Ein 74 Jahre alter Deutscher wirbt auf Fahrradtour in Russland für Frieden und Verständigung

Ein 74 Jahre alter Deutscher wirbt auf Fahrradtour in Russland für Frieden und Verständigung

Ein 74 Jahre alter Deutscher wirbt auf Fahrradtour in Russland für Frieden und Verständigung

Ulrich Heyden
Ein Artikel von Ulrich Heyden

Jetzt, wo es faktisch keine diplomatischen Beziehungen mehr zwischen Deutschland und Russland gibt, wird die Rolle der „Diplomaten von unten“ – aktive Deutsche, die nach Russland fahren, um für Frieden und Verständigung zu werben – immer wichtiger. Einer dieser „Diplomaten von unten“ ist der ehemalige Sportlehrer Alfred Mähr, der sich mit seinem Tourenfahrrad von Helsinki aus nach Russland aufmachte. Er fuhr entlang des Finnischen Meerbusens nach St. Petersburg und von dort nach Moskau, wo ihn Ulrich Heyden interviewte. Er will mit dem Fahrrad noch bis nach Tatarstan fahren, wo Russen und Tataren seit mehreren hundert Jahren friedlich zusammenleben.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Alfred Mähr, 74, aus der süddeutschen Stadt Vogt ist das erste Mal in Russland. Auf dem Programm des Radsportlers steht jetzt der „Goldene Ring“, eine Kette historischer Städte rund um Moskau, und danach eine Tour bis in das 880 Kilometer östlich von Moskau gelegene Kasan, der Hauptstadt von Tatarstan, gelegen an der Wolga.

Ich traf mich mit ihm in einem Cafe im Moskauer Stadtzentrum, wo der Russland-Reisende für ein paar Tage in einem Hotel wohnte. Ich fragte den Radsportler, warum er nach Russland gekommen ist. „Ich will den Russen zeigen, dass die Deutschen – also Leute wie ich – nichts gegen Russland haben. Die Politik ist ein anderes Thema.“

„Die Behandlung russischer Sportler ist unfair“

Mähr war Sportlehrer und hatte auch eine private Sportschule. Er fährt nicht nur Fahrrad. Er läuft auch Ski und spielte Fußball sowie Tennis, ist also ein Sportler von Kopf bis Fuß. „Was mir als Sportler am Herzen liegt, ist die Behandlung der russischen Sportler. So, wie die zurzeit behandelt werden, ist das für mich eine Katastrophe und nicht nachvollziehbar. Sie werden bei der Olympiade oder bei Wettkämpfen nicht zugelassen. Und wir sehen das nicht nur beim Sport, sondern auch in der Kulturszene. Wie die Russen behandelt werden, das ist keine Russophobie mehr, das ist Rassismus. Und gegen sowas möchte ich ankämpfen.“

Wie er argumentiert, wenn gesagt wird, Russland habe die Ukraine überfallen und töte ukrainische Zivilisten, fragte ich. Der Russland-Reisende antwortete: „Wenn man jeden, der einen Krieg angefangen hat, ausschließen würde von den Olympischen Spielen oder anderen Wettkämpfen, dann könnten Amerika und auch in Europa einige Staaten, die Kriege begonnen haben, nicht an Wettkämpfen teilnehmen. Aber nur Russland schließt man aus. Das finde ich als Sportler unfair.“

Natürlich habe Russland den Krieg in der Ukraine angefangen. „Aber man muss ja auch sehen, was seit 2014 passiert ist. Da wurde auch Krieg geführt, aber nicht von Russland. Das war ein Bürgerkrieg, angefacht von rechtsextremen Leuten, und die haben in der Ukraine nach wie vor das Sagen. Und wir in Deutschland sagen, wir müssen eine Brandmauer bauen gegen die AfD, und in der Ukraine unterstützen wir die richtigen Nazis.“

„Ein erhebender Moment“

„Ich hatte nie gedacht, dass man mit dem Fahrrad auf den Roten Platz fahren kann, und zwar ziemlich entspannt“, sagte Alfred Mähr aus der süddeutschen Stadt Vogt, als wir zu zweit auf Fahrrädern in Richtung Kreml unterwegs waren.

Am Roten Platz angekommen, frage ich den Radler, wie er sich gerade fühlt. „Das ist ein erhebender Moment. Der gleiche Moment, wie wenn man nach 4.000 Kilometern in Panama über die Brücke fährt oder letztes Jahr nach 4.000 Kilometern über die Brücke in Vancouver.“

Mähr hat in den letzten Jahren mit dem Fahrrad ausgedehnte Touren durch Alaska, Kanada und Südamerika gemacht. Nun wollte er unbedingt noch Russland besuchen. „Früher gab es ja den Eisernen Vorhang, der es nicht möglich gemacht hat, nach Russland zu kommen. Jetzt befürchte ich leider, dass es auch eine Art Eisernen Vorhang geben wird und keine Reisen mehr nach Russland möglich sein werden. Das wäre sehr schade.“

In Petersburg hat Mähr unter sachkundiger Führung einer Russin eine sechsstündige Stadtbesichtigung gemacht, die ihm ziemlich in die Beine ging. Langes Laufen ist er nicht gewohnt. Aber Fahrradfahren ist für ihn kein Problem.

Spezielle Route über die Dörfer

Von St. Petersburg ist er dann auf einer speziellen, verkehrsarmen Route durch Dörfer fast bis nach Moskau gefahren. Die Route wurde von dem Deutschen Detlef Kaden konzipiert. Man kann entlang dieser Route auch bei Gastfamilien, sogenannten Homestay, unterkommen.

Die letzten 200 Kilometer nach Moskau hat der deutsche Radler ein Angebot angenommen und sein Fahrrad in einen Minibus gepackt, der bis nach Moskau fährt. Der Grund war, dass die letzten 200 Kilometer auf der Route auch von vielen Kieslastern benutzt werden, welche Moskauer Baustellen beliefern und nicht besonders rücksichtsvoll gegenüber Fahrradfahrern sind.

Das Interesse russischer Medien an der Tour von Alfred Mähr ist enorm. Hier ein Interview, welches Mähr in Weliki Nowgorod einem örtlichen Fernsehkanal gab.

Das große Interesse russischer Medien hängt wohl damit zusammen, dass die Zahl westlicher Touristen in den letzten Jahren stark abgenommen hat. „Noch vor St. Petersburg wurde ich von Zeitungen und Fernsehsendern angesprochen. Ich weiß nicht, woher die von meiner Fahrt wussten. Vielleicht hatte Nathalie aus Ulm, welche meine Reise mitorganisiert hat, die Medien informiert.“ Neben Nathalie hilft auch noch Elena aus St. Petersburg bei der Organisation der Tour. Die Organisatorinnen assistierten auch bei der Beschaffung einer russischen Kreditkarte, denn westliche Karten werden in Russland seit letztem Jahr nicht mehr akzeptiert.

„Alfred, du bist mein Held!“

Auf die Frage, wie er auf die Idee für die Russland-Reise gekommen ist, antwortet Mähr, dass er Rad-Freunde habe, die von ihren Russland-Touren erzählten und begeistert waren. „Eigentlich wollte ich die Russland-Tour schon vor drei Jahren machen. Aber da kam Corona dazwischen. Eine Anreise über Land war damals nicht möglich. Als ich mich dann felsenfest entschlossen hatte, die Reise zu machen, kam die russische Intervention in der Ukraine dazwischen. Aber dann habe ich wieder Mut gefasst. Und mit 74 Jahren kann man so eine Reise nicht unendlich schieben.“

Als Mähr jetzt seinen Freunden erzählte, dass er nach Russland fahre, hätten alle in seiner Umgebung gesagt: „Du bist wahnsinnig, jetzt nach Russland zu fahren. Wir haben doch Panzer geliefert. Die werden dich ganz schön fertig machen. In Deutschland wird es bei manchen auch so wahrgenommen, dass wir mit Russland im Krieg sind. Wir liefern ja Waffen und bilden für den Krieg Leute aus. Einer hat sogar gesagt, pass auf, dass sie dich nicht als Geisel nehmen.“

Aber es gab auch andere Reaktionen. „Ich war ja Lehrer, und ein Lehrerkollege hat jetzt meine Internetseite gesehen und hat mir einen ganz kurzen Kommentar geschrieben: ‚Alfred, Du bist mein Held.‘ Das baut auf und schafft Kraft für die nächsten Kilometer.“

Sanktionen – welche Auswirkungen?

Ich fragte den Russland-Reisenden, wie er die Versorgungslage in Russland einschätzt. „Ich weiß nicht, wie es vor den Sanktionen war, aber ich sehe keine Einschränkungen irgendwelcher Art. Man kann alles kaufen. Die Leute verhalten sich ganz normal. Einschränkungen gibt es meines Erachtens keine. Ich habe sogar ein „Spaten“-Bier getrunken. Ich weiß natürlich nicht, ob das aus Deutschland kam oder in Russland gemacht wurde.“

Seine Frau habe Angst gehabt, als er ihr von seinen Russland-Plänen erzählte. „Sie fragte, willst du das unbedingt machen? Wir haben dann einen Kompromiss gefunden. Sie sagte: Du fährst nicht alleine. Schau, dass du jemanden dabei hast.“

Auf der Strecke bis Moskau seien die geplanten russischen Begleiter alle abgesprungen, erzählt der Russland-Reisende. Doch er rechnet damit, dass er auf seiner nächsten Tour auf dem „Goldenen Ring“, das sind kleine, historische Dörfer und Städte rund um Moskau, von Anton Sasonow, dem Vorsitzenden des Verbandes „Velo Russia“, begleitet wird. Für die Strecke von Moskau nach Kasan hat sich Ildus Janischew angekündigt. Janischew ist ein bekannter russischer Radsportler, der mit dem Zweirad schon einmal die Welt umrundet hat.

Der Stadt-und-Land-Unterschied

Alfred erzählt, dass es zwischen Stadt und Land in Russland große Unterschiede gibt. In den kleinen Dörfern sähe man vor allem die alten Holzhäuser. „Die sind großteils verlassen, einige sind restauriert.“ Es seien schon „zwei Welten“. Man müsse immer froh sein, dass man auf den Dörfern einen Laden findet, wo man Wasser kaufen kann. Ein sogenanntes „Magazin“ gäbe es eigentlich in jedem Ort. Aber einmal gab es Probleme. „Ich hatte nur noch ein paar Tropfen Wasser. Es war in der Ortschaft Zaluche. Ich fuhr durch die ganze Ortschaft. Irgendwann habe ich dann dort das „Magazin“ gefunden.“

Der Zustand der Straßen ist sehr unterschiedlich, wie der Radler aus Deutschland feststellte. „Innerhalb der Ortschaften sind die Straßen eine Katastrophe. Wenn man aus der Ortschaft rauskommt, ist der Straßenbelag gut.“ Man habe ihm erzählt, dass das damit zu tun habe, dass in den Ortschaften die Kommune und außerhalb der Ortschaften die föderale Regierung für den Straßenbau verantwortlich ist.

Eine weitere Beschwernis, auf die Mähr stieß, war, dass es in den Dörfern und Städten im Unterschied zu Moskau keine Fahrradwege gibt. Man müsse auf den Fußgängerwegen fahren. Die Fußgänger nähmen das gelassen, aber weil die Fußwege hohe Kanten haben, müsse man beim Verlassen des Fußgängerweges vom Fahrrad absteigen. „Wenn Du das in einer Stadt 20-, 30-mal machen musst, dann ist das nervig.“

Der Vater kämpfte auf Kreta

Ich fragte Mähr, ob sein Vater im Krieg in Russland gekämpft hat. „Nein. Mein Vater war von Beruf Zimmermann. Er war Fallschirmjäger und ist über Kreta abgesprungen. Dann war er in Frankreich. Dort wurde er schwer an der Brust verwundet. Damit war der Krieg für ihn beendet.“

Ob er mit seinem Vater über den Krieg gesprochen habe, wollte ich wissen. „Ja, ich habe mit ihm darüber gesprochen, aber im Nachhinein muss ich sagen, viel zu wenig. Es war damals so: Viele wollten vom Krieg nichts mehr wissen und haben das beiseitegeschoben. Ich weiß, dass mein Vater gerne mehr erzählt hätte, aber es hat ihm damals niemand zugehört.“

Ob er Angst gehabt habe, seinen Vater nach den Kriegserlebnissen zu fragen? „Ich hatte schon eine gewisse Angst, ihn zu fragen. Ich war zu dem Zeitpunkt nicht neugierig genug. Er hat auch ein Tagebuch über den Einsatz in Kreta geschrieben. Es ist in altdeutscher Schrift. Das hat mir jemand übersetzt. Das habe ich dann immer wieder gelesen, und als mein Vater tot war, habe ich eigentlich erst das Ganze begriffen, was er mitgemacht hat.“

Was war der stärkste Eindruck beim Lesen des Tagebuchs? „Ich denke, dass er gerne zum Militär ging. Er ging mit Enthusiasmus in den Krieg, wurde dann aber doch mit der Zeit eines anderen belehrt, dass das nicht ganz so einfach ist. Es ging ihm wie vielen Soldaten damals. Irgendwie hatten sie psychisch einen Knacks. Sie sind nicht damit fertig geworden, anderen Menschen den Tod zu bringen und zu sehen, wie die Kameraden links und rechts erschossen wurden. Das kann ein Mensch nicht so einfach verdauen.“

Sechs Massengräber auf einer Strecke von 60 Kilometern

Ich fragte den Reisenden, ob er während seiner Tour an seinen Vater denkt. Mähr antwortete, er denke an seinen Vater jetzt „mehr als sonst“. Das hänge auch mit den Massengräbern zusammen, deren Schilder er im Vorbeifahren zwischen St. Petersburg und Moskau gesehen habe. Das war im Raum Demjansk, wo im Zweiten Weltkrieg eine Hauptkampflinie war.

„Ein Mann hat mich dort 60 Kilometer in seinem Bus Richtung Moskau mitgenommen, weil die Strecke wegen vieler Löcher mit dem Fahrrad unbefahrbar war. Und auf diesen 60 Kilometern gab es sechs Hinweisschilder „mass war grave“ (Massengräber). Ich habe mich gefragt, was denkt Sergej, mein Fahrer, jetzt. Es sind ja auch viele russische Soldaten und Zivilisten ums Leben gekommen in der Region. Nun hat er 80 Jahre später einen Deutschen bei sich im Auto sitzen. Die Deutschen haben damals den Krieg gebracht. Und ich habe gedacht, ist es nicht toll, dass es sich nach dem Krieg so entwickelt hat, dass ein Russe, der etwas jünger war als ich, innerhalb weniger Stunden mein Freund wurde. Wir hatten ein tolles Gespräch. Er hat relativ gut Englisch gesprochen. Er hätte doch allen Grund gehabt zu sagen, mit einem Deutschen fahre ich doch nicht durch diese Gegend.“

In Kanada und Alaska vom Campingplatz verwiesen

Die Begegnung mit den einfachen Russen hat den Radler aus Deutschland beeindruckt. „Nach 14 Tagen in Russland möchte ich ein Zwischenfazit ziehen. Die Russen, die ich bisher kennengelernt habe, waren sowas von gastfreundlich und hilfsbereit, wie ich es in keinem anderen Land bisher so erlebt habe.“ In Alaska und Canada sei er mehrmals von Campingplätzen abgewiesen worden. So musste Mähr mit seinem Compagnon in der freien Wildbahn schlafen, obwohl dort wilde Tiere unterwegs waren. „Es wäre genug Platz gewesen. Aber wir durften das Zelt nicht aufstellen. Das kann ich mir hier in Russland nicht vorstellen.“

Titelbild: © Ulrich Heyden