Nach zwölf Jahren noch immer aktuell: Daniele Gansers „Europa im Erdölrausch“

Nach zwölf Jahren noch immer aktuell: Daniele Gansers „Europa im Erdölrausch“

Nach zwölf Jahren noch immer aktuell: Daniele Gansers „Europa im Erdölrausch“

Ein Artikel von Eugen Zentner

Wir befinden uns mitten in einer Energiekrise. Erdöl und Erdgas sind so teuer geworden, dass gerade die westlichen Gesellschaften zu einer Verhaltensänderung genötigt werden. Gerade Europa steht vor fundamentalen Umwälzungen, weil die meisten Länder des Kontinents Erdöl nicht fördern, sondern auf Importe angewiesen sind. Doch das „Schwarze Gold“ geht zur Neige. Das Fördermaximum soll Mitte der 2000er-Jahre bereits erreicht worden sein. Das ist zumindest die These des Historikers und Friedensforschers Daniele Ganser, der sie in seinem Buch „Europa im Erdölrausch“ ausführlich erläutert. Eine Rezension von Eugen Zentner.

Die Monographie erschien das erste Mal im Jahr 2012, zu einer Zeit, die sehr, sehr lange zurückzuliegen scheint. Die Welt hat sich seitdem gewaltig verändert, nicht unbedingt wegen des Erdöls, sondern wegen der multiplen Krisen, die viele Menschen für den mangelnden Wahrheitscharakter offizieller Narrative sensibilisiert haben. Dazu trug auch Daniele Ganser bei, mit Recherchen und Vorträgen, in denen er die wahren Mechanismen und Vorgänge hinter den Kulissen einer breiten Öffentlichkeit zu erläutern versuchte. Als der Historiker „Europa im Erdölrausch“ herausbrachte, war er allerdings noch den wenigsten bekannt. Dabei hatte er schon damals all jene Themen kritisch beleuchtet, die heute von den Leitmedien sorgfältig abgeschirmt werden. Wer sie aufgreift, handelt sich schnell den Titel „Verschwörungstheoretiker“ ein – so wie Daniel Ganser selbst. „Europa im Erdölrausch“ lässt auch durchblicken, warum.

Kriege im Nahen Osten

Mit seinem Buch hat der Historiker die erste Gesamtdarstellung zu Europas Erdöl-Abhängigkeit vorgelegt und dabei aufgezeigt, inwieweit das „Schwarze Gold“ für stetigen Wohlstand sorgte und das Wirtschaftswachstum befeuerte. Als die Fördermenge jedoch abzunehmen begann, musste nicht nur Europa, sondern auch die Imperialmacht USA reagieren und ein Ressourcenmanagement betreiben, das bewaffnete Auseinandersetzungen impliziert. In diesem Kontext geht Ganser auf die Kriege im Nahen Osten ein, um zu veranschaulichen, dass gerade die USA immer ihre Finger im Spiel hatten, ob es sich um den Konflikt zwischen Iran und Irak oder dem zwischen Irak und Kuwait handelte. Gleiches gilt für die späteren US-Kriege gegen Irak und Libyen, für die der Angriff auf das World Trade Center am 11. September 2001 als Vorwand diente, obwohl sie lange davor geplant worden sein sollten.

Ganser geht in seinem Buch ans Eingemachte und fasst heiße Eisen an, schildert diese Zusammenhänge aber nicht im polemischen oder demagogischen Gestus, sondern sachlich-nüchtern, indem er Zeitungsartikel, Dokumente und Politikeraussagen auswertet. Er weist auf Widersprüche in den Narrativen hin, beschreibt die politischen Winkelzüge und zieht logische Schlussfolgerungen, legt aber die „verpönten“ Thesen geschickt in die Münder von Experten, Zeitzeugen und zentralen Akteuren, die er lediglich zitiert.

Einfluss des Erdöls auf die geschichtliche Entwicklung

Über weite Strecken liest sich Gansers Monographie wie ein klassisches Geschichtsbuch, in dem der Autor historisch einschneidende Ereignisse behandelt, allerdings immer unter Berücksichtigung der Rolle, die das Erdöl dabei spielte. Als besonders interessant erweisen sich die Passagen zum Aufstieg des US-Unternehmers John D. Rockefeller, der mit seiner Standard Oil Company den Markt zu kontrollieren begann und so zum ersten Milliardär der Weltgeschichte wurde. Wie er diese Vorrangstelle behauptete, schildert Ganser eindrucksvoll, indem er im Stil eines Kriminalroman-Autors Rockefellers Winkelzüge beschreibt. Die Konkurrenz in den USA wurde in der Anfangszeit sehr kreativ bekämpft, bis die Standard Oil Company an der Wende zum 20. Jahrhundert in verschiedenen europäischen Ländern Tochterfirmen gründete, die direkt der Zentrale in New York unterstanden.

Im Ersten Weltkrieg soll Erdöl ebenfalls ein gewichtiger Faktor gewesen sein, so Ganser, der sich unter anderem auf Historiker-Kollegen bezieht. Gerade England habe die Auseinandersetzung mit dem industriellen Rivalen Deutschland provoziert, um durch Eroberungen und territoriale Neuordnung nach dem Krieg vor allem die uneingeschränkte Kontrolle über die wichtigsten Lagerstätten des strategischen Rohstoffs der Zukunft zu sichern. Dass die menschlichen Opfer am Ende so hoch ausfielen, sei ebenfalls dem Erdöl geschuldet: „Denn es revolutionierte die Kriegsführung. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs waren Pferde, durch Kohle betriebene Schiffe und Eisenbahnzüge noch die Grundlage aller Planung. Doch im Verlauf des Krieges veränderten das Öl und der Verbrennungsmotor die Kriegsführung in jeder Hinsicht.“ Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte sei es zum Einsatz von Panzern, dieselbetriebenen Unterseeboten und Militärflugzeugen gekommen.

Einen entscheidenden Einfluss soll Erdöl auch auf den Zweiten Weltkrieg gehabt haben. Ganser akzentuiert vor allem die Rolle der USA, „dem mit Abstand wichtigsten Erdölproduzenten im Zweiten Weltkrieg“. Wer an dessen Seite kämpfte, „hatte genügend Erdöl und gewann, wer gegen die USA kämpfte, hatte zu wenig und verlor – wie das Schicksal von Japan und Deutschland zeigt“. Doch irgendwann wurde auch in den Vereinigten Staaten das Erdöl knapp, weshalb die Imperialmacht anfing, nach neuen Quellen zu suchen und blutige Ressourcenkriege zu führen.

Gefahr der Ressourcenkriege wächst

Diese Passagen gehören in Gansers Buch zu den interessantesten, weil sie vor Augen führen, dass sich die Ressourcenkriege wohl intensivieren, je knapper das Erdöl wird. Daran kann selbst die zunehmende Aufmerksamkeitsverschiebung auf unkonventionelles Erdöl nichts ändern. Gewonnen werde es unter anderem aus großen Meerestiefen. „Dieses Erdöl ist zwar flüssig, aber technisch sehr schwierig zu erschließen“, so Ganser. Zum unkonventionellen Erdöl gehöre auch das Polaröl aus der Arktis oder der Teersand, wie er zum Beispiel in der kanadischen Provinz Alberta abgebaut werde. Diese Arten von Erdöl seien jedoch „teuer, langsam und aufwendig in der Förderung“, weil viel Energie benötigt werde. Somit verschlechtere sich das Verhältnis zwischen Energieaufwand und Energieertrag.

Angesichts der zunehmenden Ressourcenkriege zeigt sich Ganser im Buch besorgt: „Der Kampf der Supermächte um das knapper werdende Erdöl ist gefährlich“, schreibt er an einer Stelle und thematisiert dabei unter anderem die Rolle der NATO, die sich vor diesem Hintergrund von einem Verteidigungs- zu einem Angriffsbündnis wandle. Um Ressourcenkriege zu verhindern, setzt der Historiker auf erneuerbare Energien. Seine Ausführungen zu diesem Komplex am Ende des Buches lesen sich jedoch wie die gegenwärtigen Narrative der grünen Politikagenda, die mit autoritärem Gestus aufgedrängt wird. Es wäre interessant zu erfahren, ob Ganser heute die gleichen Ansichten vertritt; ob er den erneuerbaren Energien kritischer gegenübersteht, zumal sich immer deutlicher abzeichnet, dass um sie herum ein neuer lukrativer Markt entsteht und es den Akteuren weniger um die Umwelt als um wirtschaftliche Interessen geht. Einige Widersprüche sah Ganser bereits 2012. Und knapp zwölf Jahre später sind sie aktueller denn je: „Die Verteidigungsausgaben werden hochgefahren – und fehlen bei der Energiewende.“

„Europa im Erdölrausch“ erschien zunächst beim Verlag Orell Füssli. Nachdem dort die Sachbuchsparte eingestellt worden war, übernahm der Westend Verlag die Rechte an der Monographie und hat sie neu aufgelegt. Sie ist noch immer sehr lesenswert, insbesondere vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges, in dem die Europäische Union, die NATO und die USA keine unwesentliche Rolle spielen. Ob es auch hierbei um Ressourcen wie Erdöl und Erdgas geht, darüber regt Gansers Buch zumindest zum Nachdenken an.

Daniele Ganser, „Europa im Erdölrausch“, Westend Verlag, Frankfurt, 414 Seiten, 24,95 Euro

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