„In der Linken sprechen wir seit Langem nicht mehr über Freiheit”

„In der Linken sprechen wir seit Langem nicht mehr über Freiheit”

„In der Linken sprechen wir seit Langem nicht mehr über Freiheit”

Ein Artikel von amerika21

Candela de la Vega ist Mitglied des Bündnisses „Treffen der Organisationen von Córdoba” (Encuentro de Organizaciones de Córdoba) und Mitglied des Recherchekollektivs El Llano en Llamas (Der Llano in Flammen). Ein Interview über die Perspektiven der argentinischen Graswurzelbewegungen in Zeiten von Javier Milei. Von Júlia Martí Comas.

Wie würdest Du den Sieg einer Person wie Milei erklären?

Ein Großteil dessen, was als das progressive Lager gilt – das in Argentinien nicht genau mit der linken Graswurzelbewegung und ihrer emanzipatorischen Ausrichtung übereinstimmt –, übt heute Selbstkritik: Wir haben es nicht rechtzeitig kommen sehen; rechtzeitig genug, um stärkere oder gezieltere Dämme dagegen zu errichten. Heute interpretieren wir, dass sich der Sieg von Milei nicht durch eine Irrationalität des Wahlverhaltens der Argentinier und Argentinierinnen erklären lässt, sondern dass wir einen Wandel in der politischen Kultur und den politischen Subjektivitäten beobachten müssen, der schon seit Längerem im Gange war und in Zusammenhang mit den Formen steht, die die Wirtschaftskrise Argentiniens nach der COVID-19-Pandemie angenommen hat.

Die Regierung Mileis hat die Krise nicht ausgelöst; sie hatte sich bereits zuvor herausgebildet. Heute sehen wir, dass Milei genau in jene vorgezeichnete Bahn passte, die es ihm ermöglichte, ein bereits vor seinem Wahlerfolg bestehendes Leiden sowie eine wirtschaftliche, soziale und politische Unzufriedenheit zu kanalisieren und daraus politisches Kapital zu schlagen.

Einerseits war die Verschärfung der Preisinflation das drängendste Problem. Darunter litten die Menschen, deren Einkommen sich nicht so leicht anpassen ließen. Doch zugleich stellte sich dieses Problem als eine große Unsicherheit im Leben allgemein dar.

Wenn wir uns in diese vorangegangene Situation versetzen, in der die Krise bereits existierte und das Gefühl, am Abgrund zu stehen, überwältigend war, war es paradox, dass in den Diskursen der regierenden peronistischen Koalition stets die Garantie von Rechten oder sozialer Gerechtigkeit versprochen wurde. Diese Diskurse stimmten nicht mit der Realität der Menschen überein; für viele gesellschaftliche Gruppen war es sehr schwierig, diese Rechte und diese soziale Gerechtigkeit im Alltag zu erfahren. Die Menschen fühlten sich betrogen und enttäuscht – nicht nur von der nationalen Regierung, sondern von der Politik im Allgemeinen. Obwohl Argentinien eine föderaljuristisch-politische Struktur hat, gibt es doch eine starke Machtkonzentration in Buenos Aires und in der nationalen Regierung.

Andererseits passte die von Milei vertretene politische Position zu einer Wendung in den politischen Subjektivitäten, die sich in Zeiten der akuten Wirtschaftskrise zu autoritären und individualistischen Ausdrucksformen wandte. Ich beziehe mich auf jene Position, die die Vorstellung vertritt, dass „die Schuldigen an meiner gegenwärtigen, schlechten Lage die Migranten und Migrantinnen, die Frauen, der Progressismus, der Kirchnerismus usw.” sind, und diese mit der Idee von Verdienst, Anstrengung, Erfolg oder einfach einem individualisierten und fragmentierten Leben kombiniert.

Milei passte somit sehr gut als Gegenentwurf in einer Krise der Politik, die sich angesichts der Gesamtsituation als gelähmt erwies: Sein Diskurs gegen das, was er „die Kaste” nannte, nahm viel Bezug auf die Verselbstständigung der politischen Klasse und der Funktionäre der alten Politik. In diesen Worten klang nicht nur das Phänomen der immerwährenden Kluft zwischen „dem, was die Politiker sagen und dem, was sie wirklich tun”, an, sondern auch eine grobe und anhaltende Entfremdung der Politik von den Bedürfnissen und Erwartungen der großen Mehrheiten.

So etwas hatte man bereits zum Beispiel während der Pandemie erlebt, bei den Korruptionsfällen, dem privilegierten Zugang zu Impfungen und in den Fällen von öffentlichen Funktionären, die ein Leben führten, das der Mehrheit der Bevölkerung verwehrt blieb, usw. Diese Entfremdung wurde als Funktionieren eines „Kastenwesens” wahrgenommen, das dazu führte, dass die Leute die Politiker und Politikerinnen, die Politik im Allgemeinen, hassten – etwas, das Milei aufgriff und zu seiner Fahne machte.

Und das obendrein von denjenigen, die einen linken oder fortschrittlichen Diskurs vertraten.

Na ja, ich betone, dass weder der Kirchnerismus noch der Peronismus in Argentinien einfach und klar der Linken zuzuordnen sind. Immer komplex und ständig im Wandel, sind die Parteien oder Gewerkschaften, die sich heute als peronistisch bezeichnen, stärker von reformistischen, klassenübergreifenden Positionen geprägt – von einem „Kapitalismus mit menschlichem Antlitz”, von staatlich gelenktem Extraktivismus, von situationsbedingten Pakten zwischen den Klassen. Wir sprechen hier nicht von revolutionären Bewegungen: Die gab es innerhalb des Peronismus, aber heute nicht mehr.

Es ging uns schlecht, und wir wollten etwas anderes. Außerdem hatte der Peronismus keine gute Arbeit zur Verbesserung der Lebensbedingungen geleistet und bot noch viel weniger ein überzeugendes politisches und wirtschaftliches Konzept an, um aus der Krise herauszukommen.

Als Graswurzelbewegungen haben wir das viel zu spät erkannt. Wir haben – wie wir sagen – erst mit der „Montagszeitung” gemerkt, dass wir aus einer Position der Angst sprachen, vor allem der Angst vor der Rückkehr einer politischen Gewalt, die während der Diktatur traumatisch war. Wir konnten keine alternative politische und wirtschaftliche Perspektive herbeiführen und gleichzeitig diese allgegenwärtige und spürbare Angst in unseren lokalen Gemeinschaften abfangen. Es ist nicht so, dass es keine Alternative gäbe oder dass wir niemals daran gedacht hätten.

Ich glaube, dass wir als Graswurzelbewegung genau in diesem Moment politisch nicht mobilisieren konnten, da sich die Impulse zur Neuordnung unserer Verteidigungslinien unserer bemächtigten, um in das politische Gedächtnis jene Haltung von Vorsicht und Kampf zurückzubringen, die unsere Großmütter und Mütter während der letzten Phase der politischen Gewalt im Land eingenommen hatten.

Und wie ist die aktuelle Situation?

Heute, ein Jahr nach dem Amtsantritt von Milei, sehen wir, dass sein Wirtschaftsplan tatsächlich den Anstieg der Inflation gebremst hat: von 25 Prozent monatlich im Dezember 2023 fiel die Inflationsrate auf 2,7 Prozent im Dezember 2024 und stagniert seit einigen Monaten auf diesem Niveau. Dies geschah auf Kosten eines brutalen wirtschaftlichen Sparprogramms, begleitet von drastischen Kürzungen bei den öffentlichen Ausgaben, insbesondere im Bereich sozialer Dienstleistungen. Dies erklärt den Anstieg von Armut, Arbeitslosigkeit und prekärer Beschäftigung. Tatsächlich fand in nur einem Jahr eine obszöne Umverteilung von Einkommen aus Arbeit zu Kapital statt.

Und trotzdem verfügt Milei bei einem harten Kern, der nicht unter die 40 Prozent sinkt, über ein positives Image, auch wenn dieses seit seiner Amtsübernahme um 15 bis 20 Prozentpunkte gesunken ist. Das geschah besonders in zwei Momenten: als er gegen das Gesetz über die Rentenerhöhung und gegen das Universitätsfinanzierungsgesetz ein Veto einlegte.

Jenseits dieser Schwankungen bei einem stark hinterfragbaren Indikator wie dem „positiven Image” glaube ich einerseits, dass es eine große Ernüchterung bezüglich der Regierung von Milei gibt. Es gibt Leute, die ihn gewählt haben, in dem Glauben, dass er ihre Lebensqualität verbessern würde. Sie hatten den legitimen Wunsch, nicht länger unter ihrer Arbeit, am Esstisch jeden Tag oder wegen der Zukunft ihrer Kinder leiden zu müssen. Und diese Erwartung hat sich nicht erfüllt. Es ist schwer nachzuvollziehen, was in diesen sozialen Gruppen vor sich geht. Wir glauben, dass diese Enttäuschung wieder einmal die Unzufriedenheit mit der Politik verstärkt.

Andererseits gibt es diejenigen unter uns, die die Auffassung vertreten, dass er nie eine politische oder wirtschaftliche Option war. Und letztlich bewahrt sich Milei durchaus einen sehr harten Kern von Anhängerinnen und Anhängern sowie militanten Unterstützerinnen und Unterstützern, die er selbst aufgebaut und um sich geschart hat. Denn er hatte, als er im Dezember 2023 sein Amt antrat, keine bedeutende aktive politische Basis. Dieser harte Kern ist es, der seine Legitimität mit den heftigsten, gewaltsamsten Diskursen der La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran, LLA) politisch gestärkt hat.

Im Jahr 2025 finden die Kongresswahlen statt, ein sicherlich instabiles institutionelles Terrain für die LLA, da sie Mehrheiten mit anderen Parteien und Kräften aushandeln muss. An der Möglichkeit, den Kongress zu gewinnen, werden in diesem Jahr seine Reden und die unmittelbarsten Entscheidungen seines Wirtschaftsplans gemessen.

Sehr interessant erscheint mir, was Du zur Notwendigkeit sagst, eine Alternative zur Idee des kleineren Übels zu verteidigen, eine Idee, die die Delegitimierung der Politik immer weiter verschärft hat.

Das mit dem kleineren Übel war das Motto, unter dem wir als Teil der Graswurzelbewegungen für die Wahl des peronistischen Kandidaten Sergio Massa gekämpft haben, mit allem, was das für uns bedeutete. Es war uns schon einmal passiert: 2015, als Mauricio Macri gewann, war es sehr schwer, den Peronismus bei der Wahl zu verteidigen, weil Daniel Scioli ein sehr finsterer Politiker war (heute ist er in der Regierung von Milei, verantwortlich für das Ministerium für Tourismus, Umwelt und Sport). Die vorherrschende Position innerhalb der Graswurzelbewegungen war damals ein gewisses Unbehagen, das als Schweigen wahrgenommen wurde.

Diesmal, weil wir ein wenig aus dieser Erfahrung gelernt hatten, gingen wir auf die Straßen, um die Kampagne von Sergio Massa und dem peronistischen Lager zu unterstützen. Es war hart, weil du auf deine Mitstreiter aus den Stadtvierteln, aus den Slums getroffen bist, die mit ihren wirklich gewaltigen Problemen mit der Inflation konfrontiert waren. Und es stellte einen enormen Widerspruch dar, Argumente für die Wahl des Wirtschaftsministers zu finden, der direkt für diese Situation verantwortlich war – die nicht etwa nur eine Bedrohung oder ein Risiko war, sondern eine gegenwärtige und erlebte Realität im Hier und Jetzt.

Wie sollten wir mit unseren Mitstreiterinnen und Mitstreitern sprechen und die verschiedenen Optionen problematisieren? „Wählt Massa, weil er das kleinere Übel ist?”, während diese Familien eine wirklich schlimme Zeit durchmachten, na ja, das brachte tausend Probleme mit sich. Also viel reden, wirklich viel, diese Ängste und Übel benennen, sie auffangen, unsere Widerstandskraft und unsere Versprechen in Erinnerung rufen. Und trotzdem war der Anteil der Mitstreiterinnen und Mitstreiter aus unseren eigenen Netzwerken, die für Milei gestimmt haben, nicht unerheblich. Deshalb sage ich, dass wir zu spät gekommen sind, nicht rechtzeitig genug.

Was sind die wichtigsten Konfliktlinien, die Milei aufgeworfen hat?

Im Januar und im Mai 2024 fanden zwei Generalstreiks der Gewerkschaften statt, die in den wichtigsten Arbeiterzentralen des Landes organisiert sind. Diese fanden im Kontext der Versuche statt, das sogenannte Ley Bases (Grundlagengesetz) zu verabschieden, das letztlich zu rückschrittlichen Reformen im Bereich Arbeit und Beschäftigung führte.

Auch der Konflikt an den Universitäten stellte eine starke, anhaltende und sektorübergreifende Konfliktlinie dar. Er begann als Lohnkonflikt und eskalierte, indem er sich auf weitere Forderungen ausweitete. Es kam zu Universitätsbesetzungen, zwei Massendemonstrationen sowie zu einem hohen Maß an Politisierung seitens jener, die selbst zu den Hochschulgemeinschaften gehören oder mit ihnen verbunden sind.

Auch die Konfrontation mit dem Feminismus und der LGBTQI+-Bewegung hielt unvermindert an. Der Streik am 8. März war geprägt von einer erheblichen ideologischen Konfrontation – und das keineswegs einer unbedeutenden – mit jenem Teil der Regierungskoalition, der konservative, religiöse und militärische Tendenzen vertritt.

Ich betone, der Kampf ist nicht nur ein diskursiver. Programme auf nationaler Ebene zur Begleitung von Opfern geschlechtsspezifischer Gewalt – darunter auch Gewalt gegen diverse Personen –, zum Zugang zu Behandlungen und Medikamenten bei sexuell übertragbaren Krankheiten oder zur Begleitung bei freiwilligen Schwangerschaftsabbrüchen, deren Legalität gesetzlich verankert ist, wurden gestrichen oder finanziell ausgetrocknet. Auch die Zahl der Femizide ist gleich geblieben oder sogar gestiegen[1].

Glaubst Du, dass dieser ideologische Kampf auch von unten geführt wird?

Die Basis der Wähler und Anhänger der LLA besteht aus jungen Männern. Es handelt sich in der Regel um prekarisierte Arbeiter, etwa vom Typ Glovo-Mitarbeiter.[2] Jugendliche, die die Pandemie erlebt haben, mit all dem, was das für ihre soziale und politische Erfahrung bedeutete. Sie eigneten sich eine liberale Haltung gegenüber einem Staat an, vor dem man stets befürchtete, dass er übergriffig wird oder dazu neigt, individuelle Rechte zu bedrohen. Genau das wurde als Kampfbegriff genutzt, um die Idee von Freiheit tief in ihnen zu verankern, als etwas radikal Individuelles, das gegen den Staat verteidigt werden muss und eng mit der Fähigkeit verknüpft ist, erfolgreich zu sein.

Heute spricht die Rechte von Freiheit, während wir, die Linke oder die Graswurzelbewegungen, zumindest in Argentinien, schon seit Langem nicht mehr über Freiheit sprechen. Wir geben ihr keinen ideologischen Gehalt, arbeiten ihre Bedeutung nicht aus und haben sie auch nicht wiederbelebt oder mit unseren Organisations- und Kampfpraktiken verbunden. Zögerlich haben wir uns lediglich durchgerungen zu sagen, es gebe eine andere Freiheit. Etwas Ähnliches geschieht mit der Idee der sozialen Gerechtigkeit. Wir haben sie im Recht, im Gesetz, in den Ministerien verankert. Doch in unserem Alltag, in den alltäglichen Praktiken und Bedeutungen, ist sie abwesend. Und das ist uns teuer zu stehen gekommen.

Welche Vorstellung von Freiheit lässt sich retten, die emanzipatorisch ist und sich nicht auf den Altären des gefühllosen und gleichgültigen Individualismus der Rechten opfert? Einen Freiheitsbegriff zu retten, der zu tun hat mit dem Gemeinsinn, dem Kollektiven, erfordert von uns, Organisationen, Projekte und politische Subjektivitäten aufzubauen, die uns tagtäglich bestätigen, dass ich nicht frei sein kann, wenn du nicht zugleich auch frei sein kannst; dass die Freiheit nichts Absolutes ist und dass deren Existenz ein lebendiger Prozess der Befreiung ist und nicht etwas, was jemand einem anderen gibt.

Und was macht Ihr gerade angesichts dieser Gesamtsituation, Ihr als Bündnis des „Treffens der Organisationen”?

Das Treffen der Organisationen (Encuentro de Organizaciones) ist eine territoriale, nicht parteigebundene Basisorganisation. Wir arbeiten mit einer stark städtischen Basis der Stadt Córdoba, die in einer der reichsten Provinzen Argentiniens liegt und wo Milei im Verhältnis zur Einwohnerzahl die meisten Stimmen errungen hat. Das ist kein einfaches Umfeld. Ungeachtet dessen befinden sich die Provinz- und Stadtverwaltung in der Hand peronistischer Regierungen. Das eröffnet einen kleinen Spielraum für das, was möglich ist, aber auch nicht sehr viel.

An organisierten Mitgliedern zählen wir etwa 1.500 Personen. Wenn man jedoch deren Familien und Nachbarschaften mit einbezieht, verfügen wir über ein großes Netzwerk. Ende 2023 betrieben wir 35 Suppenküchen in den Stadtvierteln von Córdoba, dazu Arbeitszentren, Baukooperativen, Textilkooperativen, kulturelle Projekte sowie Strukturen zur Vermarktung von Lebensmitteln aus ökologischem Anbau.

Und wie kombiniert Ihr diese produktive Arbeit mit der politischen Organisierung?

Einer unserer Leitsätze ist: Arbeiten ohne Boss. Es ist ein ganzer Prozess und ein Lernweg für viele, sich in der Arbeit mit anderen zu organisieren. Doch auch das steckt jetzt in der Krise. Zum Beispiel: Unser Hauptabnehmer für die Produktion in den Textilwerkstätten war über lange Zeit die staatliche Provinzverwaltung. Sie kaufte Rucksäcke und Schulmaterialien, die die Mitstreiterinnen herstellten, ebenso Kits für Schwangere, die die Regierung anschließend an Familien verteilte. Heute zieht sich dieser Staat als Käufer zurück.

Ein weiteres Beispiel: Unsere Baukooperativen sind eine Folge des Kampfes um die Verbesserung des öffentlichen Raums in unseren Stadtvierteln, was auch die Sanierung öffentlicher Schulen einschließt. Das Ganze gewann an Umfang, als es öffentliche Auftragsmittel erhielt. Und jetzt wurde das abrupt abgebrochen.

Da es in diesem Jahr zu einem tiefen Einschnitt durch die Streichung dieser Stütze für die Arbeiterinnen und Arbeiter der populären Ökonomie[3] der unteren Schichten kam, werden wir gezwungen, die Praxis und die Leitsätze der Arbeitsorganisation in basisnahen Strukturen neu zu überdenken. Auch wenn wir weiterhin daran festhalten, dass die vom Staat verwalteten Mittel öffentliches Gut sind und der Kampf um ihre Umverteilung ebenso Teil unseres politischen Kampfes ist. Genauso wie die Auseinandersetzung um Staatsformen oder die politische Organisation, die wir uns geben.

Und auch die aktuelle Lage erlegt uns Dringlichkeiten auf. So mussten wir beschließen, Mitstreiter, vor allem aus den Baukooperativen, in die Suppenküchen zu verlegen, weil das Hauptproblem in unseren Vierteln derzeit der Hunger ist. Man muss essen.

Und fließt noch staatliches Geld rein?

Das ist stark zurückgegangen, aber die Mitstreiterinnen und Mitstreiter erreichen dennoch einiges. Man muss laufen, laufen, laufen. Es entwickelt sich ein Gespür dafür, so wie ein Muskel, den die Mitstreiterinnen ja schon hatten. So haben wir angefangen – mit null Abhängigkeit von den öffentlichen Mitteln des Staates. Heute ist dieses Gespür wieder aktiv geworden, es ist nicht verloren gegangen. Die Mitstreiterinnen aus jedem Viertel organisieren zusammen mit Bewohnerinnen und Bewohnern der umliegenden Viertel Sammlungen in einigen Kirchen, die etwas offener sind. Das läuft vor allem über Spenden, einige wenige davon werden bei Unternehmen erbeten.

Das ist ebenfalls Teil einer Vorstellung von Einkommensumverteilung, allerdings in deutlich kleinerem Maßstab und mit wesentlich geringerer Wirkung. Denn wenn man nicht nur kochen muss, sondern auch noch rausgehen, um überhaupt etwas zum Kochen zu besorgen, oder sich überlegen muss, welche Zaubereien man mit einem Kilo Reis oder einem Kilo Mehl vollbringen kann, dann führt das auch dazu, dass die Mitstreiterinnen durch diese tägliche Arbeit zur Aufrechterhaltung des kollektiven Lebens, nicht nur des familiären, sondern auch des gemeinschaftlichen, stark überlastet werden. Noch einmal betone ich: Wir erleben einen realen Transfer des Einkommens der Arbeiter und noch mehr der Arbeiterinnen hin zu den kapitalistischen Klassen.

Ich will darauf hinweisen, dass diese Momente der Krise und der Neuordnung sozialer und arbeitsbezogener Beziehungen auf subjektiver Ebene für uns ein bedeutendes Erfahrungsfeld sind. Heute sind es die Mitstreiterinnen – also Frauen –, die beim Treffen der Organisationen die zentralen Bezugspersonen sind. Diejenigen, die heute im Namen des Kollektivs auf einer Konferenz sprechen können, die an die Universitäten gehen, um weitere Netzwerke zu knüpfen, das sind Frauen. Und es sind auch diejenigen, die kochen und die eine deutlich höhere Arbeitsbelastung tragen.

Zum Abschluss wollte ich Dich bitten, mir noch ein bisschen mehr über das Netzwerk Democracia Comunal (Kommunale Demokratie)[4] zu erzählen.

Über das Netzwerk, bei den internationalen Treffen, leisten wir Bildungsarbeit, erstellen gemeinsame Analysen und teilen Erfahrungen und Wissen aus jeder Organisation und aus jedem Gebiet.

In unserem Fall hilft es uns sehr dabei, uns mit der Frage auseinanderzusetzen, was es bedeutet, uns selbst zu regieren. Wir können die Versorgung mit Lebensmitteln sichern, wir können öffentliche Politiken umsetzen, aber danach muss eine andere Politik gestaltet werden. Das war gewissermaßen die Kritik, mit der ich dieses Gespräch begonnen habe. Womit konfrontieren wir die Antipolitik von Milei? Welche Art von Freiheit wollen wir fördern, und worin soll sie verankert sein?

Wenn wir das Versprechen eines künftigen und möglichen Projekts wiederherstellen wollen, müssen wir auch den Sinn und Zweck von Politik wiederherstellen. Wir müssen von einer Politik sprechen, in der wirklich die Macht bei denen liegt, die in den Gebieten leben und sich dort täglich bewegen. Es ist eine Herausforderung, zu analysieren, in welchem Teil des Spektrums du dich befindest. Auf der Seite der Regierung im Namen des Volkes oder eher auf der Seite der Selbstverwaltung des Volkes. Nicht in die Trägheit der Politik, die wir heute haben, zu verfallen, ist eine ständige Herausforderung und erfordert kontinuierliche Wachsamkeit.

Zurzeit beschäftigen wir uns mit der Frage: Was würde passieren, wenn wir heute die staatlichen Institutionen innehätten? Ich sage ja nicht, dass wir das sofort tun sollten. Es ist eher ein Gedankenexperiment. Wenn es so käme, wie schaffen wir es, die Verbindung zu den Menschen in den Stadtvierteln, Dörfern und Gemeinschaften nicht zu verlieren? Welchen Abstand zwischen dem, was wir tun, und dem, was wir predigen, sind wir bereit, hinzunehmen? Wie viel Gleichheit und wie viel Freiheit? Denn wenn wir es nicht tun, wird uns dasselbe widerfahren, was wir jetzt kritisieren.

Also gehen wir mit dem Netzwerk der Kommunalen Demokratie in diese Diskussion, die in anderen politischen Räumen, in denen wir aktiv sind, nicht geführt wird, etwa im Rahmen der Union der Arbeiterinnen und Arbeiter der Popularen Ökonomie (Unión de Trabajadores y Trabajadoras de la Economía Popular, Utep), einem stärker gewerkschaftlich orientierten Instrument zur Vertretung sozialer Forderungen, oder im Rahmen des Hauses der Gemeinschaft (Casa Comunidad), einer Plattform für feministische Vernetzung und Selbstverteidigung.

Möglicherweise haben andere Mitstreiter eine andere Lesart. Selbstverständlich leistet das Netzwerk auch im Bereich der internationalen Solidarität einen wichtigen Beitrag. Eine Herausforderung wird jedoch darin bestehen, Konsense zu schaffen und gleichzeitig in der Vielfalt und Pluralität der Erfahrungen und politischen Entwicklungen zu wachsen. Wir befinden uns auf diesem Weg.

Übersetzung: Camilla Seidelbach, Amerika21.

Titelbild: Candela de la Vega – Quelle: Viento Sur


[«1] Auf Spanisch: mujeres y disidencias. Laut dem LNPA-Lexikon schließt dieser Begriff „Identitäten ein, die nicht in der heteronormativen binären Ordnung von Mann und Frau verortet sind, wie zum Beispiel transgender, intersex, nicht-binäre oder queere Menschen. Die Benennung von Frauen und Dissidenten ermöglicht die Einbeziehung aller Identitäten, die aufgrund ihrer Abweichung vom patriarchalen heteronormativen System stärker von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen sind.”

[«2] Glovo ist eine spanische Online-Lieferplattform, die auch in Argentinien tätig ist und mit Diensten wie Lieferando oder Uber Eats in Deutschland vergleichbar ist.

[«3] Die „economía popular“, oft als „populäre Ökonomie“ übersetzt, bezeichnet wirtschaftliche Aktivitäten, die von kleinmaßstäblichen Produktionseinheiten wie Einzelpersonen, Familien oder Kleinstunternehmen meist im informellen Sektor und im Prekariat ausgeübt werden.

[«4] Das Netzwerk der Kommunalen Demokratie ist eine Vernetzung sozialer und politischer Räume aus Kurdistan, Argentinien, Brasilien, Venezuela, Italien, Chile, Euskal Herria [Baskenland] und den Països Catalans [Katalonien, Anm. d. Red.]. Es begann mit einem Kongress in Euskal Herria im Jahr 2021; später folgten weitere Treffen in Argentinien und Katalonien. Die Schwerpunkte der Debatten liegen auf Gemeinschaft, Volksmacht, Selbstverwaltung, Selbstregierung, gegenseitiger Hilfe, sozialer Ökologie und direkter Demokratie.

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