„Pueblo a Pueblo” in Venezuela: Nahrung ist keine Ware, sondern ein Menschenrecht

„Pueblo a Pueblo” in Venezuela: Nahrung ist keine Ware, sondern ein Menschenrecht

„Pueblo a Pueblo” in Venezuela: Nahrung ist keine Ware, sondern ein Menschenrecht

Ein Artikel von amerika21

„Pueblo a Pueblo” ist eine Basisbewegung zur Organisierung von Produktion, Vertrieb und Verbrauch von Lebensmitteln. Das Projekt bringt die landwirtschaftlichen Erzeuger mit den Stadtbewohnern zusammen, womit es mit den rigorosen Diktaten des kapitalistischen Marktes bricht. Im ersten Teil dieser Serie berichten Mitglieder über die Geschichte ihrer Organisation und ihre Ziele. Von Cira Pascual Marquina und Chris Gilbert.

Über „Pueblo a Pueblo”

Ricardo Miranda ist Mathematiker und Gründer der Bauernbewegung von Jirajara, in jungen Jahren war er Guerilla-Aktivist:

„Pueblo a Pueblo” bezeichnet eine Haltung, einen Plan und eine Methode, die darauf abzielen, den Widerspruch zwischen dem Land und der Stadt aufzulösen, um so die Mauern einzureißen, die das Kapital errichtet, um unterschiedliche Bereiche des Volkes voneinander zu trennen und sie zu isolieren.

Das vorhandene Marktsystem konzentriert sich auf den Konsum, es ignoriert aber Produktion und Verteilung. Bei „Pueblo a Pueblo” werden Produktion, Verteilung und Konsum zu dem verbunden, was wir „lebendige Wirtschaft” [economía viva] nennen. Diese neue Art von Wirtschaft kann sich nur außerhalb der herrschenden Mechanismen des entfremdeten Konsums entwickeln.

Was bedeutet das in der Praxis? Das Volk braucht die Kontrolle über Land, Saatgut und Verteilungsmechanismen, aber auch über den Konsum. Zu dem Zweck arbeiten wir zusammen mit den angeschlossenen Gemeinschaften in den Barrios und denen auf dem Land. In der Stadt, z.B. im Barrio San Agustín in Caracas, treffen sich die Menschen, um über die benötigten Produkte zu beraten und zu entscheiden. Die Erzeuger auf dem Land, die mit „Pueblo a Pueblo” zusammenarbeiten, können so ihre Produktion planen. Wenn die Ernte fertig ist, legt eine Erzeugerversammlung die Preise für die Produkte fest, und zwar auf Grundlage der Produktionskosten. Die Erzeugnisse werden dann zu den Sammelstellen gebracht, der letzte Schritt sind organisierte Verteileraktionen – so wie in San Agustín.

Damit entfällt der Zwischenhändler, also der kapitalistische Marktteilnehmer, der die Campesinos übervorteilt und denjenigen, die Obst und Gemüse auf dem Markt kaufen, zu hohe Preise abverlangt. Auf diese Weise sinken die Preise, Verschwendung und Ernteverluste gehen auch zurück.

Womit sich zeigt, dass der bestehende Markt nicht plant ist, sondern im Gegenteil: Das Einzige, was die Ökonomie des Kapitals antreibt, sind Profite und nicht die Bedürfnisse der Menschen. Bei „Pueblo a Pueblo” stimmen Produktion und Bedürfnisse überein, Erzeuger und Verbraucher treffen sich in einem konstruktiven Kreislauf, der auf realem Leben und nicht auf Profit basiert.

Für uns sind Lebensmittel keine Ware, sondern ein Menschenrecht. Unser Projekt bringt Erzeuger und Verbraucher als Subjekte zusammen und nicht als Randfiguren. In der Zeit zwischen den Anfängen von „Pueblo a Pueblo” und dem Ausbruch der Pandemie hatten wir fast 300 Verteilaktionen. Dabei wurden die Preise auf transparente Weise festgelegt, sodass niemand sich an der Arbeit anderer bereicherte.

Laura Lorenzo ist ebenfalls Gründerin der Bauernbewegung von Jirajara sowie deren nationale Koordinatorin:

„Pueblo a Pueblo” ist ein Projekt, das die arbeitenden Menschen vom Land und aus der Stadt zusammenbringt, um denjenigen zu entkommen, die Handelsware aus dem machen, was die einen zum Leben herstellen und die anderen zum Leben brauchen.

Rechtlich gesehen sind wir eine Stiftung, aber bei unserem Projekt geht es nicht darum, Menschen in ein rechtliches Korsett zu zwingen, es geht um den freien und bewussten Zusammenschluss zu Gemeinschaften, die entschlossen sind, sich von den Marktdiktaten zu lösen.

Es begann im Jahr 2015. Ausgangspunkt für die Produktion war Carache im Andenstaat Trujillo, dazugekommen sind die Kommune El Panal und später San Agustín Convive als städtische Basisorganisationen in Caracas.

Außerdem gab es seit 2021 eine Zusammenarbeit mit 270 Schulen, um ihnen die Erzeugnisse zu liefern, die sie benötigten, um gute Mahlzeiten für fast 100.000 Kinder zu kochen. Gerade dies ist wichtig in einer Zeit, in der sich die Blockade auf die Ernährung der Kinder auswirkt. „Pueblo a Pueblo” sorgt für vielfältige und ausgewogene Schulmahlzeiten mit Vor-Ort-Begleitung und ohne Zwischenhändler.

Salvador Salas ist Teil des Koordinierungsteams:

Im Kapitalismus sind die Arbeitskräfte auf dem Land von denen in der Stadt durch kaum zu überwindende Mauern getrennt. Jeder versteht, dass die Güterversorgung im kapitalistischen System für arbeitende Menschen ein Problem ist. Der Zwischenhandel trennt die Welten von Produzenten und Konsumenten, und es ist nicht leicht, diese Trennung zu überwinden.

Um dies zu ändern, müssen wir uns klarmachen, wie diese Barriere aufgebaut ist. Es geht nicht nur darum, dass die Zwischenhändler die Lastwagen, die Silos und die Genehmigungen haben, was an sich schon wichtig ist. Es geht auch um die Ressourcen, die für den Anbau einer Pflanze benötigt werden. Um einen Hektar Tomaten anzubauen, braucht der Erzeuger Saatgut und andere Mittel; die Kosten für die Betriebsmittel gehen in die Tausende von Dollar.

Um die Ernte zu finanzieren, sieht ein Campesino sich oft gezwungen, sich an einen Kapitalgeber im Vertriebsgeschäft zu wenden; dieser liefert die Betriebsmittel, aber zu Bedingungen, die für den Campesino sehr ungünstig sind. Durch solche Geschäfte verlieren die Bauern die Kontrolle über den Produktionsprozess, und einige machen am Ende sogar Verlust.

Gabriel Gil ist Landwirt, Erzieher und Mitglied des Koordinierungsteams:

Deshalb regeln wir in „Pueblo a Pueblo” die bäuerliche Produktion und den Konsum der Arbeiterklasse ohne kapitalistische Vermittlung oder Verteilung.

Ich sollte noch etwas hinzufügen: Die kleinbäuerliche Produktion ist tatsächlich sehr effizient. Nach Angaben der „Sociedad Científica Latinoamericana de Agroecología” werden etwa 70 Prozent des weltweit konsumierten Obstes und des Gemüses von Kleinbauern produziert. Andere Quellen, wie die Berichte der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, kommen zu ähnlichen Zahlen, Venezuela ist gar keine Ausnahme.

Foto1: venezuelanalysis.com/interviews/15763

Salvador Salas: Werfen wir einen Blick auf unsere Erfahrungen bei „Pueblo a Pueblo”: Zwischen 2015 und 2020 wurden im Rahmen unseres Plans vier Millionen Kilo Güter verteilt, mit denen sich Tausende von Menschen ernährten. Das meiste davon stammt von den 140 angeschlossenen Erzeugern, die insgesamt etwa 100 Hektar Land bewirtschaften.

Das zeigt, dass bäuerliche Produktion – gerade in Zeiten, in denen sich die Krise des Kapitals mit der imperialistischen Belagerung Venezuelas verbindet – nicht nur effizient ist, sondern auch den Ausweg weist. Konventionelle Landwirtschaft ist destruktiv für die Umwelt, für das Sozialgefüge und die Souveränität, und der Ertrag pro Hektar ist tendenziell niedriger als bei kleinbäuerlicher Produktion.

Deshalb plädieren wir für ein selbst organisiertes Modell, das den Markt abschafft, indem es Erzeuger und Verbraucher zusammenbringt, und das die Umwelt, die Bauern und die Verbraucher schützt.

Gabriel Gil:

Die „Grüne Revolution”, die in den 1960ern hier Einzug hielt, führte zum Bruch zwischen Bauern und Natur. Damals setzte sich die industrielle Landwirtschaft mit einem Modell durch, das Boden und Wasser verschmutzt und dem Land die Nährstoffe entzieht. Dieses Modell begünstigt das Kapital gegenüber dem Leben der Bauern – und dem Leben im Allgemeinen – und stellt die übergreifenden Unternehmerinteressen über die eigenen nationalen Vorstellungen.

„Pueblo a Pueblo” ist ein Projekt, das nicht nur die Barrieren zwischen städtischer und ländlicher Arbeiterschaft abbaut, sondern auch die Verwendung eigenen Saatguts und agroökologischer Praktiken fördern will. Nun könnte man zweifeln, ob das tatsächlich machbar ist. Ja, ist es: Während ein Hektar mit gentechnisch verändertem, agroindustriellem Mais bis zu 10.000 Kilo Mais ergibt, kann ein ökologisch und bäuerlich bewirtschafteter Hektar höheren Ertrag bringen, und die Ernte wird diversifiziert.

Ana Dávila ist Mitglied im Grundlagen- und Vertriebsteam:

Die Campesinos von „Pueblo a Pueblo” sind Teil des „Netzwerks freier Produzenten” (Red de Productores Libres y Asociados). Carache ist der ländliche Ursprung des Projekts, weitere Produzenten gibt es in verschiedenen Bundesstaaten, darunter Lara, Portuguesa, Yaracuy und Barinas. Die Bauern produzieren für unser Verbrauchernetzwerk, in welchem Gemeinschaften aus Caracas, Miranda, La Guaira, aus Aragua und Carabobo organisiert sind. Ich würde sagen, dass unsere wichtigste Errungenschaft darin besteht, Produzenten und Konsumenten zusammenzubringen. Wenn Campesino und Barrio-Bewohner einander in die Augen sehen, wenn sie die Geschichten des anderen hören, entsteht eine klassenbewusste Solidarität.

Ein weiteres unserer Anliegen war es, eigene Kostenstrukturen außerhalb des Systems zu schaffen, was Folgendes bedeutet: Unsere Preise werden nicht vom Markt, sondern von den Campesinos bestimmt, die somit keinen Preisspekulationen ausgesetzt sind. Auch die Verbraucher sind nicht den Launen des Marktes ausgeliefert, wo die Preise oft grundlos in die Höhe gehen. Das bedeutet, dass die Erzeuger bei „Pueblo a Pueblo” eine faire Bezahlung für ihre Ernte erhalten und dass die Verbraucher in der Lage sind, Lebensmittel zu Preisen zu beziehen, die bis zu 70 Prozent unter dem Marktpreis liegen.

Wie Sie sich vorstellen können, ist all dies sehr wichtig in einem Land, das einer brutalen US-Blockade ausgesetzt ist.

Die Leitprinzipien von „Pueblo a Pueblo”

Gabriel Gil: Um „Pueblo a Pueblo” zu verstehen, ist es wichtig, die fünf agroökologischen Dimensionen zu benennen, die wir fördern und die auch universelle Prinzipien sind.

Die erste Dimension für uns ist die Verkürzung der zerstörerischen Distanz zwischen Land und Stadt. Mit anderen Worten, es geht um die Verteilung von Lebensmitteln ohne Zwischenhändler, Spekulanten und andere Akteure. Sie [die Zwischenhändler] sind in der Lage, die Produktion an sich zu reißen, weil die kapitalistische Welt so konzipiert ist, dass Konsum auf der einen Seite und die Produktion auf der anderen Seite konzentriert ist.

Deshalb arbeiten wir an Systemen, bei denen Erzeuger und Verbraucher sich ohne Zwischenhändler und außerhalb von Marktverwerfungen austauschen. Auf diese Weise entsteht eine solidarische, geschwisterliche Klassenverbindung zwischen Erzeugern und Verbrauchern. Dies ermutigt den Campesino, sorgfältiger und mit weniger Giftstoffen zu produzieren, und der Städter überwindet den Zustand des entfremdeten Konsumenten, und vielleicht kommt er sogar nach Carache, um bei der Ernte zu helfen.

Ein weiteres unserer Prinzipien ist die Rettung von Land und Territorium. Wenn wir von Rettung des Landes sprechen, dann meinen wir Aktionen, die Campesinos zu Eigentümern des Landes machen. Wenn wir von der Befreiung der Territorien sprechen, so meinen wir auch die kulturelle Wiederaneignung.

Und was bedeutet das konkret? Wenn Campesinos die Kontrolle über ein Stück Land übernehmen, so ist das gewiss gut. Wenn sie jedoch weiterhin im konventionellen, hochgradig umweltschädlichen System arbeiten, so reproduzieren sie nur die bestehenden Lebensweisen. Deshalb fördert „Pueblo a Pueblo” auch den kulturellen Wandel, bei dem Werte wie Solidarität, Kooperation und Vergemeinschaftung wieder ins Zentrum rücken.

Foto2: venezuelanalysis.com/interviews/15763

Dazu kommt das Prinzip, gesunde Nahrungsmittel zu erzeugen. Und das bedeutet, eine andere Gangart einzulegen und den Einsatz chemischer Pestizide und anorganischer Düngemittel hinter sich zu lassen. Skeptiker mögen sagen, dass dies alles nicht machbar sei. Aber laut Miguel Angel Altieri, einem international anerkannten Experten für Agrarökologie, liegen die Erträge der konventionellen, biotechnischen Landwirtschaft unter denen der bäuerlichen Landwirtschaft. Eine Parzelle Monokultur zum Beispiel kann 10.000 Kilo Mais pro Hektar erbringen, aber eine diversifizierte Campesino-Parzelle wird Kochbanane, Yucca und Avocado (um nur einige zu nennen) anbauen und dabei systematisch eine größere Ernte einbringen als die Monokultur.

Der conuco, die milpa, die chacra – so heißen die Anbauflächen der Bauern in Lateinamerika – sind der Schlüssel zur Ernährungssouveränität. Und warum? Weil intensive Pflege, Diversifizierung, Fruchtwechsel und andere nicht-industrielle Praktiken wie der Einsatz von Zugtieren zu hohen Ernteerträgen führen und dem Boden nicht die Nährstoffe entziehen.

Ein weiterer Grundsatz von „Pueblo a Pueblo” ist die Weiterentwicklung der Campesino-Produktion. Traditionell nehmen Indigene, Schwarze und allgemein conuco-Erzeuger einen Teil ihrer Ernte und verarbeiten sie zu Mehl und anderen Produkten für die eigene Vorratskammer. Wir wollen diese Praxis ausweiten, damit die Erzeuger ein eingebautes Sicherheitsnetz haben und Verbraucher die verarbeiteten Produkte erwerben können. Auf diese Weise vermeiden Erzeuger und Verbraucher die hochgradig verarbeiteten Lebensmittel, die unserer Gesundheit schaden und die vom globalen agroindustriellen Komplex kontrolliert werden.

Und nicht zuletzt die Organisation. Für den Erfolg unkonventioneller, gesunder, nicht-marktförmiger Praktiken ist Organisation das A und O. Wir brauchen eine neue Perspektive. Die Menschen in Stadt und Land sollten sich um das alternative Modell herum organisieren, und auch die Institutionen müssen den Wandel fördern. Den Wandel hin zu etwas, das gerade jetzt, in einem belagerten Land, von zentraler Bedeutung ist: die Souveränität unserer Ernährung.

Wir sagen oft, dass wir zwei Schritte vom Hunger und einen Schritt von Ernährungssouveränität entfernt sind. Wenn wir den richtigen Weg einschlagen, werden wir gedeihen. Wenn nicht, so kann sich die Krise verschärfen.

Die Ursprünge von „Pueblo a Pueblo”

Ricardo Miranda: Die Geschichte von „Pueblo a Pueblo” lässt sich bis in die 1980er-Jahre und den Kampf der Bauern um ihr Land zurückverfolgen. Damals brachte ein langer Konflikt in Los Cañizos-Palo Quemao im Bundesstaat Yaracuy Studenten der Universität und Campesino-Familien zusammen. Die Campesinos waren in den späten 1950ern von ihrem Land vertrieben worden, als Tausende Hektar in die Hände von Kubanern gerieten, die Zuckerrohr anbauten.

In einem Lager in der Nähe von Los Cañizos leisteten wir Widerstand gegen die brutale Unterdrückung durch Militär und Polizei, wir bauten Barrikaden, es gab Scharmützel mit dem Militär, Pestizide wurden aus dem Flugzeug gesprüht, was das Vieh tötete und die Jungen und die Alten krank machte. So kamen wir in Bewegung, damals schrieb ein Journalist von Le Monde Diplomatique einen Artikel über die „chemische Kriegsführung” gegen das venezolanische Volk.

Wir stürmten die spanische und die mexikanische Botschaft in Caracas. 1991 musste [Präsident] Carlos Andrés Pérez schließlich nachgeben, und die Campesinos konnten endlich auf ihr Land und sich dort niederlassen.

Ich war mit vielen anderen dabei, und diese Erfahrung veränderte nicht nur unser Bewusstsein für den Kampf der Campesinos, wir lernten auch, dass mittels öffentlicher Medien breite Sympathie für die Kämpfe auf dem Land erreicht werden kann.

Ab 1991 waren wir Teil der Bauernbewegung Jirajara. In Los Cañizos erkannten wir, dass die Zwischenhändler den Bauern das Leben aussaugten, und wir machten unseren ersten Versuch, die abzuschaffen. In Caracas gab es eine Gruppe von Priestern, die sich für die Menschen einsetzten, und wir errichteten dort mehrere Zentren zur Verteilung der bäuerlichen Produktion.

Am Anfang war es nicht leicht, wir hatten einiges an Produktionsausfällen. Aber auf diese Weise fingen wir an, etwas von Verteilung zu verstehen. In Los Cañizos haben wir unser Handwerkszeug gelernt; wir lernten etwas über Organisation, über landwirtschaftliche Produktion, aber auch, dass es nicht reicht, die Kontrolle über das Land zu haben. Es ist ebenso wichtig, über Verteilung und Konsum und die Sozialstrukturen nachzudenken. Dies ist eine Aufgabe, die beim Bolivarischen Prozess immer noch ansteht.

Ich möchte ergänzen, dass unser Blick viel weiter zurückreicht, bis ins 16. Jahrhundert, als Miguel de Buría und sein Partner Guiomar, die in Dahomey [heutiges Benin] gefangen genommen wurden und nach Yaracuy verkauft worden waren, sich gegen ihre Sklavenhalter auflehnten und „Cumbes”, befreite Gebiete, gründeten. In diesen freien Gebieten lebten ehemals versklavte und indigene Menschen in Gemeinschaft. Für „Pueblo a Pueblo” ist es von erheblicher Bedeutung, auf diese Vergangenheit zurückzublicken.

Wobei der Ursprung von „Pueblo a Pueblo” auch auf [den 2013 verstorbenen Präsidenten Hugo] Chávez zurückgeführt werden kann. Und auf das Landgesetz von 2001, das den Weg für die Revolution auf dem Land öffnete.

In den frühen 2000ern übernahmen Laura, Gabriel, auch ich und andere Genossinnen und Genossen Posten in der staatlichen Agrarbürokratie in Yaracuy. Von dort aus konnten wir die bäuerliche Produktion gut unterstützen: Wir verteilten zehntausend Traktoren und setzten uns ein für das „Dekret 090″.

Laura Lorenzo: Das Dekret 090 ist ein wichtiger Teil unserer Geschichte. Es wurde 2004 verabschiedet und war hilfreich zur Aktivierung des Bodengesetzes in zwei Bundesstaaten: Cojedes und Yaracuy. Das Dekret war ein juristisches Instrument, aber auch ein sozialer Hebel, der es landlosen Campesinos ermöglichte, effektiv ihr Land zurückzugewinnen.

Das Dekret machte, kurz gesagt, das Bodengesetz anwendbar: Nach einer juristischen und technischen Überprüfung eines reklamierten Grundstücks und mit dem Dekret in der Hand, konnten die Menschen zum Landstück gehen und es in Besitz nehmen. Allein in Yaracuy, wo wir tätig waren, wurden 110.000 Hektar zurückgewonnen, und für Hunderte, wenn nicht Tausende Bauernfamilien gab es Gerechtigkeit.

Ricardo Miranda: Die Jahre, in denen wir Regierungsämter hatten, waren lehrreich und ermöglichten uns ein umfassendes Verständnis der bäuerlichen Situation, genauer gesagt Verständnis der Notlage der Bauern im Kapitalismus. Auf dem Weg dorthin hatten wir zwei Engpässe, zum einen die Frage der Güterverteilung und außerdem die Frage der politischen Bildung.

Chávez war unser Lehrer, und als er starb, da war der Raum, den er mit seinem Denken gefüllt hatte, leer.

2014 verließen wir unsere Büroposten, um direkt auf dem Land mit den Campesinos zu arbeiten, wobei wir aber weiterhin mit staatlichen Stellen kooperierten. Unsere Idee war, die Barriere zwischen Stadt und Land zu überwinden, wichtig war uns auch, neue und eigene Denkweisen bei den Campesinos und den städtischen Arbeitern zu verankern.

So machten wir uns auf den Weg und begannen, die Route der Simón Bolívar-Guerillafront [der Fuerzas Armadas de Liberación Nacional, FALN] zurückzuverfolgen, die in den 1960er-Jahren gegen die korrupte Regierung und das Kapital rebelliert hatte. Angeführt von Argimiro Gabaldón kämpfte sie damals in den Bundesstaaten Yaracuy, Portuguesa, Barinas, Lara und Trujillo.

Auf der Suche nach einem Ort, um mit dem Aufbau eines gerechten Modells für Produktion, Vertrieb und Verbrauch der bäuerlichen Produktion zu beginnen, erfuhren wir, dass die Guerillafront in ihrem gesamten Gebiet die Campesinos schon organisiert und zur Gründung ländlicher Finanzkassen ermutigt hatte. Außerdem förderte sie die Gründung von Genossenschaften und von Bauernverbänden.

So beschlossen wir, das, was die Guerilleros schon geleistet hatten, in deren Sinne weiter zu verfolgen.

Wir folgten der historischen Route der Guerilla und gelangten nach Carache im Páramo de Tucamán im Bundesstaat Trujillo. In den 60ern hatte Gabaldón „Carache” als seinen Guerrilla-Namen gewählt, fünf Jahrzehnte später machten wir Carache zum Ursprungsort des Plans „„Pueblo a Pueblo””.

Im Jahr 2015, unserem offiziellen Geburtsjahr, begannen wir, mit dem Ernst zu machen, was wir die „doppelte Partizipation” nennen [siehe Teil II dieses Gesprächs], also damit, Produzenten und Konsumenten zusammenzubringen, um den kapitalistischen Zwischenhandel auszuschalten.

Unsere Geschichte ist im Inneren verwoben mit den Kämpfen der Campesinos, die unterdrückt werden durch das landraubende Agrarmodell, das den Kapitalismus ausmacht.

Übersetzung: Herwig Meyer, Amerika21

Titelbild: venezuelanalysis.com/interviews/15763

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