Das deutsche Parteienspektrum ist in Bewegung. Nie in der Geschichte der Bundesrepublik gab es so viele Parteien wie in der letzten und der neuen Wahlperiode. Die politischen Ränder sind in Bewegung. Das schreckt die „traditionellen” Parteien auf. Das Auftauchen neuer Parteien (BSW und AfD) sowie das unerwartete Erstarken der Partei Die LINKE ist das Ergebnis einer immer offensichtlich werdenden Repräsentationslücke. Die „traditionellen” Parteien adressieren offensichtlich einen beachtlichen Teil der Gesellschaft nicht mehr. Die Parteien der Mitte sind ein Resultat der programmatischen und tagespolitische Annäherung – eben die Mitte. Ihre Reaktion gegenüber den neuen Parteien ist keine politisch-inhaltliche Auseinandersetzung, sondern ist die Ausgrenzung. Mit Blick auf die AfD wurde sogar eine sogenannte „Brandmauer“ gezogen. Wird sie Bestand haben? Von Alexander Neu.
Der Begriff der „Brandmauer“ hat vor wenigen Jahren die bautechnische Fachsprache „überwunden“ und in der Politik der Berliner Republik zwischenzeitlich eine beachtliche Karriere hingelegt. Das „Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache“ beschreibt hierzu zwei Definitionen, eine technische und eine abstrakte, wobei Letztere bereits die politische Bedeutung anspricht.
Die technische lautet, eine Brandmauer ist eine „verstärkte, feuersichere Wand zwischen aneinanderstoßenden Gebäuden oder Gebäudeteilen, die dem Übergreifen eines Brandes vorbeugen soll”. Und die abstrakte Definition lautet: Eine Brandmauer ist eine „abstrakte Sache (z.B. Maßnahme, Handlung, Vorrichtung) oder Beschaffenheit, Eigenschaft, die dem Übergreifen einer unerwünschten Entwicklung auf andere Bereiche vorbeugen soll”.
Beide Definitionen bescheiden dem Begriff eine spezifische Funktion: das Ausbreiten von etwas Gefährlichem, Unerwünschtem zu verhindern, es einzudämmen, da ansonsten eine Gefahr für das Ganze entsteht oder entstehen könnte. Es ist im technischen Sinne rein präventiv, da es die Ausbreitung eines möglichen Feuers verhindern soll. Im politischen Sinne hingegen ist es auch reaktiv: Es wird anerkannt, dass die Gefahr bereits ganz objektiv existiert und danach strebt, sich auszubreiten (nach wachsender politischer Zustimmung neigende politische Entwicklung). Und diese politische Brandmauer haben die Parteien der politischen Mitte sich mit Blick auf die mögliche politische Kooperation mit der AfD geschworen. Aber auch gegen DIE LINKE wurde sie seinerzeit praktiziert, ohne den Begriff der „Brandmauer“ (stattdessen „Rote-Socken“-Kampagne) selbst zu verwenden.
Dass dieser Ansatz mit Blick auf die damalige PDS und spätere Linkspartei auf Länderebene nicht durchzuhalten war, ist allseits bekannt. Die Nutzung der Metapher „Brandmauer“ soll jedoch die größere Entschlossenheit der Parteien der Mitte symbolisieren, der AfD keinen Boden im parlamentarischen Raum zu geben, weder politisch (Zustimmung zu deren Anträgen) noch strukturell (Vorenthaltung parlamentarischer Posten wie beispielsweise das Amt des Bundestagsvizepräsidenten oder ggf. keinen Vorsitz der Parlamentsausschüsse und wenn ja, dann möglichst Ausschüsse mit wenig Außenwirkung), obschon ihr diese nach althergebrachter Praxis als auch gemäß der Geschäftsordnung zustünden.
So heißt es beispielsweise laut Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages gemäß „§ 2 Wahl des Präsidenten und der Stellvertreter“: „(…). Jede Fraktion des Deutschen Bundestages ist durch mindestens einen Vizepräsidenten oder eine Vizepräsidentin im Präsidium vertreten.“ Die demokratietheoretisch sinnvolle Festlegung kann und wird mit Blick auf den Umgang mit der AfD indessen durch den vorangehenden Satz im Paragraphen politisch ausgehebelt: „Der Bundestag wählt mit verdeckten Stimmzetteln (§49) in besonderen Wahlhandlungen den Präsidenten und seine Stellvertreter für die Dauer der Wahlperiode.“ Denn es kann kein Mitglied des Deutschen Bundestages gezwungen werden, einen Kandidaten zu wählen. Und somit fallen bislang alle von der AfD vorgeschlagenen Kandidaten bei der Wahl regelmäßig durch, womit ihr Anspruch auf einen „Vizepräsidenten oder Vizepräsidentin im Präsidium“ ins Leere läuft. Die Brandmauer wirkt zumindest bislang hinsichtlich der bundestagsinternen Strukturen. Ob dieses „Handeln“ demokratietheoretisch vertretbar ist, muss der Leser für sich entscheiden. Zu bedenken ist dabei, dass einer demokratisch gewählten und bislang nicht verbotenen Partei im Bundestag Funktionen und Ämter verweigert werden, die ihr rechtlich zustehen. Mehr noch: Der Wählerwille von Millionen von Wählern wird übergangen – eine schwierige Abwägung, die im Raume steht.
Exkurs: Wehrhafte Demokratie
Andererseits haben Mütter und Väter des Grundgesetzes angesichts der Erfahrungen mit der Abwicklung der Weimarer Republik durch die Faschisten auch gewisse verfassungsrechtliche „Brandmauern“ (besser bekannt als „wehrhafte Demokratie“) in das Grundgesetz geschrieben. So sind die Artikel 1 (Menschenwürde und Grundrechte) und Artikel 20 (Verfassungsgrundsätze) von der „Ewigkeitsklausel“ (Artikel 79, Abs. 3) geschützt, dürfen mithin nicht verändert werden. Auch können Grundrechte (Artikel 18) verwirkt werden, wenn Personen die ihnen verfassungsrechtlich zugesicherten Grundrechte missbrauchen, um die „freiheitlich demokratische Grundordnung“ (fdGO) zu bekämpfen. Allerdings kann diese Verwirkung nicht die Bundesregierung oder der Deutsche Bundestag beschließen, sondern ausschließlich das Bundesverfassungsgericht – so auch die Möglichkeit, eine Partei als Ganzes zu verbieten (Artikel 21 Abs. 2). Parteien können verboten werden, wenn sie die „freiheitlich demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland“ angesichts ihrer „Ziele“ „oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger zu gefährden“ drohen. Auch hier gilt: Die Verfassungswidrigkeit einer Partei kann ausschließlich vom Bundesverfassungsgericht geklärt werden, um dem Anspruch der rechtsstaatlichen Gewaltenteilung gerecht zu werden. Andernfalls wäre das Instrument des Parteienverbotes für jede Regierungspartei ein interessantes Mittel, um konkurrierende Parteien durch Verbote auszuschalten.
Und tatsächlich gab es in der jungen Geschichte der Bundesrepublik bereits in der Adenauer-Ära zwei juristisch, politisch und politikwissenschaftlich umstrittene Parteienverbote: Die „Sozialistische Reichspartei“, eine Nachfolgepartei der NSDAP, sowie das Verbot der KPD, der Kommunistischen Partei. Demgegenüber scheiterte 2017 der Versuch des Bundesrates, ein Verbot der NPD zu erzielen, am Bundesverfassungsgericht. Zwar stellte das Bundesverfassungsgericht die Erfüllung der grundgesetzlich verankerten Verbotsvoraussetzungen (s.o.) seitens der NPD fest, stellte jedoch die Wahrscheinlichkeit des Eintretens des Erfolges der „Ziele“ und des „Handelns“ der NPD angesichts des geringen Wählerzuspruchs in Frage:
„Die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) vertritt ein auf die Beseitigung der bestehenden freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerichtetes politisches Konzept. Sie will die bestehende Verfassungsordnung durch einen an der ethnisch definierten ,Volksgemeinschaft´ ausgerichteten autoritären Nationalstaat ersetzen. Ihr politisches Konzept missachtet die Menschenwürde und ist mit dem Demokratieprinzip unvereinbar. Die NPD arbeitet auch planvoll und mit hinreichender Intensität auf die Erreichung ihrer gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten Ziele hin. Allerdings fehlt es (derzeit) an konkreten Anhaltspunkten von Gewicht, die es möglich erscheinen lassen, dass dieses Handeln zum Erfolg führt, weshalb der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts den zulässigen Antrag des Bundesrats auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit und Auflösung der NPD und ihrer Unterorganisationen (Art. 21 Abs. 2 GG) mit heute verkündetem Urteil einstimmig als unbegründet zurückgewiesen hat.“
(Quelle: Bundesverfassungsgericht)
Interessant ist also die Begründung des Bundesverfassungsgerichts: Nicht die tatsächlich festgestellten verfassungswidrigen „Ziele“ und das damit einhergehende „Handeln“, sondern vielmehr deren wenig realistische Umsetzung aufgrund des geringen Wählerzuspruchs wurden als Entscheidungskriterium seitens des Bundesverfassungsgerichts herangezogen. Ich finde dieses Entscheidungskriterium – also die Realisierbarkeit verfassungswidriger „Ziele“ und deren Handlungen und nicht diese beiden Merkmale als solches – merkwürdig, wäre es doch naheliegender gewesen, sich am Wortlaut des Grundgesetzes (Artikel 21 Abs. 2) zum Verbot zu orientieren. Denn dann wäre auch das Verbot der rassistischen NPD unausweichlich gewesen.
Hinzu kommt: Es entsteht mit dieser Entscheidung und vielmehr noch mit der Begründung des Bundesverfassungsgerichts aber noch ein ganz anderes Problem, nämlich ein mindestens demokratietheoretisches Dilemma: Die NPD wurde also nicht verboten, denn ihr Wählerzuspruch sei zu unbedeutend, als dass sie eine Gefahr für die „freiheitlich demokratische Grundordnung“ darstellte. Wenn nun aber im logischen Umkehrschluss eine Partei, die die Kriterien der Verfassungswidrigkeit – festgestellt durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts – erfüllt und zugleich über einen massiven Wählerzuspruch – sowohl in Prognosen als auch tatsächlich in Wählerstimmen – verfügt, verboten wird, da die „konkreten Anhaltspunkte von Gewicht“ vorhanden sind, „die es möglich erscheinen lassen, dass dieses „Handeln“ zum Erfolg führt“, führt dies zu einer Kollision von Artikeln des Grundgesetzes. Denn Artikel 20 Abs. 2 Grundgesetz legt fest: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ In dieser Formulierung wird in der Logik des Begriffs Demokratie (Volksherrschaft) das Volk als Inhaber der Souveränität (Volkssouveränität) genannt. Volkssouveränität ist für eine Demokratie also das konstitutive Merkmal. Die drei „besonderen Organe“ – die Legislative, die Exekutive sowie die Judikative – üben diese Staatsgewalt stellvertretend für das Volk aus. Und hier kollidieren unter staatsrechtsphilosophischem und politisch-ideengeschichtlichem Gesichtspunkt das Entscheidungskriterium des Bundesverfassungsgerichtes im Hinblick auf das NPD-Urteil mit dem Verfassungsgrundsatz der Volkssouveränität: Wenn ein Volk, das einzig und allein den Souverän darstellt, in erheblichem Ausmaß eine Partei wählt und diese Partei anschließend durch ein besonderes Organ (Judikative, hier das Bundesverfassungsgericht), welches die Staatsgewalt stellvertretend für das Volk ausübt, verbietet, entsteht unweigerlich mindestens ein staatsrechtsphilosophischer Widerspruch. Mit anderen Worten: Das NPD-Urteil und seine Begründung des Bundesverfassungsgerichtes haben seinerzeit ein Dilemma geschaffen, das nun an Aktualität gewinnt:
Im Gegensatz zur NPD verfügt die AfD nämlich über signifikante Wahlerfolge und noch bessere Prognosen: Sie ist nach jetzigem Stand die größte Oppositionsfraktion im Deutschen Bundestag und laut neuesten Umfragen die führende Partei in Deutschland. Das Entscheidungskriterium des mangelnden Wählerzuspruchs für das NPD-Urteil führt mit Blick auf die AfD nun zu erheblichen Problemen – kommt doch hier das demokratietheoretische Dilemma zum Tragen. Denn sollte ein Verbotsantrag dem Bundesverfassungsgericht vorliegen, müsste dieses zunächst tatsächlich den Nachweis der Verfassungswidrigkeit der AfD erbringen. Wäre dieser tatsächlich erbracht, so würde es für ein Verbot ausreichen. Da aber das Bundesverfassungsgericht im NPD-Urteil die realistische Umsetzung, also den geringen Wählerzuspruch zum Entscheidungskriterium und nicht die Verfassungswidrigkeit der „Ziele“ und des „Handelns“ der NPD also solches erhoben hat, könnte sich die AfD genau darauf berufen: Wieso spielten bei der NPD die verfassungswidrige Zielsetzung und das entsprechende „Handeln“ keine entscheidende Rolle bei der Urteilsfindung, bei der AfD aber schon, so die saloppe Fragestellung. In der Logik der Argumentation zum NPD-Urteil würde das Bundesverfassungsgericht dann entgegnen, die NPD spiele keine Rolle im politischen Parteienspektrum, stelle sodann keine Gefahr dar, weshalb ein Verbot abgelehnt wurde. Die AfD könnte dann eben mit dem demokratietheoretischen Dilemma kontern; ein Argument, das tatsächlich schwer wiegt.
In der Endphase des letzten Deutschen Bundestages (2021 – 2025) gab es dieses bereits und scheiterte angesichts unzureichender Unterstützer auch der Versuch, einen Überprüfungs- und Verbotsantrag gegen die AfD im Parlament einzubringen, um diesen dann dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen. Die Kontroverse im Parlament war ähnlich wie auch seinerzeit mit Blick auf die damals verbotenen Parteien, die SRP und die KPD: Sollten verfassungsrechtlich fragwürdige Parteien im Sinne der „wehrhaften Demokratie“ verboten werden und somit möglicherweise nur ein Symptom bekämpft werden, oder sollten solche Parteien vielmehr politisch bekämpft werden, d.h. durch politische Angebote, die dem Wähler interessanter erscheinen als die Angebote der potenziell zu verbietenden Parteien – also die Ursache des politischen Problems angehen. Auch diese Kontroverse wird im Stillen wieder geführt – was ist das bessere Konzept, um die AfD unschädlich zu machen?
Exkurs Ende
AfD – juristische Bekämpfung?
Ob der Versuch, der AfD eine Verfassungswidrigkeit überzeugend nachzuweisen, von Erfolg gekrönt sein dürfte oder nicht, vermag ich nicht zu beurteilen. Was aber sicherlich diskutiert wird und diskutiert werden muss, ist: Kann ein solches Verbot angesichts des hohen Wählerzuspruchs der AfD unter dem Aspekt der Demokratie, wie oben ausgeführt, tatsächlich ernsthaft in Betracht gezogen werden? Würde angesichts einer solchen Entscheidung das Vertrauen in die Demokratie nicht massiven Schaden nehmen? Läuft das Konzept der „wehrhaften Demokratie“ unter Umständen, d.h. je nach Umfang und Intensität seiner Anwendung, nicht selbst Gefahr, die Demokratie zu gefährden, da die AfD, wie bereits ausgeführt, einen hohen Wähleranteil zu verzeichnen hat? Kurzum: Es könnte die Gefahr entstehen, die Demokratie und die Meinungsfreiheit zu Tode zu schützen.
Das Verbot der Kandidatur des rechtsgerichteten Kandidaten in Rumänien könnte ein Vorgeschmack, ein Präzedenzfall in EU-Europa sein. Ein Verbot der AfD jedoch würde noch viel größere Wellen schlagen – nicht nur eine Person, sondern eine ganze Partei zu verbieten, und das im bevölkerungsreichsten und wohl mächtigsten EU-Mitgliedsland. Hinzu kommt: Die AfD genießt nicht nur bei den deutschen Wählern wachsende Sympathien. Auch hat die AfD einen sehr mächtigen Verbündeten: die Trump-Administration. Die Aussagen und Warnungen zur Demokratie und Meinungsfreiheit in EU-Europa des US-Vize-Präsidenten J. D. Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz waren mehr als eindeutig:
„Die Bedrohung, die mich in Bezug auf Europa jedoch am meisten besorgt, ist nicht Russland, nicht China, nicht irgendein anderer Akteur. Was mich besorgt, ist die Bedrohung von innen. (…) Ich war erstaunt, dass ein ehemaliger EU-Kommissar kürzlich im Fernsehen auftrat und begeistert klang, dass die rumänische Regierung gerade eine ganze Wahl annulliert hatte. Er warnte, dass, wenn die Dinge nicht nach Plan laufen, genau dasselbe auch in Deutschland passieren könnte.“
Würde die US-Administration ein Verbot der AfD akzeptieren, oder würde Deutschland einem US-Sanktionssturm ausgesetzt werden? Und was, wenn ein Verbotsantrag vor dem Bundesverfassungsgericht letztlich scheitern würde? Dies stellte einen massiven Reputationsgewinn für die AfD dar. So viele Sektkorken, die die AfD dann knallen ließe, müssten erstmal hergestellt werden.
Es wird deutlich, dass eine juristische Einhegung, also ein Verbot der AfD, sehr viele Unwägbarkeiten und Gefahren birgt. Zumal die politischen Probleme und Herausforderungen wie die innere Sicherheit, Sozial- und Friedenspolitik sowie auch die Migrationsfrage, welche die Menschen laut Umfragen als prioritär betrachten, die von den Parteien der politischen Mitte bislang nicht ausreichend behandelt werden und auf die die AfD jedoch Antworten verspricht, mit einem Verbot der Partei ja nicht vom Tisch sind.
AfD – politisch bekämpfen oder einhegen?
Es gibt grob gesehen zwei Szenarien: Entweder die AfD politisch bekämpfen oder versuchen, sie in einer Koalition einzuhegen:
- Szenario: Die Parteien der politischen Mitte justieren ihren politischen Kompass neu. Das heißt innen- wie auch außenpolitische Realpolitik, statt postmateriellen Ideologien nach innen zu frönen und Konfrontationspolitik nach außen zu betreiben. Das bisherige politische Verständnis adressiert immer weniger die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung, sondern dient einem selbstgerechten und gesinnungsethischen Weltbild der politischen und medialen Eliten. Das einigende Band der steten Konsensbildung zwischen Regierenden und Regierten – also die demokratische Legitimation – droht zunehmend zu erodieren. Schaut man sich den Koalitionsvertragsentwurf der Not-GroKo an, so ist es ein Dokument des „Weiter so“. Mit dem Begriff der „Not-GroKo“ unterstreiche ich den Charakter dieser schwarz-roten Koalition als Notkonstruktion: Sie ist der Versuch – und vielleicht auch der letzte erfolgreiche Versuch – im Rahmen der Brandmauer, die AfD weiterhin von den Schalthebeln der Macht fernzuhalten. Aber die dokumentierte Nichtbereitschaft, sich den realpolitischen Herausforderungen zu stellen, stärkt die AfD immer weiter – es ist nicht die Stärke der AfD, sondern das Unvermögen der anderen Parteien, welches die AfD nährt.
Vorgezogene Neuwahlen werden die Parteien der politischen Mitte angesichts der wachsenden Stärke der AfD tunlichst vermeiden. Die Not-GroKo wird keinen Befreiungsschlag darstellen, sondern eher einen Abgesang. Einen ersten Eindruck politischer Kunst konnten die Wähler dieses Landes bereits wenige Tage nach der Wahl von der künftigen Not-GroKo gewinnen:
Die größte Wahllüge in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland:
Eine noch nicht existierende Regierung (die noch geschäftsführende Regierung unter dem wenig charismatischen Olaf Scholz ist seit dem 23. Februar ab 18:01 Uhr nicht mehr sichtbar) beschließt unter Führung eines noch nicht gewählten Kanzlers und eines abgewählten Bundestages eine Grundgesetzänderung, um die größte Verschuldungsorgie der Nachkriegsgeschichte Deutschlands zu ermöglichen, damit der Kanzlerkandidat auch tatsächlich Kanzler werden kann. Dass es Friedrich Merz schafft, bereits an Zustimmung zu verlieren und seine Union in Umfragen hinter die AfD zu positionieren, bevor er überhaupt Kanzler und seine Regierung im Amt ist, ist schon eine bemerkenswerte Leistung. Ob die Not-GroKo in dieser Form überhaupt die reguläre vierjährige Wahlperiode übersteht, wage ich zu bezweifeln.
- Szenario: Die Union steigt aus der Not-GroKo aus und versucht, unter Vermeidung von Neuwahlen die AfD über eine schwarz-blaue Koalition einzubinden.
Bei diesem Szenario ergeben sich eine Vielzahl von Fragen: Wann müsste die Union den Zeitpunkt des Bruchs der Not-GroKo wählen, um schwarz-blau und nicht plötzlich mit einem blau-schwarzen Konstellationsszenario durch Neuwahlen konfrontiert zu werden? Ist der Zeitpunkt bereits verpasst angesichts des höheren Wählerzuspruchs für die AfD – glaubt man den Meinungsumfragen –, so wären Neuwahlen nach derzeitigem Stand für die Union nachteilig. Denn es schaut so aus, dass die Zeit derweil für die AfD arbeitet. Wird sich die Not-GroKo in den Umfragen wieder stabilisieren? Wenn ja, könnte die Union die Wahlperiode aussitzen. Wenn die Not-GroKo indes weiter an Zuspruch verliert, werden Unmut und Panik in der Union wachsen. Die Forderungen nach einer Beendigung dieser Not-GroKo werden unüberhörbar. Friedrich Merz wird angesichts seiner, die CDU tatsächlich deformierenden, Konzessionen an die SPD an Rückhalt verlieren – sein Kanzlerstuhl beginnt zu wackeln. Vorgezogene Neuwahlen angesichts einer in Wählerumfragen stärkeren AfD wären keine gangbare Option für die Union, da diese Koalition eine blau-schwarze wäre, mit einem AfD-Kanzler. Daher müsste eine Koalition, also eine schwarz-blaue Koalition, noch in der laufenden Wahlperiode zusammengeschustert werden. Nur, wer würde es in der Union letztlich wagen, den Bruch der Not-GroKo öffentlich anzukündigen und sich als Königsmörder zu profilieren? Hier könnte der wohl künftige Fraktionsvorsitzende der Union im neuen Deutschen Bundestag die zentrale Figur sein: Jens Spahn. Der Fraktionsvorsitz ist das mächtigste Amt in einer Fraktion. Wenn ihm die Fraktion weitestgehend folgt, was zur Ausführung des Amtes immanent ist, würde Jens Spahn die Politik im Kanzleramt entscheidend mitbestimmen und wäre somit faktisch der inoffizielle Vizekanzler – und „natürliche“ Nachfolger von Friedrich Merz.
Nicht nur, dass Spahn dem konservativen Flügel zuzurechnen ist. Auch gewisse Andeutungen in Richtung einer wie auch immer zu verstehenden „Normalisierung“ („mit der AfD sei umzugehen ,wie mit jeder anderen Oppositionspartei auch‘“) sind zu vernehmen, zunächst einmal in Bezug auf den Umgang mit der AfD im Bundestag im Hinblick auf die Verteilung der Ausschussvorsitzendenposten. Zeit Online schlägt bereits Alarm: Mit dem Titel „Die Methode Spahn“ schreibt das Massenmedium: „Hinter Jens Spahns Äußerungen zur AfD steckt System. Wohldosiert rückt er die Union nach rechts. Jetzt könnte er Fraktionschef werden – eine gefährliche Wahl“.
Und hier kommen nun wieder die USA ins Spiel: Der frühere US-Botschafter in Berlin, Richard Grenell, soll ein freundschaftliches Verhältnis mit Jens Spahn pflegen, so die Welt in einem Beitrag mit dem Titel „Richard Grenell – Trumps Mann für Deutschland – ein Fan von Spahn und Kurz“. Grenell war US-Botschafter in der ersten Amtszeit Donald Trumps. Nun ist er ein Sonderbeauftragter des US-Präsidenten. Und hier könnte sich der Kreis oder besser gesagt das Beziehungsdreieck schließen: Die Trump-Administration scheint in der AfD einen ideologischen Partner zu sehen. Das Musk-Weidel-Interview vor wenigen Monaten hat die gegenseitige Sympathie offenkundig werden lassen. Die AfD hat in Donald Trump einen starken Verbündeten. Der US-Sonderbeauftragte Richard Grenell, befreundet mit dem künftigen Fraktionsvorsitzende der Union, Jens Spahn, und die Sympathien der Trump-Administration für die AfD könnten ein Beziehungsdreieck darstellen, welches eine Koalition zwischen der Union und der AfD in den nächsten Jahren einfädeln könnte.
Von den beiden dargestellten Szenarien – die AfD politisch durch eine „neue Politik“ zu bekämpfen oder diese durch eine Annäherung an die AfD einzuhegen – vermute ich die versuchte Umsetzung des zweiten Szenarios. Ob die AfD dabei jedoch eingehegt werden kann, bleibt abzuwarten. Jedenfalls wird das Konstrukt der „Brandmauer“ durchlässig werden, da die bisherigen politischen Angebote der Parteien der Mitte die Bevölkerung immer weniger zufriedenstellen und somit die Konsensbildung zwischen Regierenden und Regierten bereits sichtbar erodiert.
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