza und der Parlamentsfraktion fast jedes weitere Zugeständnis an die Gläubiger weit eher „verkaufen“ können.

    Wie entscheidend diese Frage ist, belegt nicht zuletzt die Propagandaschlacht, die seitdem ausgebrochen ist. Seit gestern wurde aus Berlin und Paris und aus Brüssel auffällig heftig beteuert, Merkel und Hollande hätten in ihren letzten Telefonaten mit Tsipras – vor dessen Referendums-Entscheidung – eine Diskussion über die Frage der Schuldenerleichterung verbindlich zugesagt. Und die EU-Kommission verstand sich sogar zu einer offiziellen Mitteilung an das griechische Volk, in der sie „im Geiste der Transparenz“ die letzten Gesprächsangebote der drei Institutionen offenlegt. Danach wurden der griechischen Seite noch mehrere Konzessionen gemacht, darunter die Minderung der Mehrwertsteuer für Hotel-Übernachtungen von 23 auf 13 Prozent und ein flexiblerer Termin für den Beginn der Maßnahmen gegen massenhafte Frühverrentungen.

    Der wichtigste Punkt dieser Mitteilung ist jedoch folgender Satz über den Stand der Dinge am Abend des 27. Juni: „Es bestand die gemeinsame Auffassung aller beteiligten Seiten, dass diese Sitzung der Eurogruppe eine umfassende Übereinkunft über Griechenland erzielen sollte, … die (auch) die künftigen Finanzierungsbedürfnisse wie auch die Tragfähigkeit (viability) der griechischen Schulden abdecken sollte.“ Ferner habe dieser Vorschlag auch ein Paket mit Maßnahmen zur ökonomischen Entwicklung und zur Beschäftigungspolitik enthalten (Wiedergabe des Inhalts nach Kathimerini vom 28. Juni).

    Zu dieser Mitteilung aus Brüssel ließ ein Sprecher von Tsipras allerdings verlauten, ein Text dieses Inhalts sei der Athener Regierung niemals zugestellt worden. Das „Ultimatum“ das der griechischen Delegation in Brüssel am 25. Juni von Eurogroup-Chef Dijsselbloem gestellt wurde, habe immer noch die 23 Prozent MWS für Übernachtungen enthalten.: „Wenn es am folgenden Tag eine Änderung der Position gegeben hat, ohne dass dies der griechischen Regierung offiziell übermittelt wurde, ist dies ein Thema, das die Institutionen betrifft.“

    Wer wann was und wem übermittelt hat, werden irgendwann die Historiker herausfinden. Zu einem vorläufigen Urteil kommt allerdings der „Guardian“, der gestern in seiner Analyse der Ereignisse feststellte: „Die Europäische Kommission sagte gestern – zum ersten Mal in der Krise – dass sie Griechenland eine Schuldenentlastung anbieten wollte, was die zentrale Forderung von Tsipras während fünf Monaten stagnierender Verhandlungen gewesen war.“ Wenn es diese „potentielle Konzession“ gegeben hat, sei sie jedenfalls zu spät gekommen, stellt der Guardian fest.

  2. Die politische Isolation innerhalb der Euro- Verhandlungen

    Das zweite Element der Verzweiflung des Alexis Tsipras ist zweifellos die Isolierung Griechenlands, die während der Verhandlungen der Eurogruppe und auf den EU-Gipfeln nie durchbrochen werden konnte. Dies dürfte der Faktor sein, der für Tsipras und sein Verhandlungsteam die größte Enttäuschung gewesen ist und die subjektiv am meisten schmerzt. Die neue griechische Regierung, die sich in ihrem Wahlkampf nicht nur den Griechen, sondern allen gutwilligen und fortschrittlichen Menschen in ganz Europa – vor allem im Süden der Eurozone – als neue offensive politische Kraft und Orientierungspunkt auch für eine linke Mitte angeboten hatte, fand keinerlei Unterstützung auf der Ebene der Ministerkonferenzen und der Regierungen – die aber nun einmal ihre Verhandlungspartner sind und eben nicht die spanische Podemos oder die portugiesischen Kommunisten.

    Dass die Regierungen Spaniens und Portugals keinen Hauch von „Solidarität“ zeigten, war natürlich ebenso erwartbar wie die beinharte Haltung der Iren, der Finnen und der Niederländer. Umso größer war die griechische Enttäuschung über die Franzosen und Italiener. Dass letztere nie bereit waren, sich für einzelne, sogar wohl begründete Forderungen der griechischen Partner einzusetzen, liegt gewiss nicht nur an dem Einfluss, den Berlin nun einmal dank seines schieren Machtgewichts in Paris und Rom ausüben kann. Diese für Athen so fatale Konstellation zeigt vielmehr auch, dass gerade die „Wackelkandidaten“ in der Eurokrise unbedingt vermeiden wollen, mit dem „Sonderfall“ Griechenland in einen Topf geworfen zu werden. Insofern war der folgenreichste unter den psychologisch-taktischen Fehler, die sich Finanzminister Varoufakis im Zuge seiner undiplomatischen Klartext-Auftritte gestattet hat, sein Interview, in dem er dem Kollegen Matteo Renzi bescheinigen musste, das Italien im Grunde auch ein bankrottes Land sei.

    Natürlich ist es richtig, dass die Syriza-Regierung von den meisten Euro-Partner auch deshalb so hart angefasst wurde, weil man die anderen linken Kräften des Südens nicht ermutigen wollte. Aber genau das mussten die Syriza-Strategen wissen – schließlich hatten sie es selbst immer vorausgesagt. Umso erstaunlicher ist, dass gerade in dieser Hinsicht bei der Regierung Tsipras keinerlei Strategie, geschweige denn Taktik zu erkennen war. Dass man innerhalb der Eurozone keine Mehrheit hinter sich bringen kann, war von vornherein klar, aber dass die griechische Regierung in allen entscheidenden Situationen allein gegen eine nahezu geschlossene Front von 18 Regierungen der Euro-Zone stand, muss dann doch eine überraschende und entsprechend deprimierende Erfahrung gewesen sein.

    Der einzige Regierungschef, der sich beim EU-Gipfel vom 24. Juni noch ein Stück weit mit Tsipras solidarisierte, war (nach einem Bericht der Kathimerini) der zypriotische „Landsmann“ Anastassiadis, der denn auch als einziger die Tragfähigkeit der griechischen Schulden ansprach und eine „Erleichterung der Schuldenlast“ forderte. Allerdings wurde dann gerade der zyprische Staatspräsident von Frau Merkel als positives Beispiel eines Politikers gelobt, der die schwere Last der Verhandlungen mit den Gläubigern auf sich genommen und Zypern erfolgreich aus der Krise geführt habe. Was die Kanzlerin nicht erwähnte: Die Bankkontrollen, die Zypern im März 2013 einführen musste, wurden erst zwei Jahre später, im April dieses Jahres, endgültig aufgehoben.

  3. Die Situation in der eigenen Partei

    Der dritte Grund der Verzweiflung ist ganz sicher das Problem, das Tsipras mit der Durchsetzbarkeit jeder Art von Kompromiss in seiner Partei bekommen hätte. Schon die Zugeständnisse, die die griechische Delegation in Brüssel mit dem am Montag voriger Woche präsentierten – und zunächst höchst wohlwollend aufgenommenen – Gesamtsparpaket gemacht hat, stießen in der Syriza wie auch in der eigenen Parlamentsfraktion – und selbst bei Ministern der Regierung – auf scharfe Kritik. Vertreter des linken Flügels bezeichneten die Konzessionen in der Besteuerungs- wie in der Rentenfrage als „Ausverkauf“ des Programms, mit dem die Syriza in den Wahlkampf gezogen war. In der Umgebung von Tsipras wurden die potentiellen „Dissidenten“ bei der Abstimmung über einen „ehrenvollen“ Kompromiss“ im Parlament noch vor einer Woche auf höchstens 10 Stimmen eingeschätzt (von denen fünf zu der „Kommunistischen Organisation Griechenlands“ KOE gehören). Aber das war schon damals eine viel zu optimistische Annahme.

    Sehr viel stärker und lauter artikulierte sich der Protest allerdings in der Partei. Bei der Abstimmung im Zentralkomitee der Syriza am 24. Mai hatte die Resolution der „linken Plattform“ die Unterstützung von 75 der 200 Mitglieder (während 95 für die Position der Parteiführung stimmten, der Reste waren Enthaltungen). In dem Text der innerparteilichen Opposition wurden die zahlreichen „Rückzieher“ der Regierung in den Verhandlungen scharf kritisiert. Da kein „ehrenhafter Kompromiss“ erreichbar sei, müsse Tsipras in die Offensive gehen und unverzüglich unter anderem die Banken nationalisieren und die Rückzahlung aller Staatsschulden einstellen, und zwar „ungeachtet aller Schwierigkeiten, die dies mit sich bringen könnte“. Zudem müsse die Regierung „entschlossen der Propaganda der herrschenden Kreise entgegentreten, die das Volk mit dem Szenario einer vollen Katastrophe terrorisiert, die angeblich über das Land kommen wird, falls der Schuldendienst eingestellt und am Ende der Austritt aus der Eurozone vollzogen wird“.

    Mit anderen Worten: Eine Minderheit von fast 40 Prozent stimmte bereits Ende Mai für den „Bruch“ (riksi) mit den Verhandlungspartnern. Und das nach einem Zwischenbericht von Alexis Tsipras über den „Brüsseler Prozess“, in dem er danach noch weitere schmerzhafte Zugeständnisse, also „Rückzieher“ in den Augen der linken Kritiker machen musste. Das heißt: der linke Parteiflügel orientiert sich nach wie vor an einem politischen Programm, das die Syriza-Führung vor den Wahlen von 2015 bewusst über Bord geworfen hatte – und mit dem die Partei am 25. Januar 2015 kaum über 15 Prozent der Wählerstimmen gekommen wäre. Eine volle und solidarische Unterstützung für eine Regierung, die sich in einem überaus schwierigen Verhandlungsstadium befindet, sieht anders aus.

    Noch schwieriger für Tsipras ist der Umstand, dass der linke Parteiflügel selbst innerhalb der eigenen Regierung opponiert, vertreten durch den Umwelt- und Energieminister Lafazanis. Der ist zugleich formelles Oberhaupt der Linken Plattform und er hat vor den Wahlen ganz offen erklärt, dass Griechenland aus der Eurozone austreten solle. Auch als Minister sah er „eine Vielfalt von Alternativen“ jenseits der EU, die er allerdings nie konkretisieren konnte. Die einzige reale „alternative“ Finanzquelle, auf die Lafazanis seine Hoffnung setzte, hat sich bereits als Seifenblase erwiesen: Russische Kredite sind nicht im Angebot, das musste der Minister in Moskau erfahren. Dort machte man ihm klar, dass Griechenland zwar ein interessanter Partner für Pipeline-Projekte sei, seine Finanzprobleme aber besser innerhalb der Eurozone lösen solle.

    Aktuell muss sich der linke Flügel auf die Klage beschränken, dass die Regierung keinen „Plan B“ für eine Zukunft jenseits der Eurozone entwickelt hat. Das ist zwar richtig, aber an die falsche Adresse gerichtet. Denn einen Plan B hätte sie selber vorschlagen können, wenn es denn die Voraussetzungen dafür gäbe. Das ist nicht der Fall, wie Lafazanis inzwischen selbst einräumen muss, indem er im Hinblick auf die Gläubiger-Troika klagt, dass sie das griechische Volk durch „das Vorenthalten von Krediten“ erpressen wolle.

    Einen Plan B hat auch der qualifizierteste Ökonom der linken Plattform nicht. Kostas Lapavitsas Konzept, wie der von ihm befürwortete Grexit zu bewältigen wäre, beruht auf abenteuerlich naiven Annahmen (siehe dazu sein Interview mit der BILD-Zeitung, NDS vom 18. Juni 2915). Die vier Säulen dieses Konzept sind: Einstellung des Schuldendienstes, Nationalisierung der Banken, Austritt aus dem Euro und Ende der Sparpolitik. Ins realökonomische übersetzt heißt das: kein Zugang zu neuen Finanzmitteln jenseits neu gedruckter Drachmen; sowie Übernahme weiterer Schulden , weil die nationalisierten Banken auf Verbindlichkeiten in Euro und auf Unmengen fauler Kredite sitzen. Wie man angesichts dessen und der Einführung einer inflationären Drachme die Sparpolitik beenden will, bleibt das Geheimnis des „linken Ökonomen“ Lapavitsas.

    Eine offensive Auseinandersetzung mit dem linken Flügel seiner Partei hat Tsipras nie ins Auge gefasst, weil er sich immer als die große Integrationsfigur sah und sicher sein konnte, mit seinem charismatischen Auftreten – und dem Wählervotum im Rücken – selbst noch die linken Splittergruppen innerhalb der Partei (wie die KOE) bändigen zu können. Doch diese Rolle kann er als Ministerpräsident einer Regierung, die sich erklärtermaßen mit den Brüsseler Institutionen zusammenraufen wollte, nicht mehr durchhalten. Schon gar nicht, wenn die „Partner“ so erdrückende Forderungen stellen wie in der letzten Verhandlungsphase (siehe Punkt 1).

    Damit stand Tsipras vor der Frage, ob er einen nicht nur „ehrenvollen“, sondern auch schmerzvollen Kompromiss im Rahmen der Brüsseler Gruppe im griechischen Parlament vorlegen kann, ohne den Verlust der „eigenen Mehrheit“ zu riskieren. Das würde voraussetzen, dass er bereit ist, den Verlust linker Syriza-Abgeordneter durch Stimmen anderer Parteien (Pasok, Potami) zu kompensieren. Dazu war und ist Tsipras nicht bereit.

    Ob er dem geschilderten Dilemma durch Ausrufung des Referendums entrinnen kann, ist allerdings sehr zweifelhaft. Seine neue Interpretation des Referendums, die er gestern Abend im Fernsehen dem Volk unterbreitet hat, ist wohl kaum geeignet, den linken Flügel seiner Partei einzubinden. Das Nein zum letzten Verhandlungsangebot von Brüssel, erklärte Tsipras, schaffe die Basis für eine bessere Verhandlungsposition in Brüssel – wo der Kampf um einen ehrenvollen Kompromiss nach dem 5. Juli weitergehen soll. Das gestärkte und erneuerte demokratische Mandat der griechischen Regierung soll die andere Seite beeindrucken und zu mehr Konzessionen zwingen. Wieso das funktionieren soll angesichts von Verhandlungspartnern, die sich ebenfalls auf ihre Wähler berufen werden, ist das große Geheimnis des Alexis Tsipras?

Was will Tsipras?

In Athen wird jetzt viel gerätselt, was Tsipras tatsächlich will. Glaubt er wirklich an den Effekt eines überzeugenden Nein? Und wie weit kann er in der nächsten Verhandlungsrunde gehen, wenn es die nach einem „Ochi“ tatsächlich geben sollte?

Oder plant er womöglich, mit der Schreckensvision des „Grexit“, die mit den verhängten Bankkontrollen erstmals in den Alltag der Griechen einbricht, den linken Syriza-Flügel in die Schranken weisen zu können?

Die letztere Spekulation ist nicht so absurd, wie sie klingt. Denn wenn die Rechnung von Tsipras aufgeht, wenn also ein „Ochi“ den Weg zu neuen Verhandlungen und einem gerade noch ehrenvollen Kompromiss eröffnet, ragt am Horizont schon die nächste Felswand in die Höhe. Noch schwieriger als der verpasste Kompromiss, der am heutigen 30. Juni auch offiziell begraben wurde, dürfte ein Konsens in der nächsten Verhandlungsphase zu erreichen sein. Denn dann wird es um das „dritte Rettungspaket“ gehen, ohne das Griechenland die nächsten Jahre nicht innerhalb der Eurozone bestehen kann.

Das dritte Memorandum ist der „Elefant“ in jedem künftigen Verhandlungsraum, von dem niemand spricht. Die Regierung in Athen will davon offiziell ebenso wenig wissen wie die CDU-Fraktion im Bundestag. Und für die linke Syriza wäre ein drittes Programm tatsächlich die letzte „rote Linie“, die sie niemals überschreiten würde. Spätestens dann, wenn eine Syriza-Regierung (vorausgesetzt sie übersteht das Referendum) an diesen Punkt neuer Verhandlungen käme, würde nach der derzeitigen Stimmungslage die Spaltung der Partei auf der Tagesordnung stehen.

Dabei kann es in der Realität nur darum gehen, wie dieses nächste Rettungspaket –die wirklich letzte Chance zur Verhinderung eines Grexit – zu gestalten wäre. Erstens inhaltlich, in Bezug auf eine Schuldenentlastung und eine aktive Wirtschaftsbelebung, und zweitens formal, in Bezug auf faire und gleichberechtigte Verhandlungen ohne Ultimaten oder Erpressungsversuche.

Was die inhaltliche Gestaltung betrifft, so müsste die griechische Seite endlich auch einen eigenen Beitrag zu einem ehrenvollen Kompromiss leisten, den bislang alle Athener Regierungen – einschließlich der Regierung Tsipras – schuldig geblieben sind: jene substantiellen Reformen, die nicht von der Troika oder den Gläubigern, sondern von der griechischen Realität diktiert werden, weil sie einfach notwendig sind, damit Griechenland zu einem vollwertigen und gleichwertigen Mitglied der europäischen Staatengemeinschaft werden kann. Bei seinem ersten Besuch in Berlin hat Finanzminister Varoufakis betont, dass 70 Prozent der auf dem Tisch liegenden Reformen im wohlverstandenen Interesse der Griechen sind. Von solchen Reformen war in den letzten Monaten viel zu wenig die Rede, in Athen wie in Brüssel.

An dieser Stelle will ich nicht erörtern, welche taktischen und diplomatischen Fehler die Athener Regierung in den monatelangen Verhandlungen mit den Institutionen gemacht hat. Dazu wird man irgendwann noch viel erfahren, was wir heute nicht wissen. Aber was die Strategie der Verhandlungsführung betrifft, so kann man Tsipras und seinen Kollegen auch bei wohlwollender Betrachtung einen Vorwurf nicht ersparen: Sie hätte in punkto wirklich notwendiger Reformen viel weiter gehen müssen. Und sie hätte damit ihre Verhandlungsposition nur verbessern können. Wenn sich die Regierung darauf konzentriert hätte, nach spätestens zwei Monaten alle jene „unabdingbaren“ Reformen nicht nur anzukündigen, sondern anzupacken, die von griechischer Seite seit 2010 versprochen, aber nicht geliefert wurden, hätte sie viel mehr erreicht als mit fünf Monaten des Herumtaktierens und PR-Duellierens mit den Verhandlungspartnern. Man hätte erstens die Lähmung der Realwirtschaft vermieden, die Griechenland Verhandlungsposition stärker untergraben hat als alle Griechenland-Feinde zusammengenommen. Man hätte zweitens der eigenen Bevölkerung klargemacht, was ihr selbst als Beitrag zur Überwindung der langjährigen Krise abverlangt werden muss. Und sie hätte drittens in der europäischen Öffentlichkeit eine Wirkung erzielt, die es den Griechenland-Bashern und Grexit-Strategen in der Eurozone viel schwerer gemacht hätte, der Tsipras-Regierung das minimale Entgegenkommen zu verweigern, das deren pro-europäische Politik gegenüber der eigenen Bevölkerung glaub- und vertrauenswürdig machen würde.

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