Denkfehler: Die Aktienrente ist demografiefest

Denkfehler: Die Aktienrente ist demografiefest

Denkfehler: Die Aktienrente ist demografiefest

Jens Berger
Ein Artikel von: Jens Berger

Das Lieblingsargument von Befürwortern einer kompletten oder teilweisen Umstellung des Rentensystems auf eine Aktienrente ist stets die Demografie. Die klassische Umverteilung bekäme demnach Probleme, wenn die Zahl der Rentenempfänger gegenüber der Zahl der Einzahler steigt; bei einem Rentensystem, das Ein- und Auszahlungen ins System über den Kauf und Verkauf von Aktien händelt, sei dies gänzlich anders. Aktien seien demografiefest. Oberflächlich betrachtet mag das einleuchten. Sobald Altersvorsorgesysteme aber den Aktienmarkt bestimmen, verhält es sich vollkommen anders. Nicht die Umverteilungs-, sondern die Aktienrente hat dann ein massives Problem mit der Demografie – am Ende könnte der Aktienmarkt dabei die Mutter aller Finanzblasen werden und wir sind aktuell schon auf dem Weg dorthin. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

In der letzten Woche bin ich im Artikel „Börsenkauderwelsch“ bereits auf die Eigenheiten von Aktienmärkten eingegangen. Wichtig für die Betrachtung demografischer Effekte einer Aktienrente ist dabei vor allem, dass Aktien im normalen Handel nicht von den betreffenden Aktiengesellschaften ausgegeben werden, sondern stets zwischen zwei Marktteilnehmern gehandelt werden. Wenn Sie eine Aktie kaufen, braucht es zwingend einen Verkäufer, der im Besitz der Aktien ist. Und wenn sie eine Aktie verkaufen, braucht es zwingend einen Käufer, der diese Aktien kaufen will. Angebot und Nachfrage regeln den Preis. Vereinfacht kann man also sagen, wenn es deutlich mehr Marktteilnehmer gibt, die eine Aktie kaufen und nicht verkaufen wollen, steigt deren Preis. Gibt es jedoch mehr Marktteilnehmer, die diese Aktie verkaufen und nicht kaufen wollen, sinkt deren Preis. Gleiches gilt für den gesamten Aktienmarkt. Indizes, wie beispielsweise der deutsche DAX, steigen dann dauerhaft, wenn die Kaufangebote die Verkaufsangebote übersteigen und umgekehrt.

Lange Zeit gab es im Grunde nur drei Typen von Marktteilnehmern – langfristige „Investoren“, kurzfristige Spekulanten, die auf kurzfristige Kursentwicklungen spekulieren, und Spekulanten, die technische Schwächen des Marktes ausnutzen und über Arbitragegeschäfte oder im Hochgeschwindigkeitshandel mit riesigen Volumina kleine Stückgewinne machen, die sich am Ende jedoch rechnen. Die beiden Letztgenannten können wir bei der Betrachtung ausklammern, da sie zwar für das rege Auf und Ab der Kurse, also die Volatilität der Kurse, verantwortlich sind, aber keinen großen Einfluss auf die langfristige Kursentwicklung haben. Diese langfristige Entwicklung wird vor allem durch sogenannte institutionelle Investoren bestimmt – also Banken, Vermögensverwalter, Versicherungen und Fonds, die vor allem die Gelder ihrer Kunden in Aktien anlegen.

Wenn Sie beispielsweise eine Lebensversicherung auf Aktienbasis oder einen Aktienfonds haben und monatlich Geld in dieses moderne Sparprodukt einzahlen, muss der Anbieter von diesem Geld die entsprechenden Aktien kaufen. Welche Aktien dies sind und ob es über die gesamte Laufzeit die gleichen Aktien sind, entscheidet die Art des Sparprodukts. Haben Sie z.B. einen aktiv gemanagten Aktienfonds in ihrem Portfolio, entscheiden Fondsmanager über den Kauf und Verkauf einzelner Aktien. Diese Produkte sind jedoch mehr und mehr im Rückzug. Vor allem für die Altersvorsorge und hier ganz besonders für die sogenannte Aktienrente spielen sogenannte Indexfonds – für Privatkunden meist in Form sogenannter ETFs – heute die entscheidende Rolle.

Indexfonds sind – kurz erklärt – Fonds, die ihre Aktienanteile streng nach deren Anteil in einem Aktienindex kaufen. Das hat Vorteile für den Anleger, da so Einzelrisiken gut verteilt sind und keine unnötigen Kosten für fürstlich bezahlte Fondsmanager anfallen. Für den Betrieb eines Indexfonds reicht ein Algorithmus, der auf Autopilot Aktien kauft und verkauft. Im Kern ist dies ein gutes Produkt, das jedoch indirekte Risiken mit sich bringt.

Das größte Problem der Indexfonds und ETFs ist – so paradox es klingen mag – deren großer Erfolg. Heute ist der Markt für Indexfonds und ETFs zwölf Billionen US-Dollar groß und wächst weiterhin unaufhörlich. Der Hauptanteil dieser Fonds bildet die großen Aktienindizes ab und muss die Kundengelder in die Aktien anlegen, die den jeweiligen Index bilden. Dies erfolgt dann kapitalgewichtet. Ein Indexfonds, der den S&P 500 – also den bestimmenden US-Aktienindex, der die 500 größten US-Aktiengesellschaften abbildet – kauft, muss also 4,08 Prozent der Kundeneinlagen in Aktien von Apple investieren, 3,29 Prozent in Microsoft, 3,92 Prozent in Amazon und so weiter.

Diese „Gießkannenmethode“ führt dazu, dass vor allem die Aktien der im Index hoch gewichteten Unternehmen immer stärker nachgefragt werden und sich alleine schon wegen dieser steten zusätzlichen Nachfrage im Preis steigern. Steigt der Preis, steigt die Marktkapitalisierung des Unternehmen und dies in sogar Relation zu den anderen im Index vertretenen Unternehmen. Apple, Microsoft, Amazon und Co. werden durch die verstärkte Nachfrage nach Indexfonds immer wertvoller, ohne dass diese Wertsteigerung etwas mit deren unternehmerischen Tätigkeiten zu tun hat. Sie gewinnen an Wert, weil sie ohnehin schon wertvoll sind und Indexfonds ihre Aktien kaufen müssen, um den Index nachzubilden.

Da sollte man sich schon die Frage stellen, ob der Börsenwert dieser Unternehmen überhaupt gerechtfertigt ist. Ist Apple wirklich 3.360 Milliarden US-Dollar, Microsoft 3.080 Milliarden US-Dollar und Amazon 1.790 Milliarden US-Dollar wert? Oder ist dieser Wert bereits heute massiv verzerrt und überbewertet, weil die Indexfonds als stetige Käufer den Aktienpreis nach oben katapultieren?

Und was für die ganz Großen zutrifft, gilt natürlich für alle Unternehmen, die in den populären Indizes gelistet sind. Eigentlich besagt ja die Theorie, dass der Markt – wer auch immer das konkret sein soll – Aktien von Unternehmen kauft, die besonders vielversprechend sind, gut gemanagt werden oder schlicht unterbewertet sind, und Aktien von Unternehmen verkauft, die auf dem absteigenden Ast sind, schlecht gemanagt oder überbewertet sind. Nun gibt es am Markt aber einen riesigen Akteur, dem solche Dinge komplett egal sein müssen. Indexfonds kaufen schließlich gerade eben nicht selektiv, sondern fahren auf Autopilot und kaufen blind, wie es der Index vorgibt.

Und das gilt heute schon für den gesamten Aktienmarkt. Eine Studie des European Systemic Risk Boards kam vor wenigen Jahren zu dem Ergebnis, dass heute an den Börsen der USA bereits jeder dritte Handel direkt oder indirekt mit Indexfonds und ETFs zu tun hat – Tendenz stark steigend. Bei einer stetig steigenden Nachfrage nach ETFs bedeutet dies ganz einfach, dass die ETFs eine stetige Nachfrage nach den Aktien ausüben, deren Indizes nachgebildet werden.

An was liegt es, dass der S&P 500 in den letzten fünf Jahren um eigentlich unvorstellbare 85 Prozent gestiegen ist, obwohl sowohl die US-Konjunktur im gleichen Zeitraum nur um 10,5 Prozent gewachsen ist? Und warum ist der DAX in den letzten fünf Jahren – trotz kleiner Delle in der letzten Woche – um 53 Prozent gestiegen, während die deutsche Realwirtschaft vor sich hin dümpelt und nur um zwei Prozent gewachsen ist? Der Erfinder der Indexfonds, der US-Ökonom Paul A. Samuelson, sagte einst: Die Ergebnisse an den Finanzmärkten können nicht dauerhaft besser sein als die Konjunktur. Woran liegt es also, dass hier elementare Regeln der Ökonomie außer Kraft gesetzt sind?

Waren die Unternehmen, die den S&P 500 oder den DAX bilden, besonders ertragsstark? Werden sie so genial gemanagt? Oder liegt der maßgebliche Grund für den anhaltenden Bullenmarkt nicht vielmehr darin begründet, dass ihm stetig neue Gelder zugeführt werden, die den Aktienkurs auf der Nachfrageseite stimulieren?

Dazu eine erstaunliche Zahl: Zwischen 2022 und 2023 sind allein durch Indexfonds und ETFs zweieinhalb Billionen US-Dollar, das sind 2.500 Milliarden, in den Aktienmarkt geflossen. Es wurden also allein durch diese Akteure Aktien in einem Wert, der beinahe der gesamten Wirtschaftsleistung Deutschlands entspricht, zusätzlich gekauft. Die stetige Nachfrage nach Aktien durch diese Akteure ist maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Kurse sich von der Realwirtschaft abgekoppelt haben und – wie es derzeit scheint – nur nach oben gehen.

Das ganze Geld, das in diese Indexfonds und ETFs fließt, stammt – und hier schließt sich der Kreis zur Rentendebatte – hauptsächlich aus privaten Altersvorsorgesystemen von Staaten und Unternehmen und der freiwilligen Altersvorsorge. Und nun kommen wir zur Demografie. Altersvorsorgesysteme sind dadurch gekennzeichnet, dass es eine Einzahlungs- bzw. Ansparphase und eine Auszahlungsphase gibt. Ist man berufstätig, zahlt man in die Systeme ein, ist man nicht mehr berufstätig, zahlen diese Systeme an einen aus. Systemisch betrachtet erzeugt ein Altersvorsorgesystem auf Aktienbasis also dann einen permanenten Kaufüberschuss am Markt, wenn mehr Sparer ins System einzahlen, als es Bezieher gibt, an die aus dem System ausbezahlt werden. Diese simple und unstrittige Logik ist elementar.

Nehmen wir nun die Demografie mit rein, heißt das, dass im System so lange ein Nachfrageüberschuss nach Aktien vorhanden ist, wie es – in der Summe – mehr Einzahlungen ins System als Auszahlungen aus dem System gibt. Das ist momentan noch der Fall. Wenn nun aber die Teilnehmer im Altersvorsorgesystem auf Aktienbasis mehrheitlich in die Auszahlungsphase kommen, kippt das Verhältnis und es gibt in Summe mehr Auszahlungen als Einzahlungen. Das System, das vorher ein stetigen Kaufüberschuss an den Aktienmärkten verursacht hat, verursacht nun einen stetigen Verkaufsüberschuss. Die Aktienpreise steigen nicht mehr durch die stetige Nachfrage, sondern sie sinken durch das stetige Überangebot. Der demografische Wandel sorgt für ein solches Umkippen.

„Prognosen sind schwierig, insbesondere, wenn sie die Zukunft betreffen“, besagt ein beliebtes Bonmot, das wahlweise Mark Twain, Karl Valentin, Niels Bohr oder auch Winston Churchill zugeschrieben wird. Versuchen wir es dennoch. Wenn dies alles so ist wie hier dargestellt, dann ist der heutige Aktienkurs aller in diesen Indizes vertretenen Unternehmen durch die künstliche und nicht selektive Nachfrage seitens der Indexfonds und ETFs bereits jetzt deutlich überbewertet. Die Abkoppelung der Aktienkurse von den realwirtschaftlichen Zahlen ist dafür ein guter Beleg. Die entscheidende Frage ist, wie lange das gutgehen kann. Wie lange können Aktienkurse abgekoppelt von den Fundamentaldaten der Unternehmen steigen? Ohne es zu wissen, könnten wir uns bereits jetzt in einer gigantischen Finanzblase befinden. Und wenn das Modell der Aktienrente sich ausweiten wird und noch mehr Billionen in den Markt gepumpt werden – und das ist keinesfalls unwahrscheinlich –, wird der Aktienmarkt auf die Mutter aller Blasen zusteuern.

Wie Sie sehen, ähnelt die Aktienrente nicht einer soliden Altersvorsorge, sondern sie stellt eher ein klassisches Schneeballsystem dar. Das System ist nicht demografiefest. Die zugrundeliegenden Aktienkurse ähneln vielmehr einer Blase, die durch stetig neue Zuströme immer weiter aufgepumpt wird, und ist auch systemisch darauf angewiesen, immer neue Gelder in den Markt zu pumpen. Gelingt dies nicht dauerhaft, wird die Blase platzen, die „Rentner“ werden nur einen Bruchteil des Angesparten ausbezahlt bekommen und das Finanzsystem wird ein ernsthaftes Problem bekommen. Bis dahin nutzt das Finanzsystem die Blase für seine eigenen Zwecke. Wer weiß, dass Jahr für Jahr Billionen „dumme“ Dollar oder Euro ins System fließen, weiß auch, dass die Kurse erst einmal dauerhaft steigen und verdient über gehebelte Wetten daran, denn irgendwer muss den Indexfonds diese Aktien ja verkaufen. Wenn die Blase dann platzt, sind die Finanzkonzerne aus dem Markt raus und werden auf fallende Kurse wetten. Denn sie können – anders als die Rentner – bei steigenden und fallenden Kursen Gewinne machen; in beiden Fällen übrigens indirekt bezahlt von den „Aktienrentnern“. Wie heißt es doch so schön? „Ihr Geld ist nicht weg, mein Freund, es hat nur ein anderer.“

Titelbild: TommyStockProject/shutterstock.com

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