Argentinien hat jetzt den Präsidenten, den das Volk nicht verdient

Argentinien hat jetzt den Präsidenten, den das Volk nicht verdient

Argentinien hat jetzt den Präsidenten, den das Volk nicht verdient

Ein Artikel von Frank Blenz

„Kettensägen-Methode“ und andere Rosskuren haben in vielen Ländern Hochkonjunktur. Hierzulande werden in diesen Tagen, Wochen, Monaten einer fleißig am Laufen gehaltenen Krise gern Worte wie „Gürtel enger schnallen“ oder „die guten Zeiten sind vorbei“, ebenso „die fetten Jahre“ (für wen waren diese eigentlich fett?), verwendet. Anderswo fallen bildlich gemeinte Ansagen und Kampagnen sogar noch drastischer aus, so in Argentinien, wo der im November gewählte Präsident Javier Milei seine Amtsgeschäfte aufgenommen hat. So wie in Deutschland zielt auch in Argentinien das markige Verhalten der politischen Klasse einzig darauf ab, soziale Standards für die Mehrheit der Menschen zugunsten einer gierigen, nimmersatten, machtgeilen Minderheit zurückzudrängen. Bitter hört sich dazu noch die Begleitmusik prägender öffentlich-rechtlicher Medien (Beispiel Deutschlandfunk) an, die sich nicht gegen den neoliberalen Wahnsinn stellen. Ein Zwischenruf von Frank Blenz.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Anarcho-Kapitalist wird gefeiert

Die Moderatorin der Sendung „Wirtschaft und Gesellschaft“ des Deutschlandfunks (DLF, Montag, 20. November 2023) kann keine Leserin der NachDenkSeiten sein. Sollte sie aber, denn zum Thema Argentinien veröffentlicht die kritische Webseite in jüngerer Zeit oft und intensive Artikel. Die Radio-Frau wäre bei der Lektüre darauf gekommen, dass die gegenwärtige Entwicklung in dem südamerikanischen Land alles andere als ein Schwärmen zulässt. Sie hätte diese Erkenntnis vielleicht für ihren Beitrag nutzen können. Doch schwärmte sie stattdessen beinah vom womöglich folgenschweren Wahlsieg eines Mannes, bewundernd in der DLF-Ankündigung als „Anarcho-Kapitalist“ tituliert, weil dieser bislang unbekannte Politiker aufgrund seiner sehr prägnanten wirtschaftspolitischen Ideen gewonnen habe. In das gleiche Horn des Lobes blies ihr Interviewpartner. Von den Gefahren für die Zivilgesellschaft durch einen Neofaschismus des neuen Präsidenten Javier Milei mit seinen Vorhaben eines fortgesetzt entfesselten neoliberalen Umbaus des ohnehin ausgepressten Landes war kein Wort zu vernehmen.

Videoclip zum Schaudern

Vor dem Hören der DLF-Sendung zum Thema „Argentinien nach der Wahl“ wagte ich einen Blick in die Welt der bewegten Bilder. Diese Filmchen in den sozialen Medien sind mitunter überaus bizarr, so einer über Javier Milei während der Wahlkampfphase: er, ein Mann mit einer Frisur wie aus einem Krimi aus den 1970ern, steht in einem Studio vor einer Tafel und reißt laut redend und gestikulierend nach und nach beschriebene Klebezettel von dieser. „Kulturministerium“ steht auf einem der Zettel. Der Mann namens Javier Milei, 53 Jahre, sagt voller Tatendrang und Wut: Das kann weg. Kann weg. Kann weg.

Was mich neben dem Clip irritierte und in einen Modus des Einspruchs versetzte, war die teils unverblümte, naive Begeisterung junger Leute, die sich derartige Videoclips ansehen und diese zigfach „liken“. Man muss annehmen, kettensägende, Kürzungsorgien auslösende Politiker werden dafür geliebt. Was für eine Welt. Solche Clips bräuchte man an und für sich nicht ernst nehmen, doch der belächelte, bejubelte, bisher nicht ernst genommene und gefeierte Click-Sammler Milei meinte sein „Kann weg“ bitterernst. Seine kalkulierte, auf Stimmenfang basierende Maskerade gehörte dazu. Optik, Auftreten, Geschrei – das ganze Theater sah das Publikum (die Wähler) wie bei anderen berühmt-berüchtigt gewordenen Angehörigen der politischen Eliten, die tatsächlich die Spitzenpositionen ihrer Länder erklommen und dann wenig bis nichts Gutes für die Menschen im Schilde führten und führen. Was ist dann aber von einer „Wahl“ zu halten, die so inszeniert wird und den Menschen eines Landes, hier Argentinien, letztlich wenig bis gar keine Wahl und/oder Alternativen bietet? Nichts. Tatsächlich stand das Wahlvolk Argentiniens lediglich vor der Wahl, den festgefahrenen Status Quo der Stagnation und Resignation und Ohnmacht der alten Regierung und ihrer Gefolgschaften weiter zu legitimieren oder sich das nun drohende Chaos anzutun, als schaue man dann halt vollends in den Abgrund. Wen kümmert das bei der ganzen Show, wenn der „Klamauk“ verfängt? Ja, Milei erfährt auch bei uns in Deutschland die Weihe, „seriös“, „ideenreich“ und „prägnant“ betitelt zu werden.

DLF: „Sehr prägnante wirtschaftspolitische Ideen“

Beim Deutschlandfunk erlebte ich zwar keine bewundernde Schreierei ob eines Videoclips, dafür hört sich in der Sendung Wirtschaft und Gesellschaft der Beitrag aus Argentinien an, als wäre nichts weiter passiert. Moderatorin Birgid Becker leitete ihren Beitrag mit den Worten ein, dass der oben beschriebene Javier Milei mit und wohl dank seiner sehr prägnanten wirtschaftspolitischen Ideen gewonnen habe. Nüchtern und sachlich klingend sprang Gesprächspartner Günther Maihold von der Freien Universität Berlin bei, indem er Mileis heterogenes Programm und dessen Ablehnung der bisherigen Politik, die der Peronisten, zur Sprache brachte. Fachmann Maihold bezeichnete deren Politik-Kombination als „Dickicht“: Transferleistungen, Subventionen und der dritte Faktor, die Korruption. Mir kam die Aufzählung wie eine fragwürdige Konstruktion „Dickicht“ vor, und dass mit diesem Unwort vielmehr soziale Bemühungen, staatliche Souveränität, das Bemühen für ein gedeihliches Gemeinwohl, welches ja von Korruption, Gier, Beziehungen gefährdet ist, diskreditiert wurde. Sozialausgaben und soziale Standards sind kein Dickicht.

Zumindest warnte der Fachmann der FU Berlin vor einer „Dollarisierung“ des Landes, die Argentinien komplett von den Entscheidungen in Washington abhängig machen würde. Milei plant die Einführung des US-Dollar. Dass derlei Abhängigkeit, dass derlei Einmischung, Beeinflussung, Anmaßung aus eben dem mächtigen Washington, USA, mit und ohne Dollar lange schon Alltag und Teil und Ursache der schwerwiegenden Krise(n) von Argentinien ist, darüber verlor der Fachmann keine Silbe. Er führte nicht aus, wie Argentinien in die Fänge internationaler Finanzinteressen geriet, in Abhängigkeiten wie der gegenüber der Weltbank oder der vom IWF (Internationaler Währungsfonds) gefangen ist und bleibt.

Milei holt die Kettensäge heraus – Konzept für ein geschundenes Land?

Mit der Kettensäge – das ist allenfalls ein kräftigerer Ausdruck als eiserner Besen, Tacheles, klare Kante, ein Ausdruck, der sich gut für TV-Sendungen und Wahlkampfauftritte eignet – Kettensägen-Präsentation in echt inklusive.

Miley und dessen interessierte Gefolgschaft und ihr Plan werden gerade entlarvt: ultrarechter Neoliberalismus … von wegen Wiederaufbau des Landes. Was in eine neue Phase tritt, ist die fortgesetzte Selbstbedienung bei den Ressourcen des stolzen Landes Argentinien und das Niederhalten des Volkes. Fast klingt es wie ein Freud‘scher Versprecher, wenn beim geplanten neuen Milei-Ministerium von „menschlichem Kapital“ die Rede ist.

Die DLF-Moderatorin wendete für mich fade ein, dass Argentinien vor 40 Jahren doch noch zu den reichsten Ländern der Welt zählte. Sie fragte nicht: Warum nur musste dann in diesem Zeitraum ein Militärputsch stattfinden? Um das Land noch reicher zu machen? Warum packte der große amerikanische Nachbar, die USA, damals und bis heute so gierig und machtbewusst zu, wie es in vielen anderen lateinamerikanischen Ländern ebenfalls US-Entwicklungsprogramm war und ist?

Die Kettensägen-Methode, was bedeutet das? Beim DLF blieb das in der Sendung Wirtschaft und Gesellschaft für mich unerläutert. Gut. Ich informierte mich anderswo beim ÖRR. Bei den Kollegen der ARD, bei der Tagesschau, war ein Eindruck davon zu erfahren, welche Einschnitte Javier Milei bei staatlichen Institutionen in Höhe von 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts vorsehen würde. Man stelle sich das vor: Rund ein Dutzend Ministerien sollen aufgelöst werden, bestehen bleiben würden die Ressorts für Verteidigung, Justiz, Wirtschaft, Außenbeziehungen, Infrastruktur und Inneres. Ein neues Ministerium für – wie schon erwähnt – „menschliches Kapital” (allein der Name sagt viel über die Gesinnung Mileis) soll die Ressorts Arbeit, Bildung, Gesundheit und Soziales vereinigen.

Der Kahlschlag hat begonnen. Der Kultur, dem Film und der Wissenschaft geht es ebenso mittels Kettensäge an die Substanz wie den staatlichen Fernsehsendern. Der neue Staatschef will diese TV-Sender schließen. Auch sonst scheint das „prägnante wirtschaftspolitische Programm“ Mileis auf „freie Fahrt“ für Einsparungen und Privatisierungen in Größenordnungen ausgerichtet. Gewinne privatisieren, Verluste sozialisieren auf die argentinische Art. Der Steuer- und Finanzausgleich zwischen den Regionen des Landes steht auf der Kippe, im Milei-Videoclip wurde das effektvoll angekündigt: „kann weg“. Bei einer jährlichen Inflationsrate von 142,7 Prozent und 40 Prozent Armut steht Argentinien mit dem Rücken nach wie vor an der Wand, doch ist das Zurückfahren sozialer Rechte und die Aufgabe demokratischer Standards der richtige Weg zum Wiederaufbau? Nein. Dieser Rechtsaußen-Weg ist es nicht.

Eine argentinische Bürgerin: Kein Aufbau mit einem solchen Präsidenten möglich

Bei der Tagesschau waren Zitate zu lesen, die die Krise in Argentinien in Wahlzeiten und die Ängste der Menschen offenbaren, wie sie empfinden und schwer davon betroffen sind:

…Heute wählen wir Demokratie oder Neofaschismus, mit dem Paradoxon, dass diese Kandidaten die Demokratie und ihre Wahlinstrumente benutzen, um sie und den Rechtsstaat anzugreifen, und das ist etwas, was mich sehr beunruhigt…”, führt Ana Careaga aus.

Dass genau 40 Jahre nach Rückkehr zur Demokratie nun aber ausgerechnet in Argentinien die neue Rechte einen Sieg eingefahren hat, sorgt bei vielen auch für extrem große Sorge.

Ich mache mir große Sorgen, dass diejenigen, die wenig haben, bald noch weniger haben werden. Dass dieses Land ein sozial unfaires Land wird und dass uns eine sehr, sehr hässliche Zeit bevorsteht“, erklärte ein junger Mann unter Tränen vor der Wahlzentrale Massas.

„Ich habe Angst, nichts weiter als Angst“, sagte auch die Massa-Wählerin Belen Martinez. Sorgen mache ihr vor allem Mileis künftige Vizepräsidentin Victoria Villarruel. Die Tochter hochrangiger Militärs bedient die konservative Klientel, pflegt Kontakte zu rechten Gruppierungen auf der ganzen Welt und verharmloste immer wieder den Staatsterror während der Militärdiktatur (1976 bis 1983) mit schätzungsweise 30.000 Verschwundenen. „Mit einem Präsidenten, der die Militärdiktatur verharmlost, der sexistisch und frauenfeindlich ist und den Klimawandel leugnet – so kann man doch kein Land für niemanden aufbauen!“

(Quelle: Tagesschau)

Hoffnung auf ein Scheitern der Kettensägen-Strategie?

Bei allem Aktionismus, allem Drohen: Milei, der neue, gewählte Präsident Argentiniens kann nicht im Alleingang agieren, schalten und walten, die Kettensäge herausholen, wie es ihm beliebt. Letzteres kann er allenfalls in TV-Shows. Hoffnung macht vielen Menschen in Argentinien, dass Milei stabile Mehrheiten für sein geplantes ungebremstes Handeln fehlen. Im Parlament kann er auf 15 Prozent der Abgeordneten bauen, was nun mal keine Mehrheit bedeutet. Und auch Günther Maihold, der DLF-Interviewpartner von der FU-Berlin, wagte eine Prognose: Die Konfrontationsstrategie von Milei sei zum Scheitern verurteilt.

(Quelle: Pressenza)

Titelbild: Facundo Florit/shutterstock.com

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