In Serbien hat es am Wochenende erneut Massenproteste gegen die Staatsführung gegeben. Die wird hierzulande kritisiert, weil sie den Wirtschaftskrieg gegen Russland nicht mitmacht und die Beziehungen zu China ausbaut. Die Demonstranten fordern den Rücktritt des Präsidenten Aleksandar Vucic, lehnen aber Neuwahlen, bei denen sie chancenlos wären, ab. Unterstützung haben die Regime-Change-Proteste nun vom Vorsitzenden der Partei DIE LINKE in Deutschland und anderen „progressiven Linken“ bekommen. Von Rüdiger Göbel
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
Zehntausende Menschen haben am Samstag in Serbiens Hauptstadt Belgrad und drei weiteren Städten demonstriert: in Novi Sad im Norden, in Nis im Süden und in der einstigen Wirtschaftsmetropole Kragujevac im Zentrum. Industrie und Infrastruktur aller vier Städte, darunter Donaubrücken, waren Ziel von NATO-Bombardements im Jahr 1999. Die Zerstörungen wirken zum Teil bis heute fort. Man muss das an dieser Stelle erwähnen, denn Medienberichten zufolge richten sich die aktuellen Proteste gegen Gewalt in Serbien, vor allem aber gegen den im Westen viel kritisierten Präsident Aleksandar Vucic.
Mittlerweile sieben Mal sind die Menschen zusammengekommen, nachdem bei zwei Amokläufen im Mai 18 Menschen getötet worden waren. Die Teilnehmer der Belgrader Kundgebung am Samstagabend versammelten sich vor der Skupstina, dem Parlament im Zentrum der serbischen Hauptstadt. In zwei getrennten Kolonnen marschierten sie zur Stadtautobahn, die stundenlang blockiert wurde. Im Unterschied zur Berliner Polizei im Fall der Klimaprotestierer ließen Serbiens Sicherheitsbehörden die Blockierer gewähren.
Bilder und Stimmung in Belgrad erinnern an die Umsturzproteste im Jahr 2000, die auf die Absetzung des damaligen Präsidenten Slobodan Milosevic abzielten und damals maßgeblich von der vom US-Geheimdienst CIA finanzierten und trainierten NGO Otpor in Szene gesetzt worden waren. Man muss auch dies erwähnen, da unklar ist, wer die Organisatoren der laufenden Proteste zu einem Regime Change 2.0 in Belgrad sind.
Wie dpa berichtet, fordern die Teilnehmer der Kundgebungen den Rücktritt des Staatschefs sowie der für den Sicherheitsapparat zuständigen Beamten. Vucic und den von ihm kontrollierten Boulevardmedien würfen sie vor, „ein Klima des Hasses und der Gewalt zu erzeugen“. Die Regierung gehe nicht entschieden genug gegen Gewalt vor, gegen den im Land verbreiteten privaten Waffenbesitz und gegen die organisierte Kriminalität, ergänzte tagesschau.de. Zu der Kundgebung hätten „linke und liberale Oppositionsparteien sowie Bürgerbewegungen aufgerufen“.
Weiter heißt es im ARD-Nachrichtenportal: „Kritiker werfen Präsident Vucic einen autokratischen Politikstil und Günstlingswirtschaft vor. Vucic bestreitet die Vorwürfe und erklärte, oppositionelle Gruppen wollten ihn mit Gewalt stürzen oder sogar töten.“
Als Bezugspunkt der Proteste werden zwei schreckliche Massaker genannt: Anfang Mai hatte ein 13-Jähriger in einer Belgrader Schule neun Mitschüler und einen Wachmann erschossen. Tags darauf ermordete ein 21-Jähriger in einem Dorf bei Belgrad in einem Amoklauf acht Menschen. Beide Verbrechen hängen nicht unmittelbar zusammen, und es gibt auch keinerlei Verbindungen zur serbischen Regierung oder den Sicherheitskreisen. Die Vucic-Regierung rief nach den Blutbädern vielmehr zur anonymen und straffreien Abgabe illegaler Waffen auf. Die Frist ist bis zum 30. Juni verlängert worden. Bislang sind bereits Zehntausende Handfeuerwaffen und Sprengkörper zu den Behörden gebracht worden – die Resonanz ist mithin ungleich größer als entsprechende Demilitarisierungsappelle nach Amokläufen in den USA, bei denen im vergangenen Jahr 647 Menschen getötet worden waren. Im Jahr 2021 waren es 690 Tote und im Jahr 2020 610.
Die Proteste unter dem Motto „Serbien gegen Gewalt“ werden in den deutschen Medien breit rezipiert, wie eine einfache Suche über google.news zeigt. Serbien gilt als „Problemfall“, mit Blick auf die Waffenlieferungen für den NATO-Stellvertreterkrieg in der Ukraine wie auch auf den selbstzerstörerischen Wirtschaftskrieg der EU gegen Russland – beides macht Belgrad nicht mit. Und während die Bundesregierung und die EU auf einen Rückbau der Wirtschaftsbeziehungen mit China abzielen, baut Serbien die Geschäfte aus.
„Serbien ist zerrissen zwischen einer Zukunft in der EU und seiner Verbundenheit mit Russland. Jetzt baut auch noch China seinen Einfluss in Serbien massiv aus“, lautet die Klage im ZDF. (Serbien: Kohleausstieg versprechen, aber Kohletechnik kaufen – ZDFheute).. Und an anderer Stelle heißt es: „Die EU drängt auf ein klares Bekenntnis zu Europa, aber Russlands Einfluss in Serbien ist weiterhin groß, die Propaganda allgegenwärtig. Für die EU wird Serbien immer stärker zum Problemfall.“
Des „Problemfalls“ Serbien hat sich jetzt der Vorsitzende der Partei DIE LINKE, Martin Schirdewan, angenommen. Zusammen mit 14 weiteren „progressiven Linken”, darunter Yanis Varoufakis aus Griechenland und Walter Baier aus Österreich, stellt er sich hinter die Regime-Change-Forderungen. („We express our support for the protestors in Serbia” | Progressive International)
„Wir drücken unsere Unterstützung für die Demonstranten in Serbien aus“, betonen die Unterzeichner des am 16. Juni in englischer Sprache veröffentlichten Appells. Und weiter: „Wir rufen die Verbündeten in ganz Europa auf, ihr Schweigen zu brechen – die Aufmerksamkeit der Welt auf die akute politische Krise in Serbien zu lenken, dafür zu sorgen, dass die friedlichen Proteste vor staatlicher Gewalt geschützt werden, und den wichtigsten Forderungen, die die serbischen Bürgerinnen und Bürger motiviert haben, zu Tausenden auf die Straße zu gehen, Nachdruck zu verleihen.“
Von Vucic angebotene vorgezogene Neuwahlen tun die unterzeichnenden „Europa-Abgeordneten, Parlamentarier und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens“ ab, wohl wissend, dass die prowestlichen Kleinstgruppen dabei keinerlei Chance hätten.
Lieber wird also Serbiens Regierung in der üblichen westlichen Hass-Rede als „Regime“ bzw. „Vucic-Regime“ diffamiert – die Etikette bleibt ausschließlich nicht-westlichen Ländern vorbehalten. Und statt die NATO-Gewalt mit ihren Kriegsverbrechen zu benennen, die bis heute straffrei geblieben sind, beklagen Martin Schirdewan und Co. die „nationalistische und chauvinistische Rhetorik und revisionistische Erzählungen, die die Verantwortung Serbiens in den Jugoslawienkriegen leugnen oder herunterspielen“.
Sie schreiben als „Freunde des serbischen Volkes, um unsere Unterstützung für die Demonstranten zum Ausdruck zu bringen, ihre Forderungen zu unterstützen“ – fraglich bleibt, ob die NATO-Apologeten am Ende so viele Freunde im serbischen Volk haben. Umfragen zeigen, dass China in Serbien fast so populär wie Russland oder sogar populärer ist. 80 Prozent der Serben sehen China positiv – die EU weniger als 50 Prozent, berichtet das ZDF. Deshalb soll Vucic weg.
Mit freundlicher Hilfe von Martin Schirdewan and Friends soll das Land 24 Jahre nach dem völkerrechtswidrigen NATO-Krieg und 15 Jahre nach der illegalen Sezession des Kosovo mit einem neuerlichen Anlauf zum Regime Change auf harten Westkurs gebracht werden.
Titelbild: BokiPop034/shutterstock.com