1000 und ein Tunnel. Märchenhaft sind bei Stuttgart 21 nur die Intrigen.

1000 und ein Tunnel. Märchenhaft sind bei Stuttgart 21 nur die Intrigen.

1000 und ein Tunnel. Märchenhaft sind bei Stuttgart 21 nur die Intrigen.

Ein Artikel von Ralf Wurzbacher

Alle mal gähnen! Das Bahnprojekt Stuttgart 21 wird mindestens zwei Milliarden Euro teurer als nach der letzten Fehleinschätzung. Alle mal lauschen! Die Macher hatten sich nie verrechnet, sie wussten schon vor mindestens zehn Jahren vom sicheren finanziellen Supergau, bis auf die Stelle hinterm Komma. Der Öffentlichkeit tischten sie andere Zahlen auf, damit weiter gebuddelt werden konnte – gegen jede Vernunft und mit maximaler Verachtung der Bürger. Von Ralf Wurzbacher.

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Kostenexplosionen bei Stuttgart 21 (S21) haben irgendwie nichts mehr von Knalleffekt. Sie kommen so sicher wie Silvester und bescheren doch nur noch Langeweile. Die erste Schätzung lag bei 2,5 Milliarden Euro, laut Finanzierungsvertrag von 2009 waren es dann schon 4,5 Milliarden Euro, 2016 wurden daraus 6,5 Milliarden Euro, später 8,2 Milliarden Euro, Anfang 2022 dann 9,2 Milliarden Euro. Bis zur Zehn-Milliarden-Hürde war es da nicht mehr weit, und die Frage lautete nicht, ob, sondern wann sie endlich fällt. Seit ein paar Tagen steht eine neue Hausnummer im Raum: Deutschlands irrwitzigstes Bahnprojekt soll noch einmal 1,7 Milliarden Euro teurer werden und bis zur Fertigstellung rund elf Milliarden Euro verschlingen. Mindestens: Denn die Planer planen mit einem „Puffer“ von weiteren 500 Millionen Euro – für den Fall unvorhersehbarer Umstände, wie sie bei S21 die Regel sind. Womit man bei 11,5 Milliarden Euro wäre. Prost Neujahr!

Offiziell bestätigt sind die Zahlen noch nicht. Sie sollen aus Kreisen des Aufsichtsrats der Deutschen Bahn (DB) stammen, wie am vergangenen Donnerstag die Deutsche Presse-Agentur (dpa) berichtete. Zuvor wurden sie bereits bei der jüngsten Sitzung des S21-Lenkungskreises gehandelt. Irgendeine Ausrede findet sich immer: Schuld an der Entwicklung sollen diesmal die erhöhten Baukosten sein. Verglichen mit dem davor bemühten Kostenrahmen beläuft sich der Zuschlag auf satte 25 Prozent in nur zwei Jahren – so viel Inflation gab es sonst nur im Supermarkt. Für Carl Waßmuth, Sprecher beim Bündnis „Bahn für alle“, sind die ständigen Ausgabensteigerungen Ausdruck von „Erpressung“. Die beteiligten Baufirmen hätten Stuttgarts Herz aufgerissen, „und sie nähen es erst wieder zu, wenn ihnen alle Mondpreise bezahlt wurden“, bemerkte er gegenüber den NachDenkSeiten.

Zeitpuffer bis 2099

Das kann lange dauern, denn der stärkste Preistreiber ist der Faktor Zeit, insbesondere in Hochzinsphasen, die Kreditgebern eine goldige Zukunft garantieren. Ursprünglich wollten die Macher das Vorhaben bis 2019 realisieren und nicht erst bis zum bloß scheinbar namensgebenden Jahr 2021. Tatsächlich steht S21 für das 21. Jahrhundert, womit immerhin noch allerhand Spielraum bleibt. Wie es heißt, wolle man trotzdem an dem vor zwei Jahren kolportierten Eröffnungstermin bis Dezember 2025 festhalten, wohl wissend, dass auch daraus nichts wird.

„Realistischer“ sei das Jahr „2026 oder 2027“, schrieb am Freitag der Südwestdeutsche Rundfunk (SWR) unter Berufung auf Insider. Recherchen hätten „Fehlplanungen der Bahn“ offenbart, „Verzögerungen beim Innenausbau der Bahnhofshalle und Probleme mit einem Partnerunternehmen, das bei der Digitalisierung des Bahnknotens Schwierigkeiten hat“. Vor wenigen Wochen erst wurden die dafür maßgeblichen Unternehmensteile aus der Thales Group an die japanische Hitachi Rail veräußert, wodurch es nun „Personalengpässe, unklare Strukturen sowie Lieferengpässe bei Materialien“ gebe.

Dabei soll gerade die Digitalisierung des Bahnknotens die vielen materiellen Mängel des Systems irgendwie kompensieren. Das Hauptdilemma besteht bekanntlich darin, dass der künftige Tiefbahnhof deutlich geringere Kapazitäten hat als der bisherige Kopfbahnhof. Schließlich soll dieser nicht weichen, um den Bahnbetrieb zu optimieren, sondern um Platz zu schaffen für die Bebauung profitabler Grundstücke. Also wird dessen Performance komprimiert beziehungsweise virtualisiert oder eben digitalisiert, was für gewöhnlich bedeutet: Es wird alles schlechter.

Kein Regionalzug am Hauptbahnhof

S21 setzt in dieser Hinsicht neue Maßstäbe. Dieter Reicherter, Sprecher beim „Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21“, listete am Montag im Gespräch mit den NachDenkSeiten nur ein paar der Schwachstellen auf: Regionalzüge würden den Tiefbahnhof in Zukunft „gar nicht anfahren, sondern am Stadtzentrum vorbei über drei Extrabahnhöfe geleitet“. Brandschutz und Evakuierung seien „ungelöst“, Gleisneigung und zahlreiche Doppelbelegungen der Bahnsteige beeinträchtigten die Leistungsfähigkeit. „Beim Ausfall einer Tunnelröhre bricht das System zusammen und Stuttgart ist vom Bahnverkehr weitgehend abgeschnitten“, setzte Reicherter nach. „Und auf alles wird noch das elektronische Zugleitsystem ETCS aufgepfropft. Originalton der Bahn: ‚Dafür gibt es keine Blaupause.‘“

Tatsächlich sorgte das European Train Control System in der Vergangenheit immer wieder für Zugausfälle. Dabei soll es eigentlich einen zuverlässigeren, schnelleren und dichteren Zugverkehr gewährleisten und die Fahrgastkapazitäten erhöhen. Also setzt man auf das Prinzip Hoffnung. „Der digitale Knoten Stuttgart ist der herausforderndste Punkt“, unkte unlängst DB-Infrastrukturvorstand Berthold Huber. Es müssten aktuell alle Reserven ausgeschöpft werden, damit die Testphasen wie geplant durchgeführt werden könnten. Dass es eng werden könnte mit einer S21-Eröffnung in den nächsten zwei Jahren, schwant auch Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann von den Grünen, einst passionierter „S 21“-Gegner. Dem SWR beschied er: „Von einem Holperstart haben wir alle nichts.“

Warten auf den Rumpfbetrieb

Dabei wird schon bald 14 Jahre lang geholpert. Seit dem ersten Spatenstich verunmöglicht das Mammutprojekt einen geregelten Bahnverkehr in Deutschland, torpediert die viel beschworene Mobilitätswende und produziert Klimagase ohne Ende. Nachdem die Botschaft vom nächsten Offenbarungseid des Aufsichtsrats die Runde gemacht hatte, meldete sich die Stuttgarter Gemeinderatsfraktion aus Die Linke, SÖS, Piraten- und Tierschutzpartei per Pressemitteilung zu Wort: „Mit den S21-Ausgaben hätte man ganz Stuttgart klimaneutral machen können.“ Dass S21 „kein Beitrag zur Verkehrswende, sondern schon heute eine Qual für alle Bahnreisenden ist, ist längst klar“, äußerte sich Luigi Pantisano von der Linkspartei. Aber die „echten Probleme“ würden erst richtig mit der Inbetriebnahme beginnen.

„Mit dem geplanten Rumpfbetrieb wird das Desaster von diesem Tag an richtig spürbar.“

Kopfweh bereitet den Stadtpolitikern auch die Finanzierungsfrage. Wer die Mehrbelastungen wird tragen müssen, steht nämlich in den Sternen. Die Kostenverteilung – zwischen dem Land Baden-Württemberg, der DB, dem Flughafen Stuttgart, der Stadt und dem Verband Region Stuttgart – ist nur für den bei Baubeginn veranschlagten Kostenrahmen von 4,5 Milliarden Euro geregelt. Bei allem, was darüber hinausgeht, nehmen laut Kontrakt die „EIU“, also die Bahn-Unternehmen, „und das Land Gespräche auf“. Die Landesregierung beharrt allerdings darauf, nur die vereinbarten 930 Millionen Euro beizusteuern, und weigert sich eisern, auch nur einen Euro mehr zu bezahlen. Die DB als Projektträgerin und Bauherrin habe die Risiken allein zu schultern.

Stadt droht Bankrott

Der Staatskonzern sieht das nicht ein und hat Klage beim Stuttgarter Verwaltungsgericht eingereicht, die seit Mai 2023 verhandelt wird. Im August hatte sie vor Gericht präzisiert, dass sämtliche Projektpartner an möglichen Gesamtkosten von „bis zu 11,8 Milliarden Euro“ (sic) zu beteiligen wären. Das träfe freilich auch die Landeshauptstadt. Hannes Rockenbauch von der Partei Stuttgart Ökologisch Sozial sieht schwarz: „Wenn die Bahn AG damit durchkommt, ist die Stadt zahlungsunfähig.“ Aber Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU) schaue „bei all dem nur belustigt und ahnungslos zu“.

So oder so steht fest: Begleichen wird die Zeche die Allgemeinheit, also der Steuerzahler. Denn selbst wenn nur die Bahn drauflegen muss, gehört die immer noch dem Staat. Und mit den nun aufgerufenen knapp zwölf Milliarden Euro ist die Sache längst nicht erledigt. Wie die NachDenkSeiten vor knapp drei Jahren unter dem Titel „Doppelter Rohrkrepierer“ berichtet hatten, wird S21 obendrein um sogenannte Ergänzungsprojekte erweitert, die den drohenden Totalschaden durch den Kapazitätsabbau abwenden sollen.

Laut Reicherter handelt es sich dabei „in Wahrheit um eine Verschlimmbesserung mit weiteren fast 50 Kilometern an Tunnelröhren, darunter der längste Eisenbahntunnel Deutschlands zwischen Böblingen und Flughafen Stuttgart“. Der Irrsinn der neuen Ideen zeige sich etwa darin, „dass man eine bereits fertige Tunnelröhre wieder aufreißen will, um den Anschluss für weitere zusätzliche Tunnel herzustellen“. Der DB-Kritiker rechnet mit Arbeiten, die bis in die 2040er-Jahre andauern würden, massive Klimafolgen hätten und nach vorsichtigen Schätzungen weitere fünf Milliarden kosten sollen.

„Ohne allzu pessimistisch sein zu wollen, darf man jedoch getrost von weiteren zehn Milliarden Euro ausgehen.“

Vorsätzlich gelogen

Aber der Skandal ist noch viel größer als gedacht. Nach einem neueren Bericht der Stuttgarter Zeitung waren die wiederholten Kostenexplosionen im zurückliegenden Jahrzehnt nur vorgetäuschte Knaller. Demnach wussten die Verantwortlichen mindestens seit 2013, welche finanziellen Dimensionen das Projekt annehmen und dass sich der Starttermin um etliche Jahre verschieben wird. Kalkulationen hätten schon damals Kosten „zwischen 10,7 und 11,3 Milliarden Euro“ ergeben und damit das Vierfache dessen, was der Öffentlichkeit weisgemacht wurde. „Doch die brisanten Hochrechnungen von Experten blieben unter Verschluss“, schrieb das Blatt, „und der Staatskonzern sowie die damalige Bundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Verkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) verhinderten den Abbruch des damals schon völlig aus dem Ruder gelaufenen Tunnelprojekts am Neckar.“

Der Autor des Artikels beruft sich unter anderem auf den Bundestagsabgeordneten Anton Hofreiter, dessen Grünen-Partei das Projekt nach dem 2011er-Volksentscheid pro S21 auf Landesebene und heute als Teil der Bundesregierung „mit Bauchschmerzen“ mitverantwortet. Zu Hofreiters Verteidigung: Er selbst hatte seinerzeit auf die Mauscheleien öffentlich aufmerksam gemacht, was aber ohne Folgen blieb. „Wären die wahren Kosten und Zeitpläne ehrlich zugegeben worden, hätte man S21 nie begonnen oder wenigstens später abgebrochen“, sagt er heute.

Ausstieg jetzt!

Erwogen wurde ein Abbruch sogar im Bundesverkehrsministerium. „Die Argumente, eine weitere Finanzierung nicht abzulehnen, sind zu schwach“, hieß es in einem internen Dossier, das der Stuttgarter Zeitung zugespielt wurde. „Der Aufsichtsrat der DB AG unter Leitung von Utz-Hellmuth Felcht beschloss nach Druck aus dem Kanzleramt dennoch den Weiterbau – mit den intern vorhergesagten und nun durch die Realität bestätigten Folgen.“ Und man verkaufte die Menschen im Land mit einer „politischen Zahl“ für dumm, „um das Projekt am Leben zu erhalten“. Noch einmal Hofreiter: „Stuttgart 21 steht für ein beispielloses Betrügen der Öffentlichkeit und ein katastrophales Versagen.“

Zu fragen ist, warum er diese Bombe jetzt noch einmal platzen lässt. Zu hoffen ist, dass er damit jene Kräfte stärken will, die nach wie vor auf einen Abschied von Stuttgart 21 pochen. „Noch immer sind die Ausstiegskosten wesentlich günstiger als die Fortführung, erst recht auf lange Sicht“, bekräftigte Waßmuth von „Bahn für alle“. Dabei verwies er auf Überlegungen durch Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP), die dringende Erneuerung einsturzgefährdeter Brücken vorerst abzublasen, um so Haushaltslöcher zu stopfen. „Lindner soll mal in Stuttgart in den Krater am Hauptbahnhof schauen. Wenn er S21 stoppt, kann er einige Milliarden Euro sparen“, so Waßmuth. „Und für den Bahnverkehr wäre es auch ein Glück.“

Titelbild: 2630ben/shutterstock.com

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