Seit vielen Monaten wird Serbien von störenden Protesten und Blockaden geplagt, die größtenteils von Studenten ausgehen. Allerdings sind auch Oppositionsführer, Universitätsbehörden und externe Einflüsse involviert. Wo genau diese Proteste ihren Ursprung haben und wohin sie führen, ist unklar. Hier ein Versuch, den Hintergrund zu erklären. Von Diana Johnstone, aus dem Englischen übersetzt von Susanne Hofmann.
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Serbien ist ein kleines Land, das früher aufgrund seines heldenhaften Widerstandes gegen den österreichischen und deutschen Einmarsch in den beiden Weltkriegen ein Liebling der westlichen Alliierten wie Frankreich und England war. Sie mochten Serbien so gerne, dass sie es zum Königreich von Serben, Kroaten und Slowenen vergrößerten, als sie 1918 in Versailles die Grenzen verschoben. Später wurde daraus Jugoslawien. Einige serbische Politiker hielten dies damals für übertrieben, aber die kroatischen und slowenischen Staatschefs waren froh, das untergehende Habsburgerreich zu verlassen und sich auf die Siegerseite zu stellen.
All dies änderte sich schlagartig in den 1990er-Jahren. Deutschland war wiedervereint und begann, sein bescheidenes außenpolitisches Auftreten der Nachkriegszeit abzulegen. Mit deutscher Unterstützung erklärten die jugoslawischen Teilrepubliken Slowenien und Kroatien ihre Unabhängigkeit, mit dem Ziel, dem Club der Reichen – der Europäischen Union – beizutreten. Diese Wende entband die beiden wohlhabendsten jugoslawischen Republiken der Verpflichtung, Entwicklungshilfe an ärmere Regionen wie Kosovo zu zahlen, und erlaubte ihnen stattdessen, Gelder aus der EU zu erhalten. Die Schuldenkrise der 1970er-Jahre hatte die Beziehungen zwischen den Republiken stark belastet.
Doch laut den Sezessionisten war ihre einzige Motivation, dem „serbischen Nationalismus“ zu entkommen. Ein großer Verfechter dieser Interpretation war der verstorbene Otto von Habsburg, ein einflussreiches Mitglied des Europäischen Parlaments. Als Thronfolger des Habsburgerreiches, das infolge des Ersten Weltkriegs zerfiel, hegte er selbstverständlich einen persönlichen Groll gegen Serbien.
Mit zunehmender Verwirrung und Gewalt beim Zerfall Jugoslawiens übernahmen westliche Medien und Regierungen enthusiastisch die habsburgische Sichtweise – nicht offen, sondern getarnt als Verteidigung westlicher Werte und des Selbstbestimmungsrechts. Die Medien gaben den Serben die Schuld an allem und zogen sofort den unvermeidlichen Hitler-Vergleich heran, um Serbiens in Bedrängnis geratenen Präsidenten Slobodan Milošević als „Diktator“ darzustellen. Seine verzweifelten Versuche, Jugoslawien zusammenzuhalten, verglich man mit dem groß angelegten Einmarsch des Dritten Reiches in ganz Europa. Das „heldenhafte kleine Serbien“ wurde zum Paria der westlichen Welt.
Ein Land im Schwebezustand
Das konkrete Ergebnis der NATO-Bombardierung von 1999 war die Umwandlung der „defensiven“ NATO in eine aggressive Streitmacht, welche die historische serbische Provinz Kosovo den bewaffneten ethnischen Albanern auslieferte und dort einen riesigen US-Militärstützpunkt errichtete. Es hätte etwas von einer Verschwörungstheorie, zu behaupten, dies sei das eigentliche Ziel der NATO-Bombardierung gewesen. Nein, offiziell ging es um das „Recht darauf, zu intervenieren“, wenn es um die Einhaltung der Menschenrechte ging, darum, die Kosovaren vor einem angeblichen Völkermord „zu retten“, der nie drohte. Das ist zumindest die Version, die im Westen ständig wiederholt wurde.
„NATO-Land“ und „westliche Werte“ dominieren heute nicht mehr die ganze Welt. Doch Serbien liegt geografisch und psychologisch im Westen. Serbien gehörte zu Jugoslawien – einem unabhängigen, blockfreien sozialistischen Land, das nicht dem sowjetischen Block angehörte. Doch die Serben verbindet mit Russland eine historisch gewachsene Freundschaft als Glaubensbrüder im orthodoxen Christentum, die bis in den serbischen Freiheitskampf gegen das Osmanische Reich zurückreicht. Die Serben sind hin- und hergerissen zwischen Ost und West – oder aber beiden zugehörig. Eigentlich wäre das Land in der perfekten Ausgangsposition, Ost und West zu verbinden. Genau das versucht die derzeitige Regierung unter Präsident Aleksandar Vučić umzusetzen.
Aufgrund seiner Geschichte und seiner natürlichen Neigung sollte Serbien eine Brücke zwischen Ost und West sein. Aleksandar Vučić wurde 2017 zum Präsidenten Serbiens gewählt, und seine Serbische Fortschrittspartei hat seither mehrere Wahlen mit deutlicher Mehrheit gewonnen. Seine wirtschaftspolitischen Maßnahmen haben eine schlechte Lage verbessert. Nachdem westliche Unternehmen serbische Industrien übernommen hatten, nur um sie anschließend stillzulegen, hat Vučić chinesische Investitionen willkommen geheißen, die Serbiens industrielle Produktion und den Bergbau wiederbeleben. Das Wirtschaftswachstum beschleunigte sich im Jahr 2024 auf komfortable 3,9 Prozent. Das Hochschulstudium ist für alle kostenlos, die die Aufnahmeprüfungen bestehen, und serbische Universitäten genießen international ein hohes Ansehen.
Im Gegensatz zu seinen Nachbarn bleiben die Serben in ihrem Heimatland, während viele andere auswandern. (Bosnien-Herzegowina hat die Hälfte seiner Bevölkerung durch Emigration verloren, das relativ wohlhabende Montenegro 24,4 Prozent, Nordmazedonien 31,6 Prozent, Serbien hingegen nur sieben Prozent – ein Hinweis darauf, dass die Lebensperspektiven dort vergleichsweise vielversprechend sind.)
Serbiens Beziehungen zu China sind seit Langem freundlich und wirtschaftlich vorteilhaft. Vučićs Außenpolitik versucht, ein Gleichgewicht zwischen Ost und West zu erreichen, doch die wachsenden Feindseligkeiten zwischen der EU und Russland machen dies immer schwieriger. Doch dieselben Vertreter eines westlichen Überlegenheitsdenkens, die der Ukraine ihre natürliche Brückenfunktion genommen haben, indem sie auf die ukrainische „NATO-Bestimmung“ beharrten, arbeiten nun daran, alle potenziellen Brücken zu Russland zu zerstören – sei es das ferne Georgien, Moldawien oder das nahe Serbien.
Als EU-Beitrittskandidat steht Serbien unter der ständigen Beobachtung, ob es sich wirtschaftlich und politisch an EU-Standards anpasst. Vučić hat indirekt Waffen an die Ukraine verkauft, weigert sich jedoch, Sanktionen gegen Russland zu verhängen. Immerhin versorgt Russland Serbien mit Gas. Er lehnt die EU-Forderung ab, die Unabhängigkeit des Kosovo anzuerkennen – eine Forderung, die kein serbischer Politiker erfüllen könnte, ohne sofort sein Amt zu verlieren. Dennoch betrachten ihn seine innenpolitischen Kritiker als nicht hart genug.
Vučić trotzte den Drohungen der EU, indem er am 9. Mai nach Moskau flog, um an den Feierlichkeiten zum 80. Jahrestag des Sieges über Nazideutschland teilzunehmen. Hätte er dies unterlassen, wäre er im eigenen Land als EU-Lakai heftig kritisiert worden. So aber können seine Gegner ihn zu „Putins Marionette“ erklären.
Titos blockfreie Politik war ein großer Erfolg, und Vučić scheint sich daran zu orientieren. Doch sein Balanceakt macht ihn von beiden Seiten angreifbar.
Proteste gegen … was genau?
Merkwürdigerweise wird Serbien seit Monaten von massiven Studentenprotesten und Blockaden erschüttert, jedoch nicht wegen der Außenpolitik oder konkreter Regierungsmaßnahmen, sondern hauptsächlich als Reaktion auf tragische Ereignisse, die keine offensichtliche politische Bedeutung haben.
In Belgrad griff am 3. Mai 2023 ein 13-jähriger Junge, bewaffnet mit Pistolen und Molotowcocktails, seine Schule an. Er tötete acht Mitschüler und einen Sicherheitsbeamten. Der minderjährige Täter wurde schließlich in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, die Eltern wurden angeklagt.
Und nur einen Tag später, am Abend des 4. Mai, fuhr ein 20-jähriger Mann mit einem automatischen Sturmgewehr durch zwei Dörfer in Zentralserbien und eröffnete das Feuer. Er tötete neun Menschen und verletzte zwölf. Der Täter flüchtete, wurde jedoch gefasst und zu 20 Jahren Haft verurteilt.
Dies war ein Schock für ein Land, in dem Waffenbesitz zwar weit verbreitet, Schusswaffengewalt jedoch selten ist. In den folgenden Monaten kam es in den großen Städten zu großen Protestkundgebungen. Oppositionspolitiker gründeten die Bewegung „Serbien gegen Gewalt“, die Präsident Vučić beschuldigte, ein gesellschaftliches „Klima“ geschaffen zu haben, in dem es zu den Mordfällen kommen konnte. Das ist sicherlich übertrieben.
Tatsächlich ist die Polizeigewalt in Serbien vergleichsweise gering ausgeprägt, und Vučić kann kaum für die allgemeine gewaltbereite Stimmung verantwortlich gemacht werden, die heute weltweit vorherrscht. Premierministerin Ana Brnabić übertrieb möglicherweise ebenfalls, als sie behauptete, die Proteste seien „von ausländischen Geheimdiensten angeheizt“ worden.
Die Bewegung „Serbien gegen Gewalt“ erhielt bei den Parlamentswahlen am 17. Dezember 2023 24 Prozent der Stimmen – halb so viel wie die 48 Prozent, die das von Vučić unterstützte Regierungsbündnis erreichte. Im Februar 2024 reiste eine Delegation unter der Leitung von Marinika Tepić von „Serbien gegen Gewalt“ und Radomir Lazović von der „Serbischen Grünen-Links-Front“ nach Straßburg, um sich beim Europäischen Parlament über angeblich gestohlene Wahlen zu beschweren.
Das Europäische Parlament, das nur über wenig gesetzgeberische Macht verfügt, will sich vor allem dadurch Geltung verschaffen, dass es hochmoralische Resolutionen verabschiedet, die Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern verurteilen – oft auf Grundlage nicht überprüfter Beschwerden. Wie zu erwarten, verabschiedete das Parlament mit einer überwältigenden Mehrheit von 461 zu 52 Stimmen eine Resolution, die eine internationale Untersuchung zu „Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen“ forderte und mit dem Entzug von EU-Mitteln drohte. Der Hauptvorwurf war, dass Präsident Vučić durch seinen Wahlkampf die Wähler unfair beeinflusst habe. Marinika Tepić erklärte gegenüber Politico: „Wenn sich jetzt nichts ändert, gleiten wir völlig in eine Diktatur ab.“
Die Missionarsarbeit der EU
Die Proteste gegen die Anerkennung der Wahlen vom Dezember 2023 nahmen ein solches Ausmaß an, dass viele befürchteten, es könne zu einer Wiederholung der Maidan-Demonstrationen von 2014 kommen, die schließlich zum Krieg in der Ukraine führten. In Belgrad wurden die Studentenproteste von Pavle Cicvarić angeführt, der seine Organisationsfähigkeiten in zahlreichen Programmen und Workshops erworben hatte, finanziert von westlichen Stiftungen. Die Eltern des jungen Anführers engagieren sich beide stark in der NGO-Szene.
Seine Mutter, Dr. Jelena Žunić Cicvarić, ist Projektkoordinatorin der NGO „Regionales EU-Ressourcenzentrum für die Zivilgesellschaft in Serbien“, einer wichtigen Schnittstelle zur Verteilung von EU-Geldern – allerdings ausschließlich an Organisationen, die sich aktiv für die „europäischen Werte“ einsetzen. Sein Vater, Radovan Cicvarić, langjähriger Politiker mit Schwerpunkt Euro-Integration, fördert dieselben Werte als Direktor der NGO Užice-Zentrum für Kinderrechte (UCPD), gegründet 1998.
Während sich das UCPD auf Kinderrechte konzentriert, betreibt eine andere einflussreiche NGO – die Belgrade Open School (BOS), gegründet 1993 – Programme für Studenten und junge Berufstätige, darunter auch die „Ausbildung von Akteuren des sozialen Wandels“. Beide Organisationen sind Teil des Jugenddachverbands Serbiens, der beträchtliche finanzielle Mittel von internationalen Geldgebern wie USAID, der Open Society Foundation von George Soros und verschiedenen EU-Programmen erhält. Sie organisieren Workshops, Schulungen und Projekte, die darauf abzielen, lokale NGOs zu stärken und europäische Werte zu fördern.
Länder im „Übergang“, die der EU beitreten wollen, müssen sich darüber belehren lassen, wie sie würdige Europäer werden können. Diese erzieherische Aufgabe übernimmt unter anderem der Europäische Fonds für den Balkan (EFB), eine gemeinsame Initiative europäischer Stiftungen. Der EFB konzipiert, betreibt und unterstützt Initiativen zur Stärkung der Demokratie und Förderung der europäischen Integration. Bedeutend ist, dass der EFB das „Gemeinsame Geschichtsprojekt“ finanziert – mit Unterstützung des deutschen Auswärtigen Amts – mit dem Ziel, eine einheitliche Version der Regionalgeschichte zu entwickeln und zu verbreiten.
Die Balkan Trust for Democracy (BTD) ist eine Stiftung mit Sitz in Belgrad. Sie wurde im März 2003 vom German Marshall Fund, USAID und der Charles Stewart Mott Foundation gegründet. Weitere Geldgeber sind u. a. der Rockefeller Brothers Fund, die Robert Bosch Stiftung, das Außenministerium Schwedens, die Regierungen von Dänemark und Griechenland sowie diverse kleinere Stiftungen. Die BTD fördert Stipendienvergabe, den politischen Dialog und Nachwuchsführungskräfte.
Wer in Serbien eine politische oder gesellschaftliche Führungsrolle übernehmen will, weiß also, wohin er sich wenden muss. Es fällt schwer zu glauben, dass all diese westlich finanzierten Organisationen nicht zumindest teilweise zur Motivation und zum Geschick der serbischen Studentenproteste beigetragen haben.
Ein tödlicher Einsturz
Novi Sad ist die zweitgrößte Stadt Serbiens und ein wichtiger Halt auf der neuen Hochgeschwindigkeitszugstrecke zwischen Belgrad und Budapest, die mit chinesischer Hilfe neu gebaut wird. Im Zuge dieses Projekts wurde der 60 Jahre alte, modernistische Bahnhof von Novi Sad kürzlich renoviert. Dabei blieb auf der Eingangsseite ein langes Betondach bestehen. Am Morgen des 1. November 2024 stürzte dieses Betondach plötzlich ein und tötete insgesamt 16 Menschen. Die serbische Regierung rief einen landesweiten Trauertag aus. Mehrere Beamte traten zurück, darunter die serbische Bauministerin und der Bürgermeister von Novi Sad. Die Untersuchungen zur Ursache des Einsturzes dauern an.
Für die studentischen Aktivisten war der Vorfall ein klarer Beweis für Korruption – nicht nur beim Umbau des Bahnhofs, sondern in der gesamten Gesellschaft. Sie erklärten, was in Novi Sad geschehen sei, belege, dass Serbien von Kriminalität, Gewalt, Korruption und Verzweiflung überwältigt sei. Sie gaben sich selbst die Aufgabe, diese „unerträgliche gesellschaftliche Realität“ zu verändern und ein neues Serbien aufzubauen.
Die Bewegung scheint führerlos, organisiert sich über sogenannte Studentenplenen, in denen intern im Konsens entschieden wird, was als Nächstes zu tun ist. Sie haben Fakultäten und Schulen blockiert und monatelang den Unterricht behindert. Studenten, die weiter an Lehrveranstaltungen teilnehmen wollen, werden als Verräter behandelt. Selbst Krankenhäuser wurden blockiert.
Beobachter haben festgestellt, dass die aktivistischen Studierenden meist aus wohlhabenden Familien stammen, junge Menschen aus dem Arbeitermilieu beteiligen sich kaum. Es handelt sich um eine Revolte der Elite, die Gleichheit fordert.
Interessanterweise werden die die Straßen blockierenden Studenten von der Polizei geschützt. Die Regierung vermutet offenbar eine Provokation und meidet bewusst jede gewaltsame Repression – im Gegensatz zur Regierung von Emmanuel Macron in Frankreich, die bei den Gelbwesten-Protesten mit harter Hand vorging.
Übergang – wohin?
Die serbischen Studenten unter 26 Jahren waren noch nicht geboren, als die NATO Serbien bombardierte. Die Jugend in Serbien ist aufgewachsen zwischen den Narben dieser Bombardierung und der andauernden dominanten westlichen Sichtweise, nach der die Serben die Hauptschuldigen an der Zerstörung Jugoslawiens gewesen seien. Kein Wunder, dass das zu Verwirrung führt.
Es ist verständlich, dass ein Teil der städtischen bürgerlichen Jugend es als unerträglich empfindet, aufgrund von Serbiens Status als geächteter Staat vom „Westen“ ausgeschlossen zu sein. Junge Menschen können in ihrem Rebellionsdrang erstaunlich konformistisch sein. Sie streben danach, sich gemeinsam gegen die Ansichten ihrer Eltern zu stellen. So verworren der Westen auch ist – er versteht es nach wie vor besser als alle anderen, sich selbst als etwas Wunderbares zu verkaufen. Ein wesentlicher Mechanismus dabei ist das massive Netzwerk nichtstaatlicher Organisationen (NGOs).
Im April 2024 veröffentlichten EU-Rechnungsprüfer einen Bericht, in dem auf einen „Mangel an Transparenz“ bei der Vergabe von etwa 4,8 Milliarden Euro an rund 5.000 NGOs im Zeitraum 2021 bis 2023 hingewiesen wurde – zusätzlich zu den 2,6 Milliarden Euro, die einzelne EU-Mitgliedsstaaten an rund 7.500 NGOs aus EU-Fördermitteln vergeben hatten. Es ist unklar, welche Länder genau profitierten, doch Serbien wurde von der slowenischen EU-Kommissarin für Erweiterung, Marta Kos, namentlich erwähnt. In einem Interview mit dem slowenischen Fernsehsender RTV am 28. März erklärte Marta Kos, es sei „inakzeptabel“, wenn Präsident Vučić andeute, EU-finanzierte NGOs hätten die Studentenproteste mit dem Ziel unterstützt, ihn zu stürzen. Dennoch merkte sie an, sie stehe „in engerem Kontakt zu den NGOs, die ich in Brüssel getroffen habe, als zur serbischen Regierung oder ihrem Präsidenten.“
„Viele NGOs in Serbien würden ohne unsere Unterstützung nicht überleben, und gerade wegen ihrer außergewöhnlichen Bedeutung habe ich beschlossen, ihnen für den Zeitraum ab diesem Jahr bis Ende 2027 weitere 16 Millionen Euro bereitzustellen“, sagte sie. „Ohne die Beteiligung der Zivilgesellschaft kann es keinen Erweiterungsprozess geben.“ Sie fügte hinzu, sie vertraue darauf, dass das serbische Volk seine Politiker dazu bringen werde, den EU-Kurs einzuhalten, damit Serbien Mitglied der Union werde.
Marta Kos fühlt sich auch persönlich befähigt, Orientierungshilfe zu geben. Der serbische Politiker Aleksandar Vulin, ein prominenter Sozialist mit mehreren Ministerposten in der Vergangenheit, wurde auf ihr Drängen hin aus der neuen Regierung ausgeschlossen. „Ich hoffe, Herr Vulin wird kein Mitglied der neuen Regierung sein, denn wer sich anti-europäisch verhält, kann Serbien nicht in die EU führen“, sagte Kos. Und sie setzte sich durch.
Zu seinen „Vergehen“ gehört unter anderem, dass Vulin einen Beitritt Serbiens zu den BRICS-Staaten befürwortet hatte und ein Gesetz zur Offenlegung ausländischer NGO-Finanzierungen gefordert hatte. (Als Georgien ein solches Gesetz einführen wollte, versuchten die EU-Vertreter, dies mit aller Macht zu verhindern – ohne Erfolg.)
Vučić hingegen trotzte den finsteren Drohungen der EU und nahm an den Feierlichkeiten zum 9. Mai in Moskau teil, wo seine Delegation Gespräche mit Wladimir Putin führte. Er umflog die Baltischen Länder, die seinen Flug blockierten, und zeigte sich zusammen mit dem couragierten slowakischen Premierminister Robert Fico in Moskau. So gestaltet sich Vučićs politischer Balanceakt: In Brüssel wird er als „Putin-Vertrauter“ denunziert, während ihn die Opposition in Serbien beschuldigt, er beuge sich zu sehr den Forderungen der EU.
Die Studentenproteste – unabhängig oder gelenkt?
Die studentischen Proteste sind noch widersprüchlicher. Die Aktivisten wollen nicht, dass die Regierungsvorwürfe, sie würden von EU-NGOs gesteuert, an Glaubwürdigkeit gewinnen. Daher wurde die EU-Flagge bei den großen Demonstrationen stillschweigend verbannt – es wehen nur serbische Flaggen, als Zeichen angeblicher nationaler Unabhängigkeit.
Und doch geschah im Frühjahr 2025 etwas Bemerkenswertes: Eine Gruppe studentischer Demonstranten inszenierte sich öffentlichkeitswirksam, indem sie sich mit dem Fahrrad auf den Weg zu den EU-Institutionen machte, um ihre Beschwerden vorzubringen. Sie wurden herzlich empfangen – nicht etwa wegen konkreter Reformvorschläge, sondern weil sie darüber klagten, dass in Serbien alles absolut schrecklich sei.
Die führende serbische Tageszeitung Politika berichtete am 6. Mai, dass diese studentischen Blockierer im Zuschauerraum des Europäischen Parlaments saßen, wo sie kleinlaut einem Vortrag des kroatischen Nationalisten Steven Nikola Bartulica lauschten. Dieser erklärte ihnen, dass „europäische Werte“ auch bedeuteten, eine „Schuld für alles, was Serbien Kroatien angetan habe“, einzugestehen.
(Zum Hintergrund: Im Sommer 1995 vertrieb Kroatien etwa 200.000 Serben aus dem Krajina-Gebiet – die größte ethnische Säuberung der jugoslawischen Kriege.)
Bartulica behauptete, Serbien sei keine liberale Demokratie nach europäischem Vorbild und könne erst dann normalisiert werden, wenn es Wiedergutmachung an Kroatien zahle.
Mehrere Mitglieder des Europäischen Parlaments zeigten sich zufrieden darüber, dass sich die Studenten für „Europa“ und gegen Russland entschieden hätten. Sie forderten den Sturz von Präsident Vučić und dem slowakischen Premierminister Fico, weil diese nach Moskau gereist seien.
Im eigenen Land allerdings scheint die Protestbewegung an Schwung zu verlieren. Die Studenten haben aufgehört, alles und zwar sofort zu fordern, und sich stattdessen auf Neuwahlen als zentrales Ziel zurückgezogen.
Vučić nutzte den Rückenwind durch seinen Besuch in Moskau, wo seine Delegation intensive Gespräche mit Wladimir Putin geführt hatte, und hielt eine patriotische Kundgebung in der Stadt Niš ab. Dort erklärte er, die Forderungen der Studenten seien für ihn nicht mehr von Interesse: Er bezeichnete die Blockierer als laute Minderheit, die die Mehrheit der Bürger, die Frieden, Arbeit und Einheit wollen, terrorisiere. Dass sie plötzlich Neuwahlen forderten, zeige aus seiner Sicht, dass sie nur eine weitere Gelegenheit suchten, um gewaltsame Ausschreitungen anzuzetteln – denn Wahlen würden von der Opposition ohnehin immer als manipuliert betrachtet. Die Wahlen würden, ganz regulär, ohnehin in rund einem Jahr stattfinden.
Am 22. Mai besuchte Kaja Kallas, die estnische Politikerin, die von Ursula von der Leyen zur Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik ernannt wurde, Belgrad. Frau Kallas hat keinerlei diplomatische Erfahrung, ihre sichtbarsten Qualifikationen scheinen zu sein, dass sie jung ist, eine Frau und dass sie eine beispiellose Feindseligkeit gegenüber Russland vertritt.
In Belgrad kam es zu einem seltsamen Rollentausch: Die oberste EU-Diplomatin traf sich mit dem serbischen Präsidenten und Premierminister, um ihnen Anweisungen zu geben, und gleichzeitig mit Vertretern der Studentenproteste, um ihnen zuzuhören.
Sie lobte ihr Treffen mit den jungen Aktivisten und der „Zivilgesellschaft“:
„Ich habe ihren Appell und ihre Hoffnungen gehört – sie wollen Fairness und Verantwortung. Damit Serbien sein volles Potenzial entfalten kann. Ihre Energie ist nötig, um einen Weg zur Weiterentwicklung zu finden.“
Im Gegensatz dazu tadelte Kallas Präsident Vučić dafür, dass er Putin in Moskau getroffen hatte. Serbiens zukünftige EU-Mitgliedschaft, so betonte sie, hänge davon ab, dass das Land eine „strategische Entscheidung“ zwischen Ost und West treffe.
Russlands Präsident Wladimir Putin akzeptiert übrigens Vučićs Politik der Balance und hat nichts dagegen, wenn Serbien der EU beitritt. In einer multipolaren Weltordnung ist Vielfalt willkommen. Doch für den Westen gilt: „Du bist entweder mit uns oder gegen uns.“ Zwischen Ost und West dürfen keine Brücken bestehen.
Verwirrung und Angst
In Belgrad glauben manche, dass die Proteste nun auslaufen. Möglicherweise, doch in der Vergangenheit haben sie sich nach einer Pause immer wieder neu entzündet, ausgelöst durch irgendein Ereignis. Da die Ursachen der Proteste unklar sind, sind auch die möglichen Lösungen unklar. Der Psychiater und Publizist Dr. Dragan Pavlović stellt fest, dass die Proteste sich in „sehr allgemeinen Forderungen nach einem ‘besseren Leben’ äußern – was natürlich keine konkrete Grundlage bietet, um zu verstehen, was genau eigentlich gewollt wird oder was zur Beruhigung der Lage beitragen könnte.“
Solche Forderungen, meint er, können endlos weitergehen.
„Es handelt sich wahrscheinlich um eine inszenierte Massenhysterie, ausgelöst durch die nukleare Bedrohung, den Genozid in Gaza, die andauernde Krise im Kosovo und durch das Wirken nichtstaatlicher Organisationen“, vermutet er. Die Journalistin und Schriftstellerin Mara Knežević Kern hält es für unmöglich, diese unglaublichen Ereignisse zu durchschauen: „Ich glaube nicht, dass man diese neue Variante eines Angriffs auf den Staat beschreiben kann – so etwas hat es bisher nirgendwo anders gegeben.“ In den 1990er-Jahren diente Jugoslawien als ein Versuchslabor für sogenannte „Regimewechsel“. Viele befürchten, dass dies in Serbien nun wieder geschieht.
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