Hintergründe der Angriffe auf die russische Grenze während der Präsidentschaftswahlen

Hintergründe der Angriffe auf die russische Grenze während der Präsidentschaftswahlen

Hintergründe der Angriffe auf die russische Grenze während der Präsidentschaftswahlen

Ulrich Heyden
Ein Artikel von Ulrich Heyden

Am 12. März, drei Tage vor dem Beginn der Präsidentschaftswahlen in Russland, begann eine in ihrer Massivität bisher nicht dagewesene Angriffswelle auf die russische Grenze nahe der russischen Regionen Belgorod und Kursk. Mit diesen Angriffen, die von russischen „Legionären“ durchgeführt wurden, welche unter Kontrolle der ukrainischen Armee stehen, wollte Kiew offenbar einen Schatten auf die Wahlen in Russland werfen und zeigen, dass Russland nicht stabil ist. Aus Moskau berichtet Ulrich Heyden.

Die mehrtägigen Angriffe der drei Verbände „Legion Freiheit Russland“, „Sibirisches Bataillon“ und „Russisches Freiwilligenkorps“ auf die russische Grenze wurden nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums alle zurückgeschlagen. Die Angreifer präsentierten allerdings ein Video, auf dem zu sehen ist, wie an einem Verwaltungsgebäude in einem Dorf die staatlichen russischen Flaggen heruntergerissen wurden. Es ist unklar, ob die Szene gestellt wurde oder echt ist. Russische Stellen bestätigten nicht, dass es den Legionären gelang, ein Dorf unter ihre Kontrolle zu bringen, wie sie selbst großspurig erklärten.

Nach Mitteilung des russischen Verteidigungsministeriums wurde in den Tagen vor der russischen Präsidentschaftswahl 580 Angreifer, die die russische Grenze überqueren wollten, „vernichtet“. Die ukrainische Armee habe außerdem 19 Panzer, 21 gepanzerte Fahrzeuge, darunter elf „Bradley” aus den USA, aufgeben müssen. In Ihrer Mitteilung unterschied das russische Verteidigungsministerium nicht zwischen „Legionären“ russischer Herkunft und der ukrainischen Armee.

Wladimir Putin: „Wir werden sie bestrafen, wo sie auch sind.“

Wladimir Putin erklärte am 19. März auf einer Sitzung des Kollegiums des russischen Inlandgeheimdienstes FSB: „Ich bitte darum, so wie es immer in unserer Geschichte war, nicht zu vergessen, wer diese Leute sind und sie namentlich zu identifizieren. Wir werden sie ohne Verjährungsfrist bestrafen, wo sie sich auch aufhalten.“ Putin erklärte weiter: „Wir erinnern, was die Wlassow-Leute auf der sowjetischen Erde angerichtet haben. Denen werden wir niemals vergeben.“

Der wiedergewählte russische Präsident verglich die Mitglieder sogenannter Freiwilligen-Bataillone mit dem russischen General Wlassow. Dieser hatte 1944 in deutscher Gefangenschaft die „Russische Befreiungsarmee“ gegründet, welche die Wehrmacht im Kampf gegen die Rote Armee unterstützte.

In den letzten Tagen gab der russische Geheimdienst Verhaftungen von Personen bekannt, die die „Legionäre“ von russischem Boden aus unterstützt haben sollen. Im Gebiet Belgorod wurde ein Mann verhaftet, der verdächtigt wird, dass er über WhatsApp Kontakt mit dem rechtsradikalen Russischen Freiwilligenkorps aufgenommen und ihnen Informationen über Stationierungsorte russischer Streitkräfte übergeben hat.

„Freies Russland“ unterstützt russische „Legionäre“

Fast zeitgleich zu den Angriffen auf die russische Grenze nahe Belgorod und Kursk fand am 17. März, also während der russischen Präsidentschaftswahl, in Kiew eine nicht öffentliche Veranstaltung des „Forum Freies Russland“ statt. Diese Organisation russischer Polit-Emigranten war 2016 von dem 42 Jahre alten Russen Iwan Tjutrin und dem ehemaligen Schachweltmeister Garri Kasparow in Vilnius gegründet worden.

An der Veranstaltung in Kiew nahmen Vertreter der Kampforganisationen „Legion Freiheit Russland“, des „Sibirischen Bataillons“ und des „Russischen Freiwilligenkorps“ teil. Über das „Freiwilligenkorps“ ist bekannt, dass es mit dem rechtsradikalen Asow-Bataillon zusammen kämpfte. In diesen Bataillonen kämpfen Russen und russische Kriegsgefangene.

Zu den Teilnehmern der Veranstaltung gehörte auch der russische Anwalt Mark Fejgin, der ein Mitglied der Punk-Rock-Gruppe „Pussy Riot“ vor einem russischen Gericht verteidigte, die russische Umweltaktivistin Jewgenija Tschirikowa, die in der Emigration in Estland lebt, sowie der ehemalige Abgeordnete der russischen Duma Ilja Ponomarjow, der seit 2016 in Kiew wohnt. Auf der Veranstaltung in Kiew ging es um die Unterstützung russischer „Legionäre“, das Einwerben von Unterstützungsgeldern und die humanitäre Hilfe für verletzte Legionäre. Die Absicht, stärker zusammenzuarbeiten, wurde von den Teilnehmern mit einem „Memorandum“ bekräftigt. Die Teilnehmer äußerten die Absicht, mit dem ehemaligen russischen Öl-Magnaten Michail Chodorkowski und der Gruppe um den verstorbenen russischen Oppositionellen Aleksej Nawalny Kontakt aufzunehmen.

Ehemaliger Duma-Abgeordneter droht Russland mit Revolution

Viele der Teilnehmer der Veranstaltung in Kiew sind in Russland bekannt, weil sie zu dem liberalen Flügel des politischen Spektrums gehörten und als Journalisten, Aktivisten oder Politiker von sich reden machten. Da ist zum Beispiel der ehemalige Duma-Abgeordnete Ilja Ponomarjow. Der 48-Jährige saß von 2007 bis 2016 für die Partei „Gerechtes Russland“ – eine sozialdemokratische Partei – im russischen Unterhaus. Gegenüber der britischen Zeitung The Sun schlug Ponomarjow einen Ton an, den man schwerlich als „liberal“ bezeichnen kann. Er erklärte, er sei „Aufständischer“ und befehlige „eine Armee von Anti-Putin Kämpfern“. Diese Armee werde in Russland eine Revolution machen. Im Interview deutet Ponomarjow an, dass es ein Untergrund-Netzwerk in Russland gäbe, welches Anschläge ausführe. Einer dieser Anschläge sei eine Bombenexplosion im Severomuysky-Eisenbahn-Tunnel in Sibirien im November 2023 gewesen.

Öko-Aktivistin bekam Auszeichnung von Joe Biden

Unter den Teilnehmern der Veranstaltung in Kiew war auch die russische Öko-Aktivistin Jewgenija Tschirikowa. In Russland wurde die 48-Jährige bekannt durch ihre Teilnahme an Protesten gegen den Autobahnbau durch einen Wald bei Chimki, nördlich von Moskau. Sie war auch Teilnehmerin der Protestaktionen gegen Wahlfälschungen nach der Duma-Wahl 2011. Im März 2011 bekam sie von dem damaligen amerikanischen Vize-Präsidenten Joe Biden die Auszeichnung „Woman of Courage Award“ überreicht.

Auf der Veranstaltung in Kiew erklärte Tschirikowa, sie werde „wegen Anti-Kriegs-Tätigkeit“ in Russland als „Terroristin“ bezeichnet, worauf sie stolz sei. Es gäbe jetzt „die Chance, eine aufständische Anti-Putin-Armee zu gründen“. Diese Armee werde „die Ukraine befreien“ und Russland „von Putins KGB-Okkupanten“ befreien.

Russischer Politemigrant Tjutrin: „Ich habe in Vilnius Polizeischutz“

Die russischen Oppositionellen, die seit 2014 nach Kiew und in andere osteuropäische Staaten übergesiedelt sind, beschreiben die Situation, in der sie sich befinden, als nicht ungefährlich. In einem Video-Interview, das der in Kiew lebende, liberale russische Journalist Jefgeni Kiseljow mit Iwan Tjutrin, einem der Gründer der Emigranten-Organisation „Forum Freies Russland“ führte, erklärte Tjutrin, „Sicherheit im Ausland gibt es nicht. Siehe die Fälle Bandera und Trotzki“. Man erinnert sich: Der ukrainische Faschist Stepan Bandera wurde 1959 in München und der russische Revolutionär Lew Trotzki 1940 in Mexiko von russischen Agenten umgebracht. Tjutrin erklärte, er habe in Vilnius, wo er wohne, jetzt Polizeischutz, weil das führende Mitglied des Nawalny-Teams Leonid Wolkow vor Kurzem in Vilnius von Unbekannten angefallen und verletzt wurde.

Ehemaliger russischer Star-Moderator Kiseljow als „Terrorist“ gelistet

Wer ist Iwan Tjutrin? Der 42-Jährige stammt aus der sibirischen Stadt Tomsk. Dort leitete er 2005 die vom ehemaligen Schachweltmeister Garri Kasparow gegründete „Bürgerfront“. 2008 bis 2012 hatte Tjutrin führende Positionen in der liberalen Oppositionsgruppe „Solidarnost“. 2012 verließ er aus Angst vor Strafverfolgung Russland und lebt seitdem in Vilnius, wo er 2016 mit Garri Kasparow das „Forum freies Russland“ gründete.

Auf einer Konferenz des „Forums“ im Februar 2024 erklärte Kasparow, mit dem „Forum“ schaffe man einen Ort für Russen außerhalb Russlands. Die Aufgabe des „Forums“ sei es, „den Westen zu beruhigen, dass Russland nicht zerfällt und keine Atomwaffen in die Hände Chinas kommen“. Auf die Frage des Journalisten Kiseljow, „ob die russische Opposition Gewalt nicht mehr ausschließe“, antwortete Tjutrin im Interview mit Kiseljow, der politische Kampf „der Anti-Putin-Opposition in Russland ist nicht mehr effektiv. Der Krieg in der Ukraine hat die Lage verändert.“

Dass der Journalist Kiseljow so freundschaftlich mit Tjutrin über einen gewaltsamen Umsturz in Russland plauderte, ist schon bemerkenswert. Der 67-jährige Kiseljow ist in Russland bekannt. Er war von 1992 bis 2003 Moderator des Wochenmagazins „Itogi“, das der russische Fernsehkanal NTW ausstrahlte. NTW gehörte damals dem russischen Oligarchen Wladimir Gussinski. Seit Februar 2024 wird Kiseljow von den russischen Strafverfolgungsbehörden als „Extremist und Terrorist“ gelistet.

Und was denken die Liberalen in Russland?

Man darf gespannt sein, wie die liberal denkenden Menschen, die nicht emigriert sind und noch in Russland leben, heute über ihre ehemaligen „Stars“ Kiseljow, Tjutrin, Tschirikowa und Ponomarjow denken. Vermutlich wird vielen Liberalen und Linken, die in Russland einfach nur für demokratischen Fortschritt und soziale Forderungen eintraten, nicht aber für einen gewaltsamen Umsturz mithilfe von rechtsradikalen Bataillonen, ein kalter Schauer über den Rücken laufen.

Titelbild: RIA

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