Das Ende eines Traumes

Das Ende eines Traumes

Das Ende eines Traumes

Ein Artikel von: Redaktion

Morgen jähren sich die Ereignisse des 11. Septembers 1973 zum 50. Mal. In den Morgenstunden dieses Tages wurden der demokratisch gewählte Präsident Chiles, Salvador Allende, und seine Regierung der Unidad Popular durch das Militär gestürzt, und eine fast zwei Jahrzehnte anhaltende Repressionsorgie nahm ihren Lauf. Allende und die hinter ihm stehende Parteienkoalition hatten sich vorgenommen, einen Sozialismus zu errichten, der nach Wein und Empanadas, den mit Fleisch gefüllten Teigtaschen, die man an jeder Straßenecke in Chile kaufen kann, schmecken sollte. Dafür hatte er die überwältigende Mehrheit der Stimmen der Chilenen bekommen. Doch die Hoffnung auf eine Zukunft in Gerechtigkeit und Solidarität währte nicht lange. Mit der nachweislichen Unterstützung der US-Regierung wurde der wohl blutigste Staatsstreich in der gesamten Geschichte Lateinamerikas geplant, vorbereitet und höchst präzise ausgeführt. Der bekannte chilenische Autor Jorge Baradit hat diesen Ereignissen ein Buch gewidmet, das mit einigen neuen Erkenntnissen aufwartet. Eine Rezension von Wolfgang Vallejo.

Der erstmals 2018 auf Spanisch veröffentlichte Text von Baradit versetzt die Leserinnen und Leser zurück in die Zeit der Unidad Popular, stellt Programme und Akteure vor, um schließlich die extrem angespannte Atmosphäre im Sommer 1973 und die Ereignisse des Putsches zu schildern. Daran schließt sich ein umfänglicher Teil des Buches an, der den Alltag im Terrorregime unter Pinochet schildert und die Aktionen des Widerstands gegen die Diktatur aufleben lässt. Der Autor spannt den Bogen seiner Darstellung bis zu den Tagen des Plebiszits im Oktober 1988. Damals sah sich der Diktator veranlasst, dem Regime einen neuen Anstrich zu geben und sich einer gewissen Legitimität zu versichern. Jedoch brachte eine deutliche Mehrheit diese Pläne zu Fall und lehnte eine Verlängerung der „Amtszeit“ ab. 

Das Buch wurde ursprünglich für ein chilenisches Publikum geschrieben, welches die dunkle Nacht der Diktatur nicht selbst erlebte oder noch zu jung war, um bewusst wahrzunehmen, was dem Land und seinen Menschen geschah. Als Quereinsteiger in die Geschichtswissenschaft und politischer Aktivist verfolgt Baradit daher den Anspruch, nachvollziehbar zu erzählen, wie es in den letzten Monaten der Unidad Popular war und wie es beinahe unvermeidlich zum Putsch kam. In dieser Erzählung verliert sich Baradit nicht in akademischen Debatten oder ideologischen Auseinandersetzungen.

Angenehm fallen dabei zwei Dinge auf:

  1. Der Autor ist in der Lage, die kenntnisreiche Schilderung der politischen Situation in Chile mit dem Schicksal von konkreten Personen, auch aus der eigenen Familie, zu verbinden und konkrete Akteure zu benennen, ihr Handeln aus dem Dunkel der Vergangenheit zu holen. Im Ergebnis wird für die Leserin und den Leser jenes schwerwiegende Trauma in Umrissen erkennbar, das die Diktatur und der Terror im Leben vieler Menschen dieses Andenland auslösten.
  2. Dieses Vorgehen ermöglicht es, dass auch Leserinnen und Leser, die mit der Geschichte der Andenländer wenig vertraut sind, zwischen all den Namen, Daten und Ereignissen nicht verloren gehen, sondern den Überblick behalten und in die Lage versetzt werden, eine eigene Bewertung vorzunehmen. 

Das Buch von Baradit ist eine „Ausgliederung“ aus einem viel umfangreicheren Vorhaben, das den Autor seit Jahren beschäftigt und für das er viel Lob und Anerkennung durch ein breites Publikum erfahren hat: La Historia Secreta de Chile. Den Titel dieses Vorhabens könnte man mit „Die geheime Geschichte Chiles“ übersetzen. Dabei würde diese Übersetzung jedoch nicht den Intentionen des Autors gerecht werden. Für Baradit geht es vielmehr um die Neuerzählung der Geschichte seines Heimatlandes, die jenseits der akademischen und politischen Dogmen auch Licht in die bisherigen „blinden Flecke“ der Geschichtsschreibung bringt. Ganz in diesem Sinn bringt das vorgelegte Buch viel Licht in einen dunklen Abschnitt der chilenischen Geschichte und kann selbst Fachleute mit einigen Details überraschen. 

Die Übersetzung des Originaltextes hat die Herausforderungen gemeistert und kann durchaus als gelungen bezeichnet werden. Diesem sehr positiven Gesamturteil zur Übersetzung können auch die vereinzelt angetroffenen Ungenauigkeiten nichts anhaben. Gleiches gilt für einige orthografische Fehler, die das Lektorat „überstanden“ haben.

Alles in allem ein gelungenes, empfehlenswertes Buch, das allen, die sich für die Geschichte der demokratischen Massenbewegungen in Lateinamerika interessieren, zu neuen Erkenntnissen verhilft.

In Zeiten von „wertebasierter Außenpolitik“ kann der Text von Baradit daran erinnern, wie die geopolitischen Interessen des Imperiums sich über universale Werte und Rechte hinwegsetzen, wenn es darum geht, Einfluss „im Hinterhof“ zu sichern und zu erhalten. Nicht zuletzt möchte der Rezensent darauf aufmerksam machen, dass der 11. September 1973 auch in Deutschland Spuren hinterlassen hat. Die Solidaritätsbewegungen mit dem geschundenen Andenland und die Aufnahme Tausender chilenischer Geflüchteter in Ost- wie Westdeutschland sind ein Kapitel deutsch-deutscher Geschichte, das noch auf seine Aufarbeitung wartet.

Anmerkung der Redaktion: Das Buch, in Chile ein Bestseller, fand in Deutschland keinen Verleger, sodass sich der Lateinamerikanist Helmut Sonnenstädt dazu entschloss, es in Eigenregie und mit Hilfe ehemaliger Kommilitonen des renommierten und bereits 1963 gegründeten Rostocker Lateinamerika-Instituts (später Sektion Lateinamerikawissenschaften) zu übersetzen und herauszugeben.

Das Buch ist sowohl als E-Book und als Druckausgabe unter diesem Link bestellbar.

Titelbild: Cover entnommen von buecher.de/shop/wirtschaftswissenschaften/das-ende-eines-traumes-ebook-epub/baradit-jorge/products_products/detail/prod_id/68616142/#product_rating

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