Vereinbarungen gebrochen, Vertrauen verspielt – Wie sich der Kreml vom Westen betrogen fühlt

Vereinbarungen gebrochen, Vertrauen verspielt – Wie sich der Kreml vom Westen betrogen fühlt

Vereinbarungen gebrochen, Vertrauen verspielt – Wie sich der Kreml vom Westen betrogen fühlt

Hannes Hofbauer
Ein Artikel von Hannes Hofbauer

Von der NATO-Osterweiterung seit 1999 über das Protokoll von Minsk 2015 und die ukrainisch-russischen Friedensverhandlungen vom März 2022 bis zu den Getreideabkommen dieser Tage machte Moskau bittere Erfahrungen mit dem Westen, die führende politische Kreise zunehmend als Verrat an Russland interpretieren. Wir wollen uns in der Folge diese Sichtweise genauer ansehen, ohne dafür die militärischen Antworten der russischen Seite gutheißen zu müssen. Von Hannes Hofbauer.

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Vielleicht hilft es zum Verständnis, mit einer ganz großen historischen Keule zu beginnen, dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939. Hierzulande wird dieser nach den meistverachteten Figuren des 20. Jahrhunderts benannte Hitler-Stalin-Pakt vornehmlich in Bezug auf das Schicksal Polens diskutiert. Auch die Aufteilung in deutsche bzw. sowjetische Einflusssphären im Baltikum, die ebenfalls im geheimen Zusatzprotokoll vermerkt war, zieht nach wie vor die Aufmerksamkeit der Historikerzunft auf sich. Der Vertragsbruch durch Berlin vom 22. Juni 1941 ist dem kollektiven russischen Gedächtnis eingeprägt, in der deutschsprachigen Erinnerung firmiert er unter „Überfall auf die Sowjetunion“.

Das Bemühen des Hitler-Stalin-Paktes zur Einleitung dient dazu, abseits der moralischen Einordnung des machtpolitischen Gerangels zweier Diktaturen, den historischen Moment des deutschen, also westlichen Verrates im Verhältnis zum (russischen) Osten in Erinnerung zu rufen. Der Vertragsbruch scheint auch im aktuellen Verhältnis zwischen der transatlantischen Allianz und der Russländischen Föderation eine Konstante darzustellen. Und wichtige gebrochene Versprechen gehen von Washington, Brüssel und Berlin aus.

Da wäre einmal die Osterweiterung des transatlantischen Militärbündnisses NATO. Einen schriftlichen Vertrag, dass eine solche nach dem Rückzug der Roten Armee aus der DDR nicht stattfinden würde, gibt es nicht; das Versprechen auf eine neue, nicht-militarisierte Weltordnung jedoch schon. Keine geringeren als die beiden Chefdiplomaten der USA und der BRD stellten sich eine Woche vor der entscheidenden Verhandlungsrunde mit Moskau über den Abzug sowjetischer Soldaten am 3. Februar 1990 vor die Presse. Der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher im Originalton: „Wir waren uns einig (gemeint waren er selbst und der neben ihm stehende US-Außenminister James Baker, d.A.), dass nicht die Absicht besteht, das Nato-Verteidigungsgebiet nach Osten auszudehnen. Das gilt übrigens nicht nur in Bezug auf die DDR, die wir da nicht einverleiben wollen, sondern das gilt ganz generell.“[1] Genscher wiederholte diese Aussage eine Woche später in Moskau gegenüber seinem sowjetischen Amtskollegen, Außenminister Eduard Schewardnadse.

Am 12. März 1999, keine zwei Wochen vor dem ersten Einsatz der NATO „out of area“ gegen Serbien, wurden Ungarn, Tschechien und Polen Mitglieder der westlichen Militärallianz – und fanden sich flugs im Kriegseinsatz gegen Belgrad. In vier weiteren Etappen sind bis März 2020 elf osteuropäische Staaten (davon acht Zerfallsprodukte der früheren multinationalen Gebilde Sowjetunion, Tschechoslowakei und Jugoslawien) in die NATO eingetreten (worden).[2] Dem weiteren Vormarsch des Militärbündnisses in Richtung der Ukraine trat Russland am 24. Februar 2022 mit seinem Einmarsch entgegen.

Von Deutschland und Frankreich verraten fühlte sich der Kreml dann im Sommer 2003. Eben noch war man gemeinsam mit Berlin und Paris gegen die grausam ins Werk gesetzten Allmachtsphantasien der US-amerikanischen Regierung von George W. Bush aufgetreten und hatte ihn in seinem Krieg gegen den Irak alleingelassen. Washington war seit den Ereignissen von Nine-Eleven (2001) im Anti-Terror-Rausch. Für den Waffengang gegen Saddam Hussein, der mit einer dreisten Lüge gerechtfertigt worden war, mussten sich die USA eine seltsame „Koalition der Willigen“ zusammenbasteln. Ihre wichtigsten NATO-Verbündeten Deutschland und Frankreich versagten die Zusammenarbeit. In Moskau interpretierte man dies als Wende von einer kriegslüsternen transatlantischen Stimmung zu geopolitischer Vernunft. Der Kreml sollte sich täuschen. Neben der Tatsache, dass deutsche Steuerzahler indirekt Bushs Kriegsgang finanzierten, wurde bald auch klar, dass der deutsche Auslandsgeheimdienst BND aktiv in die Zielauswahl für die Bombardierung Bagdads als Feuerleitstelle eingebunden war.[3] Russland blieb mit seiner Ablehnung des Irakkrieges allein. Die NATO-Reihen schlossen sich hinter dem Pentagon.

Den vielleicht wichtigsten Vertrauensbruch im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise stellt die Nichtumsetzung des Minsker Abkommens vom 12. Februar 2015 dar. Darin war neben einem Waffenstillstand, einem Gefangenaustausch und einer demilitarisierten Zone die Föderalisierung der Ukraine als politischer Kernpunkt aufgelistet. Mit dem Vertrag von Minsk sollte der ukrainische Staat in seiner Territorialität (mit Ausnahme der Krim) erhalten bleiben und den sezessionistischen Regionen im Osten (Donezk und Luhansk) sollten weitgehende Autonomierechte eingeräumt werden. Nachdem die ukrainische Führung bald ihren Unwillen zur Umsetzung durchblicken hat lassen, verabsäumten es auch die Signatarstaaten Deutschland und Frankreich, dem durch die UN-Resolution 2202 (2015) völkerrechtlich verbindlichen Vertrag zum Durchbruch zu verhelfen. Acht lange Jahre lag die Minsker Vereinbarung auf Halde, während der Krieg im Donbass, den die ukrainische Armee und rechtsradikale Freiwilligenverbände gegen die abtrünnigen Volksrepubliken führten, Tausende Tote forderte. Erst nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 redeten dann die westlichen Verhandlungsführer von Minsk Klartext. François Hollande und Angela Merkel erklärten wortreich, dass Minsk wohl eher dafür abgeschlossen worden war, um Zeit für die Aufrüstung der Ukraine zu gewinnen als dafür, eine friedliche Lösung des Konflikts zustande zu bringen. Der Kreml merkte erst sehr spät, wie sehr er in Minsk und danach über den Tisch gezogen worden war.

Ein weiterer Vertrauensbruch von westlicher Seite erfolgte dann wenige Wochen nach dem russischen Einmarsch, wobei hier freilich festzuhalten ist, dass die Invasion der russischen Armee nicht nur völkerrechtswidrig war, sondern ihrerseits auch einen Bruch des Budapester Memorandums von 1994 darstellte, womit Moskau im Gegenzug für den ukrainischen Nuklearwaffenverzicht die territoriale Integrität des Landes garantiert hatte.

Ab 10. März 2022, nur zweieinhalb Wochen, nachdem der Versuch, die Regierung von Wolodymyr Selenskiy zu stürzen, gescheitert war, begannen ernsthafte Verhandlungen um Frieden im türkischen Antalya. Schon zuvor hatten russisch-ukrainische Gespräche auch im belarussischen Gomel sowie intensive Bemühungen um einen Waffenstillstand unter Vermittlung des israelischen Premierministers Naftali Bennett stattgefunden. Das türkische Antalya sah – patroniert von Präsident Recep Tayyip Erdogan – hochrangige Delegationen aus Russland und der Ukraine unter der Führung der beiden Außenminister Sergej Lawrow und Dmytro Kuleba. Bis zum 29. März lag dann das sogenannte „Istanbuler Kommuniqué“ vor, wie es im Dolmabahçe-Palast formuliert worden war. Dies war ein mit russischen und ukrainischen Unterhändlern abgestimmter Entwurf für einen Waffenstillstand, der in der Folge auf höchster präsidialer Ebene hätte unterzeichnet werden können. Die Ukraine stimmte darin einer Neutralitätserklärung sowie einem Verzicht auf die NATO-Mitgliedschaft zu und garantierte, keine ausländischen Truppen auf ihrem Staatsgebiet stationieren zu lassen. Russland hätte laut dem Kommuniqué seine Truppen auf die Linie vom 23. Februar, also dem Tag vor dem Einmarsch, zurückgezogen. Und, was besonders hoffnungsfroh stimmte, über den Status der Krim sollte in den kommenden 15 Jahren entschieden werden; mit anderen Worten: die Lage wäre für damalige Verhältnisse maximal entschärft worden.

Als Geste des guten Willens zog Moskau seine Truppen an diesem 29. März 2022 aus der Gegend um die ukrainische Hauptstadt ab. Diese waren vom belarussischen Staatsgebiet am 24. Februar in Richtung Kiew marschiert, um eine geplante Ausschaltung der ukrainischen Führung durch Spezialeinheiten der russischen Armee abzusichern. Über den Kiewer Werksflughafen Hostomel wollten damals russische Fallschirmjäger ins Zentrum der Stadt vordringen, um Selenskiy und seine Militärs zu neutralisieren. Das Unterfangen scheiterte am Widerstand der ukrainischen Streitkräfte. Eine 70 km lange, in der Gegend um Tschernobyl auf ukrainisches Gebiet eingedrungene russische Militärkolonne steckte nun nördlich von Kiew fest. Ihren Rückzug am 29. März 2022 argumentierte der russische Vize-Verteidigungsminister Alexander Fomin damit, Vertrauen für den in Istanbul ausverhandelten Waffenstillstandsentwurf aufzubauen.[4] Damit, so auch der russische Delegationsleiter Wladimir Medinski, seien erste „Schritte zur Deeskalation“ der Lage gesetzt.

Schon drei Wochen zuvor, am 4. März 2022, hatte der damalige israelische Premierminister Naftali Bennett eine persönliche Friedensinitiative gestartet. Nach einem Treffen mit Putin telefonierte er mit Selenskiy. „Ich war nur der Mediator“, gab er ein Jahr später in einem aufschlussreichen Interview[5] zu Protokoll. Bennetts Ausführungen geben einen klaren Hinweis darauf, dass der Westen, insbesondere die USA, zu diesem frühen Zeitpunkt keinen Waffenstillstand wollten. „Es mag eine legitime Entscheidung des Westens gewesen sein, weiter Putin zu bekämpfen“, zeigt der israelische Staatschef Verständnis für den größten Geldgeber seines Landes. Worauf der Interviewer verstört nachfragt: „Putin zu bekämpfen? Ich denke, Putin bekämpft die Ukraine?“ Bennett lässt sich nicht aus dem Konzept bringen: „Ich meine damit den aggressiven (westlichen, d.A.) Zugang und ich kann nicht einschätzen, ob dieser falsch ist. Aber alles, was ich (in meiner Shuttle-Diplomatie zwischen Moskau und Kiew, d.A.) getan habe, war bis ins Detail abgestimmt, auch mit den USA, Frankreich und Deutschland“, und hätte einen Waffenstillstand nach sich ziehen können. Darauf der Interviewer: „Also haben diese die Initiative blockiert?“ „Grundsätzlich ja“, antwortet Bennett spontan. „Sie blockierten“, und setzt nachdenklich hinzu: „Ich denke, das war falsch“.

Blockaden gegen Bemühungen für einen Waffenstillstand gab es freilich auch in Russland und in der Ukraine. Ramsan Kadyrew, Premier der russischen Kaukasus-Republik Tschetschenien, war nur eine von mehreren prominenten Stimmen, die Waffenstillstandsgespräche und insbesondere den Rückzug der russischen Truppen aus dem Norden Kiews heftig kritisierten. Und auf der ukrainischen Seite musste sogar einer der Unterhändler der eigenen Verhandlungsgruppe über die Klinge springen. Denis Kireev wurde nach der Rückkehr aus Gomel, wo er mit russischen Vertretern ein mögliches Schweigen der Waffen besprach, am 5. März 2022 auf offener Straße von einer Einsatzgruppe des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes SBU während seiner Festnahme erschossen. Kireev war für den Militärgeheimdienst GUR tätig.

Die militärische Geste Moskaus, seine im Norden Kiews stationierten Truppen am 29. März zurückzuziehen, verhallte ohne Gegenleistung. Der Kreml fühlte sich einmal mehr düpiert. Am 1. April erreichten dann erste Meldungen eines Massakers im ukrainischen Ort Butscha die Öffentlichkeit. Obwohl die Urheberschaft bis heute nicht abschließend geklärt werden konnte, bedeutete dies das Ende aller Verhandlungen; am 9. April taucht der britische Premier Boris Johnson in Kiew auf, nachdem er Präsident Selenskiy bereits im Vorfeld seines Besuches eindrücklich davor gewarnt hatte, Putin gegenüber irgendwelche Zugeständnisse zu machen.[6] Die Aussicht auf einen Waffenstillstand rückte in weite Ferne.

Zu schlechter Letzt fühlte sich Russland auch noch beim Getreideabkommen hintergangen. Das im Juli 2022 unter der Schirmherrschaft des türkischen Präsidenten und der UNO ausverhandelte Abkommen ist am 17. Juli 2023 nach dreimaliger Verlängerung von Moskau beendet worden. Als Grund dafür gab der Kreml an, dass auch nach einem Jahr der ausverhandelte beidseitige Nutzen für die russische Seite nicht gegeben sei. Zwar darf auch Russland als einer der weltgrößten Exporteure von Getreide seine Fracht auf den Weltmarkt bringen, aber die dafür nötigen Finanz- und Versicherungsdienstleister bleiben durch die US- und EU-Sanktionen blockiert. Der Forderung, zumindest die russische Agrarbank Rosselchoss dem SWIFT-System wieder anzuschließen, damit internationale Geldtransfers ungehindert stattfinden können, wurde von westlicher Seite nicht nachgegeben. Auch darf aufgrund der Sanktionen keiner der großen international tätigen Versicherer eine Fracht mit russischen Gütern versichern. Das (vorläufige?) Ende des Getreideabkommens wurzelt also, wie so vieles, in der verlorengegangenen Vertragssicherheit und in den vielen gebrochenen Vereinbarungen, die den Ukraine-Konflikt begleiten.

Titelbild: Freelography/shutterstock.com

Von Hannes Hofbauer ist zum Thema erschienen: „Feindbild Russland. Geschichte einer Dämonisierung“ (Promedia Verlag, Wien)


[«1] Hans-Dietrich Genscher auf der Pressekonferenz in Washington am 3. Februar 1990, siehe: youtube.com/watch?v=o8rarwFKjw8 (27.7.2023)

[«2] In zeitlicher Reihenfolge: Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei, Slowenien (2004); Albanien, Kroaten (2009); Montenegro (2017); Nordmazedonien (2020).

[«3] sueddeutsche.de/politik/deutschland-und-der-irak-krieg-jein-zum-krieg-1.893903 (27.7.2023)

[«4] sueddeutsche.de/politik/konflikte-krieg-gegen-die-ukraine-so-ist-die-lage-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-220329-99-709870 (28.7.2023)

[«5] infosperber.ch/politik/welt/nato-laender-haben-waffenstillstand-in-der-ukraine-vereitelt/; ab Minute 2:59:30 (27.7.2023)

[«6] dserver.bundestag.de/btd/20/061/2006106.pdf; theguardian.com/commentisfree/2022/apr/28/liz-truss-ukraine-war-russia-conservative-power (27.7.2023)

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