Der „Friedensberichterstatter“ und Songpoet Tino Eisbrenner ist nun auch in Russland auf Russisch zu lesen. Sein neues Buch „Schurawli“ stellte er in Moskau am Rande der Feierlichkeiten zum 80. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland vor. Wir begleiteten ihn auf seiner Reise und sprachen mit dem Songpoeten bei einem schmackhaften Borschtsch im GUM, dem berühmten Einkaufszentrum der Sowjetzeit, mit Blick auf den Roten Platz. Bemerkenswert ist, dass dieses Jahr im Mai mehrere Gruppen aus Deutschland nach Moskau reisten. Viele von ihnen suchten einfach eine ungestörte Möglichkeit, den Jahrestag gemeinsam mit Russen zu feiern – etwas, das in Deutschland heute unmöglich scheint. Das Gespräch mit Tino Eisbrenner führte Éva Péli.
Éva Péli: Herr Eisbrenner, Sie haben am 7. Mai in Moskau bei der Nachrichtenagentur TASS Ihr russisches Buch „Schurawli“, auf Deutsch „Kraniche“, vorgestellt. Wie kommt ein Deutscher dazu, in Moskau ein russisches Buch zu veröffentlichen?
Tino Eisbrenner: Das hat etwas mit meiner Biografie zu tun: Ich bin 1962 in der DDR geboren und sicher eine Art Prototyp eines DDR-Geborenen. Dazu gehört die Erfahrung, zwei Gesellschaftsordnungen kennengelernt zu haben. Schulbildung, Abitur, Armeezeit in der DDR, und dann bin ich mit meiner Band Jessica zu einem Rock-Pop-Star geworden, mit vielen und sehr großen Konzerten. Damit war 1990 plötzlich Schluss. Die Kultur der DDR war über Nacht unerwünscht und sogar störend.

Natürlich war ich auch mit der Kultur und der Politik der damaligen Sowjetunion sozialisiert worden – mit der Idee vom Sozialismus. Und all das ergab, dass ich seit 1990 eine große Skepsis gegenüber der Gesellschaftsordnung, in der ich fortan lebte, mitbringe und die Dinge immer sehr kritisch betrachte. Das hatte ich zwar vor 1990 auch schon getan, aber jetzt haben sich viele Sachen, die man mir in der Schule beigebracht hat, irgendwie bewahrheitet.
Ab 2010 habe ich das Gefühl gehabt, dass man in Deutschland wieder zu einer Russophobie zurückkehrt, gegen die ich gerne etwas unternehmen wollte. Wobei es die Russophobie nicht innerhalb des Volkes ist, sondern innerhalb der Politik. Die Menschen in Deutschland waren eher uninteressiert, auch auf dem Gebiet der früheren DDR. Russland spielte keine große Rolle mehr für den Alltag der Menschen. Alle waren unterwegs auf dem American Way of Life. Und so konnte sich politisch die Russophobie nach und nach einschleichen. Dagegen wollte ich künstlerisch etwas tun. Ich hatte vor 1990 oft in der Sowjetunion Konzerte gegeben, und das habe ich dann wieder begonnen. Im Jahr 2015 ging es los. Ich habe von Anfang an meine Erlebnisse auf den Reisen durch Russland, durch Weißrussland, auf der Krim, in Georgien aufgeschrieben, habe Tagebuch geführt, um ein Buch darüber zu schreiben und meinen deutschen Freunden, meinen Sympathisanten von der russischen Seele zu erzählen. Daraus entstand das Buch „Das Lied vom Frieden“.
Sie sangen das Lied „Schurawli“ (Kraniche) auch im Pressezentrum von TASS auf Wunsch der Moderatorin, zusammen mit dem diesjährigen Bronzepreisträger des Wettbewerbs „Doroga na Jaltu“, Emmanuel Forest aus Frankreich. Es war ein herzergreifender Moment. Was hat es mit diesem Lied auf sich?
Im Jahr 2023 habe ich mich beim Festival „Doroga na Jaltu“ (Deutsch „Weg nach Jalta“) beworben, bei dem internationale Teilnehmer in ihrer Sprache russische beziehungsweise sowjetische Lieder des Großen Vaterländischen Krieges singen. Da habe ich mich beworben als Deutscher, weil ich fand, gerade bei diesen Themen müssen Deutsche teilnehmen, um die Völkerverständigung zu unterstützen. Wir haben damals mit der Festivalleitung zusammen über die Lieder beraten, die dort für mich in Frage kämen, und wir kamen auf „Schurawli“, dieses wunderbare große Friedenslied, was man an allen Orten der Welt singen kann und das überall verstanden wird, weil es einfach eine friedliche, humanistische, liebende Position hat.
Ich erinnere mich noch an den Augenblick im Finale, als ich dieses Lied mit der wunderschönen und wunderbaren Sängerin Zara gesungen habe. Zara sang die erste Strophe auf Russisch und ich die zweite Strophe auf Deutsch. Und als ich an den Bühnenrand ging, um meine deutsche Strophe zu singen, haben sich die 6.000 Gäste in dem Saal erhoben. Da wusste ich, dass meine Absicht, die Hand zu reichen als Deutscher, damit man in Russland auch andere Stimmen hört als nur die der deutschen Politiker, verstanden wurde; dass diese Hand erkannt worden ist und dass die Geste mir zurückgegeben wurde vom Publikum. Das waren sehr ergreifende Augenblicke.
Die Geschichte dieser Reise 2023 habe ich in einem zweiten Buch aufgeschrieben, das in Deutschland auch erschienen ist, und natürlich heißt es „Schurawli“. Darin berichte ich auch von den Reaktionen, die es dann in Deutschland auf den Sänger Tino Eisbrenner gab. Also sowohl die offiziellen Reaktionen von Medien oder Veranstaltern als auch die vom Publikum, von Menschen, die davon erfahren haben, dass ich diese Reise gemacht habe. Es sprach sich ja sehr schnell rum: Ein deutscher Sänger hat im Kreml gesungen.
Und da es natürlich auch russisches Publikum gibt in Deutschland, das bemerkt hat, dass es da einen deutschen Sänger gibt, der sich gegen Russophobie engagiert, haben wir beschlossen, dieses Buch auch auf Russisch zu veröffentlichen. Schon das erste Buch „Lied vom Frieden“ wurde ins Russische übersetzt und 2019 im deutschen Nora-Verlag veröffentlicht. Inzwischen wurde Nora an die BEBUG verkauft und dort nach 2023 die russische Version des Buches aus dem Sortiment genommen. Da haben wir beschlossen, wir fassen beide Bücher zusammen, bringen sie ins Russische und machen sie eben zu diesem Buch; und zwar deshalb, weil darin natürlich für die russischen Leser auch etwas über die deutsche Seele erzählt wird. Und vor allen Dingen wird auch über die Deutschen erzählt, die nicht russophob sind und die die Freundschaft zwischen unseren Völkern gerne pflegen möchten.
Wie oft sind Sie in Russland?
Ich bin ein-, zweimal im Jahr in Russland, manchmal auch dreimal. Ich arbeite natürlich vorwiegend in Deutschland. Das größte Publikum habe ich immer noch in Ostdeutschland, aber durch diese Friedensarbeit arbeite ich jetzt auch viel mehr im Westen von Deutschland, weil es auch dort viele Menschen gibt, die Angst vor der russlandfeindlichen deutschen Politik haben und sich über einen Künstler, der für sie spricht, für sie singt, freuen.
Ich habe zusammen mit Tobias Morgenstern, der fantastisch Akkordeon spielt, ein Puschkin-Programm entwickelt. Das sehe ich auch als Antwort auf abgerissene Puschkin-Denkmäler, nicht nur in der Ukraine, sondern auch in anderen Ländern. In Riga zum Beispiel, habe ich gehört, ist es auch passiert. Und wir haben gesagt, wir wollen Puschkin selbst zu Wort kommen lassen. Ich habe aus verschiedenen Gedichten auch Lieder gemacht, auf Deutsch natürlich. Mit diesem Programm haben wir mehr in Westdeutschland gespielt als in Ostdeutschland.
Sie haben 2024 vom Botschafter Russlands in Deutschland, Sergej Netschajew, die Puschkin-Medaille bekommen …
Die Puschkin-Medaille zu bekommen, das ist eine große kulturelle Auszeichnung. Aber in einer Zeit wie dieser hier ist es eben auch eine große kulturpolitische Auszeichnung und für mich eigentlich in erster Linie ein Zeichen dafür, dass meine Bemühungen, die Brücke zu bauen, von der russischen Seite auch verstanden und gewürdigt werden. Ich habe diese Medaille auch stellvertretend bekommen für die Menschen, die sich in Deutschland zur Wehr setzen und den friedlichen Gedanken auf die Straßen tragen. Ich trage ihn auf die Bühnen. Es gibt sehr viel Widerstand in Deutschland gegen eine russlandfeindliche Politik. Es geht quasi auch um poetischen Widerstand. Das ist kein leichter Weg.
Meine künstlerische Arbeit hat sich seit 2022 sehr stark verändert, weil zum Beispiel Veranstalter, mit denen ich 30 Jahre lang gut zusammengearbeitet habe, mich nun schneiden, weil ich die Verbindungen zu Russland aufrechterhalte. Andere nehmen Rücksicht auf die offizielle Linie, weil das Geld für die Kultureinrichtung zum Beispiel vom Senat kommt und befürchtet wird, dass es versiegt. Das hat meine Arbeit natürlich total verändert. Dann gibt es aber auch die anderen Veranstalter, die mich jetzt besonders buchen, weil sie sich selber engagieren wollen, und sie tun es durch die Stimme des Künstlers.
Vielleicht kommt mir zugute, dass ich kein Mensch bin, der sich schnell aus der Ruhe bringen lässt. Ich bin nicht cholerisch, ich flippe nicht aus, ich zeige keine Wut, sondern ich bin in der Lage, ruhig und balanciert zu formulieren, auch Menschen zuzuhören, die nicht meine Ansicht teilen. Und ich höre anderen Leuten so lange zu, wie mir nicht Dummheit von der anderen Seite entgegenbrüllt. Wenn da Interesse ist und Intelligenz, dann diskutiere ich mit jedem bis zum Morgengauen. Und das rechnen mir, glaube ich, auch viele Leute an, die gar nicht unbedingt meiner Meinung sind, aber doch respektieren, was ich da mache. Ich habe eigentlich gar keine Wahl, weil wenn das Herz sagt, dass richtig ist, was man tut, dann tut man es und man nimmt auch die Umwege, die man gehen muss, dafür in Kauf.
Sie haben die zunehmende Russophobie in Deutschland benannt. Wie beurteilen Sie die Entwicklung in Deutschland, auch in der Bevölkerung?
Es sind zwei Bewegungen. Die politische Entwicklung habe ich auch in einem Lied verarbeitet. Die Politik wird immer dreister, immer unverhohlener. Es werden Dinge formuliert, die dem Volk eigentlich nicht recht sein können. Zum Beispiel Deutschland kriegstüchtig machen zu wollen, oder dass Russland „immer unser Feind bleiben wird“. Oder dass wir mit Russland im Krieg seien, was die Außenministerin Baerbock mal von sich gegeben hat. Das sind Sätze, für die man auch in der BRD noch vor 30 Jahren des Amtes enthoben worden wäre. Das ist die eine Seite. Aber diese Sätze haben auch einen guten Aspekt. Diese Sätze dienen dazu, dass die Bevölkerung besser versteht, wen sie da vor sich hat, wer sie da vertritt. Und dadurch wird der Widerstand größer, der aktive und der passive Widerstand. Die Menschen verstehen jetzt, dass die Politik sie in etwas treibt, wo sie nicht hingetrieben werden wollen.
Aber das Problem in Deutschland ist, dass die Gesellschaft seit der Corona-Zeit zigfach gespalten worden ist. Die verschiedenen Gruppen haben ein Etikett bekommen: die einen als „Putin-Versteher“, die anderen als „Querdenker“, als „Aluhut-Träger“ oder als „Corona-Leugner“. Man ist links, man ist rechts. Überall sind jetzt Etiketten drauf. Das führt dazu, dass die Menschen nicht zu denen und nicht zu jenen gehören wollen und sich nicht einig werden. Die Aufgabe der Friedensbewegung im Moment ist, diese Gräben zuzumachen und einfach sich auch darüber hinwegzusetzen. Ich habe am Karfreitag in Deutschland in Dresden bei einer sehr großen Kundgebung gesungen. Hinterher hieß es, da seien auch Rechte dabei gewesen, und deshalb wollen Leute von der Linkspartei plötzlich nicht mehr mit mir arbeiten. Dann stellt sich raus, die Presse hat hier gelogen und Sprecher aus dem rechten Spektrum auf unsere Bühne gedichtet, die gar nicht da waren.
Aber grundsätzlich argumentiere ich da auch gern mit meinem wahr gewordenen Schulstoff. Wir brauchen für unsere Forderung nach Friedenspolitik sogenannte Aktionseinheiten. So wie im Februar 2002, als mehr als eine halbe Million Leute in Berlin gegen Deutschlands Beteiligung an der Invasion im Irak demonstriert haben. Ich habe dort damals auch gesungen und niemand hat danach gefragt, wer sein Nebenmann ist und was der sonst so denkt! Es ging um nichts als Frieden. Das ist eine neue Aufgabe, die Kraft zu behalten und zu sagen: Wir gehören zusammen. Ich zitiere an der Stelle immer sehr gern Georgi Dimitroff, der gesagt hat: Für den Frieden würden wir uns auch mit dem Teufel verbünden.
Und auch meine Bücher in Deutschland oder jetzt in Russland sind auch ein Beitrag dazu, für die Menschen Völkerverbindung erlebbar zu machen. Ich erzähle zum Beispiel, wie man überhaupt nach Russland kommt. Vielen meiner Leser war vorher gar nicht klar, dass das geht. In diesem Jahr bin ich sogar mit einer Delegation von 40 Deutschen nach Moskau gekommen, die einfach sagten: Wir wollen am Tag des Sieges, zum 80. Jahrestag des Sieges über den Faschismus in Moskau sein. Vor zwei Jahren war ich hier noch der Einzige.
Welche Bedeutung hat für Sie als deutscher Künstler der 9. Mai, der 80. Jahrestag des Sieges über den Faschismus?
Wir haben in der DDR als Kinder immer den 8. Mai gefeiert, als den „Tag der Befreiung“. Nicht als „Tag des Sieges“, nicht als „Tag der Kapitulation“. Der Unterschied zwischen 8. und 9. Mai kommt ja nur dadurch zustande, dass die Nachricht der Kapitulation in Moskau so spät ankam, dass Stalin dann den 9. Mai als den Tag des Sieges erklärt hat. Aber eigentlich hatte die deutsche Kapitulation am 8. Mai stattgefunden. Der Begriff „Tag der Befreiung“ war also für mich der prägende Begriff, die Befreiung vom Hitlerfaschismus, die Befreiung von Krieg. Mein Vater ist noch mitten im Krieg geboren, meine Mutter dann kurz vor Kriegsende, das heißt, sie haben erlebt, was es bedeutet, als sogenannte Kriegskinder an Hunger zu leiden. Sie haben nach dem Krieg die Hilfe der sowjetischen Soldaten erlebt. Alles, was daraus entstand, war in meiner Kindheit immer positiv besetzt. Die Beziehung zu sowjetischen Soldaten ist bei mir von der Wiege an positiv besetzt, und das hat sich bis heute nicht verändert.
Der Tag des Sieges muss meiner Meinung nach immer wieder begangen werden, weil er auch zur Erinnerungskultur gehört. Wir erleben gerade besonders in Deutschland, dass die Erinnerungskultur kastriert werden soll. Wir hatten jetzt ein paar sehr peinliche Momente im Zusammenhang mit den Feierlichkeiten zum 9. Mai in Deutschland, sehr peinliche Momente. Damit meine ich, dass die deutsche Politik zwar noch nicht an dem Punkt ist, wo sie die Feierlichkeiten zum 8./9. Mai aussetzt. Aber sie ist an dem Punkt, wo die russischen Teilnehmer diskriminiert werden, wo der russische Botschafter nicht eingeladen wird, ihm unterschwellig sogar gedroht wird, wenn er doch kommt, dann würde ihn die Polizei wegführen. Dann kommt er trotzdem und man stellt ihn in die letzte Reihe. Das sind alles so peinliche und entlarvende Momente, die zeigen, wohin die deutsche Politik gerade steuert.
Das, was wir in Deutschland erleben, wird begründet mit den Ereignissen in der Ukraine. Dort sterben auch Soldaten, die auch zu „Schurawli“ werden. Bei einer Veranstaltung in Moskau am 6. Mai hat der russische Generalmajor a. D. Juri A. Djakow gesagt, Russland führe keinen Krieg gegen die Ukraine, sondern gegen den ukrainischen Nazismus. Wie sehen Sie das Geschehen in der Ukraine?
Da muss ich ein bisschen ausholen, der Krieg in der Ukraine hat ja eine Vorgeschichte. In Deutschland muss man das immer wieder erklären. Oft ist zu hören: Putin hat ja nicht verhandelt. Und ich antworte dann immer: Putins Verhandlungsergebnis war das Minsk-2-Abkommen. Deutschland, Frankreich und Russland waren die Bürgen dieses Abkommens. Ich versuche immer wieder, zu erklären, was tun denn Bürgen? Der Bürge steht ein für das, was eigentlich im Vertrag verabredet ist, wenn die Vertragsverabredungen nicht eingehalten werden.
Da kam dann der erste entlarvende Moment: Russland hat diese Operationen begonnen und stand vor dem Toren Kiews. Und die Franzosen und Deutschen, statt das zu unterstützen, haben sogar das Gegenteil getan. Sie haben es torpediert. Ich bin der Überzeugung, als im Frühjahr 2022, nach den ersten Schritten dieser russischen Operation, die unterschriftsreife Verhandlungslösung wiederum auf dem Tisch lag, hätten Deutschland, Frankreich oder der Westen die Pflicht gehabt, die Durchsetzung von Minsk-2 zu unterstützen. Aber sie haben sofort Milliarden ausgegeben, damit Minsk-2 eben von Kiew nicht eingehalten wird. Also kein Frieden im Donbass und weitere Eskalation. Das hat diesen Krieg erst zu einem Krieg außerhalb der Donbassregion werden lassen.
Frau Merkel hat ja dann in deutschen Zeitungen sogar gesagt, das Minsk-2-Abkommen war eigentlich nur ein Ablenkungsmanöver, damit die Ukraine Zeit hat aufzurüsten. Das heißt, Krieg war Absicht. Es sollte zu diesem Krieg kommen, und wie auch immer man das findet, dass Russland in diese Falle getappt ist, Fakt ist, dass Russland nicht der Verursacher dieses Krieges ist und auch Deutschland, Frankreich, der Westen einen gehörigen Beitrag dazu geleistet haben und immer noch leisten und noch mehr leisten wollen, dass dieser Krieg weitergeht.
Hinzu kommt die Doppelmoral, die ich nicht akzeptieren kann, die auch meine Künstlerseele nicht akzeptieren kann, Dinge zu verurteilen oder auf der anderen Seite zu hofieren. Die USA haben seit 1945 etwa 30 Kriege geführt in der Welt, und kein Land, mit dem sie Krieg geführt haben, war jemals so verknüpft mit den USA, wie die Ukraine und Russland es miteinander sind. Nie haben Vietnam, Irak, Afghanistan oder andere zu den USA gehört, wie die Ukraine und Russland zusammengehörten, in der Sprache, der Kultur, den familiären Bindungen, den Wirtschaftsstrukturen. Das muss man im Kopf haben, wenn man die Motivationen Russlands vollständig begreifen will, in der Ukraine eine Klärung herbeizuführen.
Von Deutschland gab es obendrein niemals die gleiche Bewertung dieser über 30 US-amerikanischen Kriege wie zu dem ukrainisch-russischen Krieg. Niemals gab es Sanktionen gegen die USA, weil die gerade Krieg führen. Niemals gab es ein Bashing gegen deutsche Künstler, die nach USA gingen, im Gegenteil, die waren immer geadelt. Niemals gab es US-amerikanische Künstler, die nicht ins Land gelassen wurden, weil die USA Krieg führt. Niemals hat man irgendwelche US-amerikanischen Bücher aus den Bibliotheken genommen. Niemals hat man Denkmäler abgebaut von US-amerikanischen Bürgern, Künstlern, Politikern, weil die US-Amerikaner Krieg geführt haben.
Aber mit diesem einen Krieg, den Russland nach seinem Verständnis gerade für die Ukraine beziehungsweise gegen die ukrainische Politik führen muss, wird Russland von uns vollumfassend für schuldig erklärt, rauschartig sanktioniert, und obendrein erklärt, „Russland wird immer unser Feind sein“. Entlarvend! Diese Situation, die natürlich für Ukrainer, aber auch für Russen eine sehr schmerzhafte Situation ist, wird einerseits künstlich verlängert, indem man sie finanziert und gleichzeitig dafür benutzt, eine Moral zu vertreten, die man in anderen Kriegen niemals angewandt hat. Das ist für mich Doppelmoral und gerade deutscher Politik und Erinnerungskultur absolut unwürdig.
Was sind Ihre wichtigsten Eindrücke aus dieser Reise nach Moskau?
In erster Linie waren das die offenen Arme der Menschen vor Ort, die immer wieder beteuerten, dass sie das deutsche Volk von der deutschen Politik zu unterscheiden wüssten und uns herzlich aufnahmen. Natürlich schauen sie mit Sorge nach Deutschland, und man spürt das Trauma, das ihnen gerade in den Gedenktagen wieder vor Augen ist. Jede russische Familie trägt dieses Trauma, von Deutschen verursacht, mit sich. Und sie fragen sich angesichts deutscher Kriegslüsternheit, ob nun alles noch einmal losgeht. Sie haben den Deutschen verziehen und sind fassungslos, dass Deutschland seinerseits keinerlei Demut und Dankbarkeit zeigen zu wollen scheint.
Fidel Castro hat bereits 1992 gesagt: „Der nächste große Krieg in Europa wird ein Krieg zwischen Russland und dem Faschismus sein. Nur wird die westliche Welt diesen Faschismus als Demokratie bezeichnen.“ Dieser Krieg hat begonnen. Die Russen sind dieser Aufgabe müde, aber sie werden nicht nachgeben, schon weil es dabei auch um Millionen ihrer Landsleute und ihre Familien geht – darin sind sie unmissverständlich. Also sollten wir in unseren eigenen Ländern dafür sorgen, dass die Politik das tut, wofür sie erfunden und gewählt wurde – die Interessen des Volkes zu respektieren und zu vertreten sowie Schaden vom eigenen Volk abzuwenden. Die Völker haben nie Interesse an Krieg! Schon gar nicht, wenn er vor der eigenen Haustür zu detonieren droht.
Und das ist es, was sich eben die Friedensbewegten auch vor Augen führen müssen, um die Aktionseinheiten für Frieden bilden zu können. Wenn der Krieg weiter eskaliert, weil die EU ihn lieber weiter vergrößert, als ihn beenden zu helfen, wird er uns Deutsche wohl zuvorderst erfassen, denn er wird sich dorthin wenden, wo die Gefahrenquellen stationiert sind und von wo geliefert und bedient wird. Die Gräber, in denen wir dann liegen, werden keine Schilder enthalten, welcher politischen Richtung wir angehörten und ob wir, wenn wir links dachten, für die Linke, das BSW oder gar nicht stritten und ob wir bei der letzten Friedensdemo gefehlt haben, weil wir uns keine Kontaktschuld zu sonst irgendwem nachsagen lassen wollten. Keine Schilder. Nur eines wird dann klar sein, dass wir nicht viele genug waren, die Mächtigen in Deutschland zu einer Friedenspolitik zu zwingen.
Welche Botschaft bringen Sie aus Moskau zum 80. Jahrestag des Sieges mit nach Deutschland?
Ich glaube, diese Botschaften stecken in unserem Gespräch schon mannigfaltig drin. Ich kann dem nur hinzufügen: Gott bewahre uns davor, dass wir unseren Kindern die Erinnerungskultur austreiben und die deutsch-russische Geschichte verzerren und verdrehen lassen. Dies zu verhindern, laufen wir dem Zug schon hinterher. Wer Kinder in der Abiturstufe hat, weiß das. Wir haben also keine Sekunde zu verlieren, wenn wir die Weichen noch stellen wollen.
Titelbild: Éva Péli
„Liebe ohne Grenzen“ – ein deutsch-russisches „FriedensLiebeslied“
Tino Eisbrenner: „Wir brauchen eine ‚unidad popular‘, eine Volksfront“
Künstler als außerparlamentarische Opposition
Alle Brücken zu Russland sollen abgerissen werden: Auch der kulturelle Austausch