„Arzach wurde geopfert“ – Armenien nach dem Sturm (II)

„Arzach wurde geopfert“ – Armenien nach dem Sturm (II)

„Arzach wurde geopfert“ – Armenien nach dem Sturm (II)

Leo Ensel
Ein Artikel von Leo Ensel

Nahezu alle Armenier flüchteten im September letzten Jahres vor den vorrückenden aserbaidschanischen Soldaten aus der Region Berg-Karabach in die benachbarte Republik Armenien. Unser Autor führte Interviews in Jerewan. In einer dreiteiligen Serie ordnen armenische Politologen die Ereignisse vom letzten Herbst und die aktuelle Situation in Armenien genauer ein. Von Leo Ensel mit freundlicher Genehmigung von Globalbridge.

Lesen Sie auch den ersten Teil: „Alle externen Akteure haben versagt!“ – Armenien nach dem Sturm“

Am 7. Oktober 2022 veröffentlichte der Europäische Rat folgende Erklärung:

„Erklärung im Anschluss an ein vierseitiges Treffen zwischen Präsident Alijew, Premierminister Paschinjan, Präsident Macron und Präsident Michel, 6. Oktober 2022

Der Präsident Aserbaidschans und der Premierminister Armeniens trafen sich am 6. Oktober 2022 in Prag am Rande der ersten Europäischen Politischen Gemeinschaft auf Einladung des Präsidenten der Französischen Republik und des Präsidenten des Europäischen Rates.

Armenien und Aserbaidschan bekräftigten ihr Bekenntnis zur Charta der Vereinten Nationen und zur Alma-Ata-Erklärung von 1991, mit der beide die territoriale Integrität und Souveränität des jeweils anderen anerkennen. Sie bestätigten, dass dies eine Grundlage für die Arbeit der Grenzziehungskommissionen sein werde und dass die nächste Sitzung der Grenzkommissionen Ende Oktober in Brüssel stattfinden werde.

Es gab eine Vereinbarung mit Armenien, eine zivile EU-Mission entlang der Grenze zu Aserbaidschan zu ermöglichen. Aserbaidschan erklärte sich bereit, insoweit mit dieser Mission zusammenzuarbeiten. Die Mission wird im Oktober beginnen und maximal zwei Monate dauern. Ziel dieser Mission ist es, Vertrauen aufzubauen und durch ihre Berichte einen Beitrag zu den Grenzkommissionen zu leisten.

Diese knappe Erklärung, die damals zumindest in der westlichen Öffentlichkeit kaum Beachtung fand, kann man nur so lesen, als dass hier der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinyan tatsächlich die Region Berg-Karabach (armenisch: Arzach) – wenn auch etwas verklausuliert – als Teil Aserbaidschans anerkannt hat! Versuchen wir kurz, sie zu kontextualisieren. 

Die Prager Erklärung im Kontext

Das Prager Treffen von Paschinyan und Alijew war nicht das erste unter der Ägide Charles Michels gewesen. Bereits am 15. Dezember 2021, am 6. April 2022, am 22. Mai 2022 und noch einen Monat zuvor, am 31. August 2022, waren die drei in Brüssel zusammengekommen, zuletzt, wie es hieß, um „die Arbeit an einem Friedensvertrag zu intensivieren“. 

An diesen Treffen hatte es immer wieder auch innerarmenische Kritik gegeben. So schrieb die ehemalige Parlamentsabgeordnete Naira Karapetjan über das Treffen im Mai: „In der Abschlusserklärung steht überhaupt nicht die Frage nach dem Status von (Berg)-Karabach. Es gibt keine Erwähnung über das Recht auf Selbstbestimmung. Anstatt dessen ist von ‚Rechten und der Sicherheit der Armenier in Karabach‘ die Rede. Und dies hat nicht der armenische Führer unterstrichen, sondern der Vorsitzende des Europäischen Rates Charles Michel.“ Und der armenische Politologe Waruschan Gegamjan ergänzte: „Mit Aserbaidschan wird ein ‚Friedensvertrag‘ vorbereitet, dessen Hauptbestimmung die Anerkennung dessen territorialer Integrität inklusive Karabachs ist.“ Unter diesen Bedingungen erwarte Karabach eine vollständige „De-Armenisierung“. Nichts Gutes würden ebenfalls die anvisierte Demarkation der Grenzen und die Deblockierung der Transportarterien verheißen. Dieser Prozess werde zu einer Übergabe aller Enklaven-Territorien an Aserbaidschan und zur Schaffung von Transportkorridoren durch Armenien führen, während wenig klar sei, was Armenien selbst im Gegenzug erhalten werde.

Keine zwei Wochen nach dem vierten Treffen griff Baku am 13. September 2022, den fragilen Waffenstillstand vom 9. Dezember 2020 brechend, mit schwerer Artillerie, großkalibrigen Waffen, Raketensystemen und Drohnen erstmals armenisches Hoheitsgebiet direkt an. 36 Siedlungen in Grenznähe wurden beschossen, unter anderem der bekannte Kurort Dschermuk. Aserbaidschanische Streitkräfte drangen zudem bis zu acht Kilometer tief in das Landesinnere Armeniens vor, wo sie sich verschanzten und die Gebiete bis zum heutigen Tage widerrechtlich besetzt halten. Dabei gab es mehr als 200 Tote. Die russischen Friedenstruppen, die die Einhaltung des zwischen Aserbaidschan und Armenien abgeschlossenen Waffenstillstandsabkommens garantieren sollten, hatten – wie auch die Europäische Union – tatenlos zugesehen. Auch die OVKS, umgangssprachlich: „Putins NATO“, wo dieselben Beistandsverpflichtungen gelten, griff nicht ein, obwohl diesmal im Gegensatz zum Herbst 2020 ein Bündnismitglied direkt attackiert worden war.

Drei Wochen nach dem aserbaidschanischen Überfall auf die Republik Armenien unterzeichneten Paschinyan und Alijew die Prager Erklärung. Knapp zwei Wochen später entsandte die Europäische Union vom 20. Oktober bis zum 19. Dezember 2022 die angekündigte Beobachterkommission „EU Monitoring Capacity to Armenia“ (EUMCAP) nach Armenien, die sich laut Angaben des Europäischen Rats angeblich „als wirksam erwies und zur Vertrauensbildung in einer instabilen Lage beigetrug“.

Genau eine Woche vor dem Ende des EUMCAP-Einsatzes startete Aserbaidschan die Blockade des Latschin-Korridors, die neun Monate später, am 19./20. September 2023, in die militärische Eroberung der Republik Arzach einmündete und die Flucht nahezu aller 120.000 Karabach-Armenier zur Folge hatte. 

Dass die EU am 20. Februar 2023 eine weitere, diesmal auf zwei Jahre befristete Beobachtermission, EUMA, an die armenische Seite der Grenze zu Aserbaidschan geschickt hatte, beeinflusste den Lauf der Ereignisse in keiner Weise mehr. Das Gleiche gilt für zwei weitere Treffen von Paschinyan und Alijew mit Charles Michel in Brüssel am 14. Mai 2023 sowie am 15. Juli 2023, wo – auf dem Höhepunkt der Aushungerung Arzachs – beide Seiten nicht nur, wie im Oktober 2022 in Prag, die wechselseitige territoriale Integrität und Souveränität bekräftigten, sondern dies durch genaue Angaben der territorialen Ausdehnung beider Länder (Armenien: 29.800 km2, Aserbaidschans 86.600 km2) noch präzisierten. Beides bedeutete nichts weniger als die Bekräftigung der Anerkennung Karabachs als Teil Aserbaidschans durch Paschinyan.

Arzach aufgeben, um Armenien zu retten? – Die Politik Paschinyans

Was mag den armenischen Ministerpräsidenten bewogen haben, gleich dreimal in einer hoch angespannten Lage seines Landes zusammen mit Aserbaidschans Diktator Ilham Alijew diese Erklärung zu unterzeichnen und damit in aller Stille Karabach de facto als integralen Bestandteil Aserbaidschans anzuerkennen?

Da diese Maßnahme stets als Bestandteil der „wechselseitigen Anerkennung der territorialen Integrität und Souveränität“ erfolgte, liegt folgende Vermutung sehr nahe: Der völlig an die Wand gedrängte und von allen externen Akteuren verlassene Paschinyan versuchte – nicht zuletzt auf dem Hintergrund seit Jahren wiederholter Gebietsansprüche Alijews bezogen auf die von ihm „West-Sangesur“ genannten südarmenischen Regionen Sjunik und Wajoz Dsor und sogar auch auf die Hauptstadt Jerewan sowie dessen Drohung, eine Landverbindung zur Exklave Nachitschewan über armenisches Terrain notfalls mit Gewalt durchzusetzen – zu retten, was seiner Meinung nach überhaupt noch zu retten war: Die Integrität und Souveränität der Republik Armenien! (Durchaus möglich, dass im Hintergrund die EU in Gestalt Charles Michels eine Politik à la Zuckerbrot-und-Peitsche verfolgte. Und durchaus möglich, dass der Mann im Kreml bei trilateralen Treffen in Russland eine analoge Politik praktizierte…) Kurz: Paschinyan ließ den Anspruch auf Souveränität und territoriale Integrität der auch von Armenien nicht anerkannten De-facto-Republik Arzach fallen, um diese Prinzipien für das armenische Mutterland zu retten.

Dass Paschinyans Verhalten von den Armeniern höchst kontrovers aufgenommen und interpretiert, von den Karabach-Armeniern ihm gar als Verrat angekreidet wird, liegt auf der Hand. Der ehemalige Ombudsmann für Menschenrechte der Republik Arzach, Artak Beglaryan, der wie nahezu alle Armenier aus Karabach flüchtete und nun in Jerewan lebt, äußert sich noch vergleichsweise moderat: „Paschinyan sagte in einer Rede Ende Dezember 2023, er habe von der EU bestimmte Sicherheitsgarantien erhalten. Und zwar nicht erst jetzt, sondern auch im Oktober 2022 nach dem Angriff auf Dschermuk und die Regionen Gegharkunik und Sjunik. Konsequenz war – die EU-Beobachterkommission in Armenien! Armenien stand unter Druck von beiden Seiten: EU und Russland. Beide haben die Ängste der armenischen Regierung ausgenutzt, indem sie auf die Bedrohung durch die aserbaidschanische Seite verwiesen. Und Paschinyan durfte – klar! – keinen neuen Konflikt mit Aserbaidschan anfangen. Einerseits wollte man das Territorium Armeniens beschützen, aber in den Verhandlungen mit Aserbaidschan auch die Rechte der Arzach-Armenier einschließen. Aber das funktionierte nicht. 

Wir fühlen uns im Stich gelassen! Armenien hatte 30 Jahre lang Verpflichtungen gegenüber Arzach und hat sie dann ab einem bestimmten Punkt nicht mehr erfüllt und die Hilfe gecancelt. Mehr noch: Die Interessen der Arzach-Armenier wurden ins große Spiel gebracht und den Interessen Armeniens auf territoriale Integrität geopfert.“

Das „große Spiel“

Was es mit dem ominösen „großen Spiel“ auf sich haben könnte, erläutert genauer der Jerewaner Politologe Hakob Badalyan

„Armenien war das schwächste Kettenglied! Die EU wollte keinen Druck auf Aserbaidschan ausüben – nicht nur wegen Gas und Öl, sondern weil dieses Land auch eine Wand zwischen Russland und dem Iran sein soll. Außerdem ein Tor zum Kaspischen Meer und nach Mittelasien. Darin kann man Aserbaidschan durch nichts und niemanden ersetzen. Einen anderen Weg gibt es praktisch nicht – da bleibt nur der Indische Ozean!“

Auf die Frage, ob Armenien von der EU bereits verraten wurde, noch bevor Russland es im Stich ließ, meint Badalyan, Russland habe in dieser Frage mit offeneren Karten gespielt. Der Westen habe Paschinyan weniger durch direkten Druck als durch eine „Kette von diplomatischen Werkzeugen“ in die Falle gelockt: 

„2021 war Charles Michel im Kaukasus und unterbreitete Armenien eine Unterstützung von 2,6 Milliarden Euro – 1,6 Milliarden als Geschenk und eine Milliarde als günstigen Kredit – für verschiedene Programme und Projekte. Vier oder fünf Monate vor dem Prager Treffen sagte Paschinyan vor der Nationalversammlung: ‚Der Westen fordert von uns, dass wir die Hürde der Arzachfrage etwas niedriger hängen. Dann verspricht er uns viel mehr Unterstützung für Armenien selbst.‘ Am 31. August 2022 traf sich Michel in Brüssel mit Paschinyan und Alijew. Bei diesem Treffen wurde von Seiten der EU versucht, Armenien Varianten der Reintegration von Arzach nach Aserbaidschan zu präsentieren. Armenien versuchte noch zu widerstehen – und zwei Wochen später erfolgte der aserbaidschanische Angriff auf Dschermuk! Möglicherweise hat man Paschinyan damals von Seiten der EU zu verstehen gegeben: ‚Wenn du das Arzach-Problem nicht löst, werden wir der aserbaidschanischen Gefahr nicht entgegenwirken!‘“

Drei Wochen danach unterzeichnete Paschinyan – auf Vermittlung, besser wohl: auf Druck Charles Michels – die Prager Erklärung. Hakob Badalyan lässt durchblicken, dass nach diesem brutalen Überfall auf das Territorium der Republik Paschinyan offenbar ‚weichgekocht‘ war. Nach wie vor will er dem armenischen Ministerpräsidenten nichts Übles unterstellen – „Paschinyan hat das Maximum versucht, einen Krieg zu verhindern“ – aber: „Fakt ist, dass wir Arzach verloren und dafür nichts bekommen haben!“ Ähnlich äußert sich Artak Beglaryan: „Paschinyan hätte im Gegenzug zur Anerkennung der aserbaidschanischen territorialen Integrität auch die Rechte der in Arzach lebenden Armenier garantieren lassen müssen. Aber das unterblieb!“

Wir sind schon müde!“

Nochmals einen anderen Blick auf die Ereignisse hat der in Jerewan lebende armenische Germanist und Dolmetscher Hrachya Stepanyan: 

„Ich gehe davon aus, dass Paschinyan und seine Berater sich von vorneherein einig waren, das Karabachproblem möglichst schnell loszuwerden. Vermutlich war die Rückgabe dieses Gebiets an Aserbaidschan bereits angedacht, als Paschinyan im Mai 2018 Ministerpräsident wurde. Möglicherweise dachte man damals sogar schon daran, die Karabach-Armenier nach Armenien zu holen. Als Paschinyan an die Macht kam, hat man ja sehr schnell die politische Ausrichtung Armeniens in Richtung Westen verändert. Er hat damals sehr oft angekündigt, eine ‚multivektoriale Politik‘ zu betreiben. Ich vermute, er und seine Freunde dachten damals fälschlicherweise, man könne den Westen ins Boot holen, wenn man betone, dass sowohl die Republik Armenien als auch die Republik Arzach demokratische Staaten seien. Das hat nicht funktioniert, aber ich denke, dass sie das auch noch lange in Bezug auf Armenien dachten und praktizierten. Das war ihr größter Fehler. Der Westen hat Armenien immer verraten!“

Aber, so Stepanyan, auch in Armenien hätten damals nicht wenige mit dem Gedanken gespielt, Karabach aufzugeben: „Es gab sogar Stimmen: ‚Warum sollen wegen 120.000 Arzach-Armeniern drei Millionen Armenier leiden?‘ Wir sollten keinen Hehl daraus machen: Der Karabachkonflikt hat nicht nur Aserbaidschan, sondern auch uns, die Republik Armenien, in unserer Entwicklung weit zurückgeworfen. 30 Jahre lang haben wir nur gehört: ‚Wir sind im Krieg, wir sind in der Blockade – und wir wollen gut oder besser leben!‘ Und zugleich wurde das ganze Land ausgeplündert! Von den korrupten Clans um (die früheren Staatspräsidenten) Robert Kotscharyan – immer noch der reichste Armenier; schon 2009 sprach man davon, er würde etwa sieben Milliarden Dollar besitzen – und Sersch Sargsyan. Ab und zu hat man auch gesagt: ‚Wir sind schon müde! Gebt doch Berg-Karabach zurück, damit wir ein normales Land werden!‘“

Und diese stumpfe „Müdigkeit“ ist, neben der Unruhe und der Angst vor der ungewissen Zukunft, eine Stimmung, die jetzt post festum weite Kreise im Lande bleischwer befallen hat. Alle externen Akteure haben nicht nur versagt, fast könnte man meinen, selbst die untereinander am Ärgsten verfeindeten Parteien hätten sich im Dunklen auch noch gegen die Armenier verbündet! Hat doch ausgerechnet die EU dem russischen Präsidenten Putin die besten Argumente auf dem Tablett serviert, seine Hände öffentlich in Unschuld zu waschen …

Empfinden sich die Armenier eh schon – und nicht zum ersten Mal – von der ganzen Welt im Stich gelassen, so gilt das für die Karabach-Armenier gleich doppelt: Sie fühlen sich dazu auch noch von ihrem „Mutterland“ verlassen, wenn nicht sogar verraten! 

Und Paschinyan? Vielleicht wird der vor fast sechs Jahren als Revolutionär und Liebling des Volkes an die Macht gekommene Politiker als höchst tragische Gestalt in die Geschichte eingehen.

(Fortsetzung folgt)

Titelbild: shutterstock / Alexandros Michailidis