Venezuela: Haben wir ein Recht auf Information?

Venezuela: Haben wir ein Recht auf Information?

Venezuela: Haben wir ein Recht auf Information?

Ein Artikel von amerika21

In Liebesangelegenheiten erwarten wir oft, dass unser Partner auch ohne Worte weiß, was los ist. Wir gehen davon aus, dass unser Partner eine Art Hellseher ist, der unsere Handlungen und Haltungen akzeptieren muss, auch wenn er sie nicht versteht. Das ist nicht die gesündeste aller Angewohnheiten und kann dazu führen, dass Beziehungen auf lange Sicht Schaden nehmen oder gar nicht überleben. Die venezolanische Journalistin Jessica Dos Santos über die frustrierende Angewohnheit der Behörden, nur gute Nachrichten zu verkünden.

Im Moment ist das mehr oder weniger die Beziehung zwischen dem venezolanischen Volk und dem Staat. Wir leben in einem Zustand des ständigen Rätselratens, der Selbsterklärungen, des Suchens unter Steinen nach Informationen, die allen zugänglich sein sollten. Ich nenne ein Beispiel: Vor ein paar Wochen ging die Wasserversorgung in meinem Bezirk so weit zurück, dass es fast keine mehr gab.

Ich lebe seit sieben Jahren hier, habe also die Höhen und Tiefen dieses Themas erlebt. Am Anfang war es schrecklich. Dann wurde es besser, dann wieder schlechter. Sicher gab es für jede dieser Phasen einen guten Grund, eine fundierte Erklärung (auch wenn das ein schwacher Trost ist, wenn man kein Wasser hat). Aber niemand hat je eine gegeben. Wir wissen nie, warum es passiert, was sich geändert hat.

Beim letzten Mal kamen die Nachbarn zusammen, um zu versuchen, Antworten zu bekommen. Der Bezirk ist in 50 Gemeinden aufgeteilt, die sich über 272 Straßen erstrecken. Jede von ihnen setzte sich mit den Wasserbehörden in Verbindung, wie in den alten Tagen der „Wassertische” (Mesas Técnicas de Agua[1]). Dabei wurden Probleme festgestellt, die von 40 Jahre alten, nicht mehr funktionierenden Rohren bis zu undichten Stellen oder gar fehlenden Ventilen reichen.

Ich habe mich gefragt, ob das auch in anderen Stadtteilen die Regel ist, aber das kann man unmöglich wissen.

Doch hier geht es nur um Wasser, was passiert mit anderen Dingen? Im Jahr 2009 kündigte Präsident Chávez beispielsweise einen Plan zur Rationierung des Stromverbrauchs an, da die Wasserstände in den großen Staudämmen aufgrund des Klimaphänomens El Niño gesunken waren.

Er nahm die politischen Kosten dieser Entscheidung, die Angriffe der Opposition und die Kritik der Medien auf sich. Ehrlich gesagt war es lästig, die Zeitung zu kaufen oder das PDF-Dokument zu finden, dein Gebiet ausfindig zu machen und herauszufinden, an welchen Tagen und zu welchen Zeiten du keinen Strom hast. In manchen Bezirken dauerte das mehr als vier Stunden pro Tag. Dennoch konnten wir damit unsere Angelegenheiten planen, Geräte vor Schäden schützen usw.

Heutzutage gibt es keine Möglichkeit mehr, Ärger zu vermeiden, alles ist eine (unangenehme) Überraschung.

Ein weiteres wiederkehrendes Thema: Treibstoff. Als es wieder einmal zu Engpässen mit langen Warteschlangen in vielen Regionen und einer fast vollständigen Abschaffung des subventionierten Benzins kam, riefen die Behörden zur „Ruhe” auf, weil „der Betrieb in der Raffinerie El Palito wieder aufgenommen wurde”. Wiederaufgenommen? Wann wurde er gestoppt? Und warum?

Mitten in der Suche nach Antworten meldete sich die National Iranian Oil Engineering & Construction Co. (NIOEC) zu Wort. Im vergangenen Jahr erhielt sie einen Vertrag über 110 Millionen US-Dollar, um Reparaturarbeiten durchzuführen, und kündigte an, dass die Raffinerie in zwei Monaten wieder voll betriebsbereit sein werde.

Dieser Mangel an Informationen ist eine Bedingung, damit nur gute Nachrichten verbreitet werden. Reaktivierte Raffinerien werden nie beschädigt. Was auch immer negativ ist, wird uns von der Realität aufgezwungen.

In diesem Zusammenhang haben Präsident Nicolás Maduro und Kulturminister Ernesto Villegas kürzlich bei einer Feierlichkeit zum Nationalen Journalistentag die verbündeten Medienschaffenden „ermahnt”, denn „Information ist ein Recht, kein Geschenk. Die Menschen verdienen es zu wissen, was vor sich geht. Sie fordern informative Berichterstattung.”

Die Witze schreiben sich an diesem Punkt von selbst, aber gleichzeitig habe ich mich gefragt: Was sollen Journalisten denn berichten, wenn die Behörden (in verschiedenen Bereichen) keine Informationen geben? Selbst Minister brauchen die Erlaubnis von höherer Stelle, um Stellungnahmen zu machen. Es hat viele Fälle gegeben, in denen Beamte ihren Job verloren haben, weil sie ohne Erlaubnis mit der Presse gesprochen haben.

Was tun wir, wenn sogar die grundlegendsten offiziellen Daten seit Jahren versteckt werden? Zum Beispiel hat die Zentralbank 2019 aufgehört, die BIP-Daten zu veröffentlichen. Wir haben erst wieder monatliche Zahlen erhalten, als die Inflation deutlich gesunken war.

Gerade als mir diese Gedanken durch den Kopf gingen, schien Villegas, der selbst Journalist ist, die Zweischneidigkeit seiner Worte klar zu werden. So beklagte er, dass die Medien nicht angemessen über die Orte und Zeiten eines kürzlich stattgefundenen Theaterfestivals berichtet hätten. Information ist gut, aber ziemlich selektiv, so scheint es.

Als Journalistin erfüllt es mich mit Sorge, dass ich nicht in der Lage bin, nachzuforschen oder Fragen zu stellen. Ein aktueller Fall mit großer öffentlicher Aufmerksamkeit war der Korruptionsskandal bei der staatlichen Ölgesellschaft PDVSA. Die Behörden lieferten viele Informationen über die Inhaftierten, die Zahlen der Veruntreuung und sogar über die Büros, in denen die Betrügereien stattfanden. Und dann drehten sie den Hahn zu. Der ehemalige Ölminister Tareck El Aissami, der zumindest politische Verantwortung in dem Ganzen trägt, ist seit März einfach verschwunden.

Ich werde nicht so tun, als sei der Journalismus in Venezuela kein Schlachtfeld, vor allem, wenn es um die Konzernmedien geht. Uns ist also klar, dass Vorsicht geboten ist. Der Staatsstreich von 2002 ist ein warnendes Beispiel. Aber diese Angewohnheit, unbequeme Informationen zu verheimlichen und denen gegenüber, die mehr wissen wollen, sogar Misstrauen zu hegen, zeugt von mangelndem Vertrauen in das Volk. Das Volk ist schon immer der Situation gewachsen gewesen, ob es nun Putschversuche abwehrte oder herausfand, warum es kein Wasser gibt.

Jessica Dos Santos aus Venezuela ist Universitätsdozentin, Journalistin und Schriftstellerin. Sie ist die Autorin des Buches „Caracas en Alpargatas” (2018)

Übersetzung: Vilma Guzmán, Amerika21

Titelbild: Shutterstock / Anton Watman


[«1] Die sogenannten „Wassertische” (Mesas Técnicas de Agua) waren Basisgruppen, vor allem in den Barrios. Gemeinsam mit staatlichen und kommunalen Wasserbetrieben arbeiteten sie an der Verbesserung der Versorgung. 2011 gab es etwa 7.500 dieser Komitees im ganzen Land. Sie erstellten Analysen der Probleme in ihrer Nachbarschaft und koordinieren dann deren Lösung in den „Kommunitären Wasserräten” mit Ingenieuren und Vertretern der Wasserbetriebe

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