Der so genannte Sachverständigenrat ist nur noch eine Maschinerie der Meinungsmache.

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Freunde warnen mich immer wieder davor, einen Vergleich mit der Nazizeit anzustellen, weil dies einen von vornherein diskriminiert. Aber was ist, wenn die Parallelen erdrückend sind? Was ist, wenn genauso professionell gelogen wird und die Meinungsmache gleichgeschaltet ist? Darf man dann immer noch nicht darauf hinweisen, wie sich die Bilder und die Methoden gleichen? Wir haben unsere Väter gefragt, warum sie der durchschaubaren Propaganda glaubten. Wenn sie klug waren, verwiesen sie auf die teuflischen Methoden und die gleich lautenden Stimmen. Meist waren sie aber nur hilflos. So wie wir heute, wenn über uns eine Armada von Propagandisten herfällt wie jetzt bei der Verbreitung der Botschaften: Der Aufschwung ist da! Wir verdanken ihn den Reformen! Die Reformdividende nicht verspielen! Weitermachen mit den Reformen! – Das Gutachten des Sachverständigenrates, seine Präsentation und die Begleitpropaganda – mustergültig in „Spiegel Online“ – sind ein eindrucksvolles Anschauungsmaterial für diese Beobachtung. Albrecht Müller.

Um die Aufregung zu dämpfen, will ich gerne konzedieren, dass die Propaganda von heute nicht der Vorbereitung eines Holocaust dient. Sie dient nur dazu, die Mehrheit der arbeitenden Menschen und die Arbeitslosen, Rentner und Armen in Schach zu halten; vor allem dient sie der Zerstörung (= „Reformen“) wichtiger gesellschaftlicher Einrichtungen, damit am Zerstörungsprozess kräftig verdient werden kann. Schauen Sie sich die folgende Abbildung an. Wir werden sie immer wieder zeigen, weil sie ein herausragendes und auch freches Dokument der Verfilzung von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft ist. Im konkreten Fall erklärt diese Abbildung den Tenor des Sachverständigenrats-Gutachtens mehr als 1000 Analysen der Zahlen:

Vorsorge aus erster Hand

Hier sehen Sie den so genannten Wissenschaftler und Vorsitzenden des so genannten unabhängigen Sachverständigenrates anlässlich einer Werbeaktion für die Riester-Rente und die Rürup-Rente im Auftrag und zu Gunsten des Finanzdienstleisters AWD und der Kooperationspartner SuperIllu und FocusMoney. Interessant ist, dass Rürup gegen alle Regel der ökonomischen Vernunft in der linken Spalte dazu auffordert, staatliche Subventionen zu nutzen, auf Deutsch: abzuzocken. Das Ganze wird abgesegnet vom Chef des Hannoveraner Finanzdienstleisters AWD, Carsten Maschmeyer. Alle haben gut lachen, einschließlich Walter Riesters. Sie alle verdienen am Werk der Zerstörung des Vertrauens in die gesetzliche Rente.

Unsere Bundeskanzlerin, die gestern vermutlich genauso herzlich die Hand von Professor Rürup gedrückt hat, kennt die Interessenverflechtungen natürlich nicht, könnten arglose Zeitgenossen meinen. Sie spielt das Spiel mit, denn auch für sie zahlt sich das Spiel aus. Welch ein wundersamer Zufall: die Überschrift und Hauptbotschaft des Sachverständigenratsgutachtens lautet fast genau so wie die Überschrift eines Artikels von Angela Merkel in der Welt am Sonntag vom vergangenen Sonntag: „Das Erreichte nicht verspielen.“ Der Sachverständigenrat hilft der Bundeskanzlerin im Streit mit Teilen der SPD um Korrekturen bei der Reformpolitik: Verlängerung ALG1 für Ältere, abmildernde Korrekturen bei der Rente mit 67 zum Beispiel.
Und selbstverständlich hilft dann der Vorsitzende des Sachverständigenrates Bert Rürup der Kanzlerin mit seiner, der gleich lautenden Botschaft. Nichts ändern an den Reformen. Weitermachen. Rürup weiß, was er dem Handaufleger aus Hannover schuldig ist: die weitere Minderung der Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Rente durch Abschläge von zweimal 3,6%, wenn ein Arbeitnehmer trotz Erhöhung des Renteneintrittsalters mit 65 in Rente gehen will. Ein exzellentes Verkaufsargument für die Finanzdienstleister.

„Das Erreichte nicht verspielen“ ist eine geschickte rhetorische Formel. Der Satz signalisiert, es sei etwas erreicht worden, und er warnt davor, die Richtung der Politik zu verändern, eine Kurskorrektur vorzunehmen.

Wie verlogen der Sachverständigenrat dabei vorgeht, möchte ich Ihnen am Beispiel des ersten Satzes des Sachverständigenratsgutachtens, Erstes Kapitel, mit der gleich lautenden Überschrift „Das Erreichte nicht verspielen“ sichtbar machen. Dort heißt es:
„Nach dem überraschend starken Aufschwung im Jahr 2006, der sich in einer Zunahme des Bruttoinlandsprodukts von nahezu 3% niedergeschlagen hatte, präsentierte sich die deutsche Volkswirtschaft im Jahr 2007 weiterhin in guter Verfassung.“ Bert Rürup spricht von Reformdividende. „Dividende“ signalisiert etwas positives, die Kombination mit Reformen soll signalisieren, wem wir das Positive zu verdanken haben.

Schauen wir uns ein paar Fakten an:

Ein starker Aufschwung? Den muss man mit der Lupe suchen; sowohl im Vergleich mit dem letzten kleinen Aufschwung von 1997 bis 2000 als auch im Vergleich mit anderen Ländern ist die gegenwärtige Performance ausgesprochen mickrig:

Hier zunächst die Reihe von vier Jahren „Reformerfolg“ 2004 bis 2007:
1,1; 0,8; 2,9; 2,6 – und prognostizierte 1,9 für 2008.

Und hier die Reihe 1997 bis 2000*:
1,4; 2,0; 2,0; 2,9

(*Quelle: BMA, Statistisches Taschenbuch 2003)

Selbst dieser kleine Aufschwung aus der Zeit vor den Schröder-Reformen, vor der Agenda 2010 und vor Hartz I bis IV war ergiebiger als der jetzige.

Der jetzige ist auf keinen Fall ein „starker Aufschwung“ und er umfasst die binnenwirtschaftliche Entwicklung fast nicht. Das wird dann sichtbar und augenfällig, wenn wir mit anderen, ähnlichen Ländern vergleichen. Ich habe mir die Zahlen aus dem Sachverständigenratsgutachten herausgesucht:

Tabelle 1: Bruttoinlandsprodukt real

  2004 2005 2006 2007
Deutschland 1,1 0,8 2,9 2,6
EU 2,4 1,8 3,0 2,9
Euro-Raum 2,0 1,5 2,8 2,6
Schweden 4,1 2,9 4,2 3,3
Luxemburg 4,9 5,0 6,1 5,4
Belgien 3,0 1,1 3,2 2,6
Finnland 3,7 2,9 5,0 4,2
Frankreich 2,5 1,7 2,0 1,9

Selbst Frankreich war in diesen vier Jahren besser als wir. Die EU war im Durchschnitt besser, Luxemburg, Finnland und Schweden sowieso. Leben Finnland und Schweden nicht in einer globalisierten Welt? Auch Belgien nicht?
Hat Schweden weniger Sozialstaat als wir? Und weniger Staat? Keinesfalls.

Die Zahlen für eine andere wirtschaftliche Größe, den privaten Verbrauch, deuten an, woran es bei uns mangelt: an innerer Dynamik. Hier ein Vergleich der Entwicklung des privaten Verbrauchs im gleichen Zeitraum für Deutschland und den Euro-Raum:

Tabelle 2: Privater Konsum

  2004 2005 2006 2007
Deutschland 0,2 -0,1 1,0 -0,1
Euro-Raum 1,6 1,5 1,8 1,5

Wenn Sie sich die Zahlen Deutschlands beim privaten Konsum anschauen und diese mit dem Euro-Raum zum Beispiel vergleichen und dann sich noch einmal zu Gemüte führen, was der Sachverständigenrat in seinem ersten Satz von Kapitel eins schreibt,
dann erkennen sie, wie verlogen diese Art von Wissenschaft ist. Sie behauptet, die deutsche Volkswirtschaft befinde sich in einer guten Verfassung. Das kann man vom privaten Verbrauch und damit verbunden z.B. von den Einzelhandelsumsätzen partout nicht sagen. Da können die Einzelhändler, die Handwerker und die auf den Binnenmarkt konzentrierten Industriebetriebe nur lachen. Sie sollten den Sachverständigenrat mit Protest-E-Mails und Protest-Briefen überschütten. Denn sie gelten dort offensichtlich nicht als Teil unserer Volkswirtschaft. Das Denken des Sachverständigenrates wird offenbar vom Wohlbefinden der Exportwirtschaft und der Finanzindustrie beherrscht.

Zur Bewertung dieses so genannten Gutachtens siehe übrigens auch den Kommentar von Thomas Fricke in der Financial Times Deutschland: „Weisheit oder Voodoo-Kunst?“ Die Gleichschaltung hat offensichtlich noch nicht alle erfasst. Das ist tröstlich.

Die SPD sieht übrigens nach diesem Propagandafeuerwerk aus wie ein begossener Pudel. Selbst schuld könnte man meinen, denn sie hat mit der Ernennung von Bert Rürup und anderen einschlägigen Mitgliedern des Sachverständigenrates wesentlich dazu beigetragen, dass dieses Gremium sich eher von neoliberalen Ideologien und von privaten Interessen leiten lässt als von Sachverstand.

Ich habe mich zu Anfang auf Spiegel Online als beispielhaft für die Begleitpropaganda zum Sachverständigenrats-Gutachten und zum Dauerthema Reformen bezogen. Dort findet sich kaum ein kritisches Wort. Zwei Beispiele seien Ihrem kritischen Verstand empfohlen. Die Lektüre lohnt sich nur, wenn man die Mechanismen der Propaganda studieren will, der wir ausgesetzt sind:

  1. REFORM-STREIT
    Weise gegen Schwarz-Rote
    Von Michael Kröger und Carsten Volkery

    Gefährlich, widersprüchlich, kontraproduktiv – die fünf Wirtschaftsweisen gehen mit der Politik der Großen Koalition hart ins Gericht. SPIEGEL ONLINE hat verglichen: Das fordern die Experten – das plant die Regierung.
    Berlin – Das Papier steckt voller Tadel und Ermahnungen. In ihrem Herbstgutachten kritisieren die fünf Wirtschaftsweisen die Große Koalition scharf: Die Regierung habe den Aufschwung nur unzureichend für weitere Reformen genutzt. Stattdessen drohten “richtige und wegweisende Reformen konterkariert, wenn nicht sogar zurückgedreht zu werden”.
    Dass die Reform-Rückschritte die derzeitige Konjunktur gefährden könnten, glauben die Wissenschaftler zwar nicht. Gefahr sehen sie jedoch für die Zukunft: “Ihre hemmende Wirkung wird sich im nächsten Abschwung zeigen und diesen dadurch länger und tiefer ausfallen lassen.”

    Quelle: SPIEGEL Online

  2. Das folgende ist ein Kommentar des Chefredakteurs von Managermagazin Online, das bei Spiegel Online am 7.11. erschien. Auch diesen Kommentar zu lesen ist eine Plage. Wir verlinken dazu, weil er mit seiner Hauptbotschaft, wir könnten wirtschaftspolitisch hierzulande nichts mehr tun, diametral dem widerspricht, was der Chefökonom von Goldman Sachs im Managermagazin vom 21.9.2007 gesagt hat. Siehe Ziffer (3). Beide Texte lassen den Qualitätsunterschied erkennen. Unter dem Mangel an Qualität der meisten Wirtschaftsjournalisten in Deutschland leiden wir leider massiv.
    Dann folgt noch ein Bericht der taz, an dem wieder einmal sichtbar wird, dass man dort auch gelernt hat, sich einzufügen.
    Hier also zunächst zu einem aktuellen Kommentar in Spiegel Online/Managermagazin Online:

    KONJUNKTUR-KOMMENTAR
    Wenn es dem Esel zu wohl ist …
    Von Andreas Nölting

    Machen wir uns nichts vor: Besser als heute wird die wirtschaftliche Lage in Deutschland kaum mehr werden – zumindest in den kommenden Jahren nicht. Die entscheidenden Faktoren der Weltkonjunktur kann nationale Politik ohnehin nicht mehr beeinflussen.

    Quelle: SPIEGEL Online

  3. Goldman Sachs und Keynes
    Der Chefvolkswirt von Goldman Sachs, Jim O’Neill, hat sich im Interview mit dem Manager-Magazin deutlich für eine staatliche Interventionspolitik à la Keynes ausgesprochen. Vor allem spricht er sich für eine Stärkung der Binnennachfrage, insbesondere des Konsums, aus. Das tat er übrigens in einem Interview mit der „Zeit“ vom August 2004 schon einmal. Ohne Wirkung auf die herrschende Meinung in Deutschland.
    Quelle: Manager Magazin
  4. Aufschwung kommt bei den Bürgern an
    Prognose 2008: Wirtschaft wächst, Arbeitslosigkeit sinkt, Staatseinnahmen steigen. Auch private Nachfrage legt zu
    Quelle: taz

    Kommentar: Bedauerlicherweise fällt die taz auch auf das Märchen vom zukünftigen Konsumwunder herein. Dabei müßte man sich doch nur die einfache Frage vorlegen, warum der Anstieg der Lohnsumme durch 700.000 neue Arbeitsplätze keinen Konsumschub bewirkte. Lag es vielleicht daran, daß die reale Lohnsumme schlecht bezahlter Leiharbeit, geringfügig entlohnt Beschäftigter, ja sogar bei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten relativ gering ausfiel, wobei von letzteren nicht wenige auf geringfügig entlohnte Nebenjobs angewiesen sind?
    Die “Wirtschaftsweisen” erinnern doch sehr an die Prognosen der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK), welche dann regelmäßig von der realen Entwicklung im Einzelhandel konterkariert werden.