Streitende Oligarchen in den neokolonialisierten Philippinen und ihre katastrophale Unterwürfigkeit gegenüber Washington (I von II)

Streitende Oligarchen in den neokolonialisierten Philippinen und ihre katastrophale Unterwürfigkeit gegenüber Washington (I von II)

Streitende Oligarchen in den neokolonialisierten Philippinen und ihre katastrophale Unterwürfigkeit gegenüber Washington (I von II)

Ein Artikel von: Redaktion

Fantasie beseelt die Luft“ lautet das Ehrengastmotto der Philippinen auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse und will eine Brücke zur lebendigen kulturellen und literarischen Bandbreite des südostasiatischen Inselstaates bauen. Das klingt prosaisch und vielversprechend. Weniger gut ist es indes um die „große Politik“ dieses Landes bestellt. Wie nie zuvor in der Geschichte der am 4. Juli 1946 gegründeten Republik der Philippinen bekämpfen sich politische Clans und Familiendynastien bis aufs Messer. Selbst der amtierende Präsident Ferdinand „Bongbong“ Marcos, Jr. und seine Vizepräsidentin Sara Duterte, die Tochter seines Amtsvorgängers Rodrigo R. Duterte, sind sich spätestens seit der Jahreswende 2023/24 spinnefeind. Überdies sieht sich die Vizepräsidentin mit einem Amtsenthebungsverfahren konfrontiert – mit ungewissem Ausgang. Eine Analyse von Epifanio San Juan, Jr. Für die NachDenkSeiten besorgte unser Südostasienexperte Rainer Werning die redaktionelle deutsche Bearbeitung sowie die vom Autor autorisierte Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch.

Vorbemerkung

E. San Juan, Jr. (87) ist einer der bedeutendsten philippinisch-amerikanischen Intellektuellen und emeritierter Professor für Englisch, vergleichende Literaturwissenschaft sowie ethnische Studien an diversen Universitäten in den USA. Er war u.a. Stipendiat des W.E.B. Du Bois Institute an der Harvard University und Fulbright-Professor für Amerikastudien an der Universität Leuven (Belgien). Als Leiter des Philippines Cultural Studies Center in Storrs, Connecticut (USA) verfasste er zahlreiche Bücher – u.a. „US Imperialism and Revolution in the Philippines” und „From Globalization to National Liberation”. 1999 erhielt er den Centennial Award for Achievement in Literature vom Cultural Center of the Philippines für seine Beiträge zu philippinisch-amerikanischen Studien.

Die Erstveröffentlichung seines Beitrags erschien am 15. Juli 2025 im Online-Magazin CounterCurrents, das in Kumaranalloor, Kottayam District im indischen Bundesstaat Kerala herausgegeben wird. Die unwesentlich gekürzte Fassung des Originalbeitrags erscheint mit ausdrücklicher Genehmigung des Verfassers.

Der abschließende zweite Teil dieses Beitrags erscheint am 24. August 2025.

(Rainer Werning)

Nachdem er in Amerika gelebt hatte, fühlte sich Rudyard Kipling verpflichtet, Ratschläge zu geben, als 1898 mit dem Spanisch-Amerikanischen Krieg und der Eroberung der Philippinen die amerikanische Kolonialzeit begann. ‚Nehmt die Last des weißen Mannes auf euch, die wilden Kriege des Friedens.‘ Die Kriege des Friedens begannen fast sofort mit dem Aufstand in den Philippinen – einem langen, frustrierenden Kampf. Aber der wirklich wilde Krieg kam sechzig Jahre später in Vietnam.

John Kenneth Galbraith (1977)

Mit dem Ausbruch des israelisch-iranischen Krieges in der ersten Juniwoche inmitten der blutigen Unruhen in der Ukraine und des Völkermords im Gazastreifen scheint die Welt in eine wirklich gefährliche Phase einzutreten. In den Philippinen schien der schwelende Konflikt im Südchinesischen Meer/Westphilippinischen Meer seinen Siedepunkt erreicht zu haben, als die USA auf den Inseln Raketen stationierten, die das chinesische Festland erreichen können. Dies wurde vom ehemaligen US-Außenminister Antony Blinken und dem ehemaligen US-Verteidigungsminister Lloyd Austin bestätigt (Birnbaum 2024). Präsident Marcos Jr. hat nicht nur die Rückkehr von US-Soldaten und deren Stationierung auf neun Stützpunkten der philippinischen Streitkräfte (AFP), sondern darüber hinaus auch die Ausweitung gemeinsamer Militärmanöver und Investitionen von Milliardenbeträgen in die Modernisierung der AFP genehmigt (Reid 2025). Dies steht im Einklang mit den Vorbereitungen der USA, der vorhergesagten Invasion Taiwans durch China entgegenzutreten, was gegen die gemeinsam vereinbarte Ein-China-Politik verstößt, und die Philippinen in eine Ukraine-ähnliche Arena für endlose Gemetzel zu verwandeln.

Da US-Präsident Donald Trump bereit ist, hohe Zölle von bis zu 20 Prozent auf philippinische Exporte zu erheben, eilte Marcos Jr. im Juli nach Washington, um Gnade zu bitten. Seine Entourage bettelte um mehr Waffen für die Aufstandsbekämpfung und folgte somit belastenden Verträgen, die die ehemalige US-Kolonie (1898-1946) an die Diktate Washingtons und des Pentagons binden. Die Forderung von Verteidigungsminister Pete Hegseth nach mehr Raketen und Logistik als Abschreckung gegen China signalisiert unmittelbare Kriegsvorbereitungen (Arkansas Democrat Gazette 2025). Der schwelende Streit um Inseln im Südchinesischen Meer und die wahrgenommene Gefahr einer chinesischen Invasion Taiwans haben die Neokolonie in eine Krise gestürzt, die mit ihrer völlig zerstörten Landwirtschaft und ihrer auf Callcenter reduzierten Industrie ohnehin schon ein hoffnungsloser Fall in Asien ist. Nur die Überweisungen von Millionen von Vertragsarbeitern im Ausland – billige Arbeitskräfte im Inland, Seeleute auf Handelsschiffen und Kreuzfahrtschiffen – helfen, die enormen Auslandsschulden zu bezahlen und die Oligarchen in ihren luxuriösen Casinos und Geschäftsunternehmen außerhalb des Landes spielen zu lassen (z.B. wurde Verteidigungsminister Gilberto Teodoro als ehemaliger maltesischer Staatsbürger mit beträchtlichen Dollar-Investitionen in Malta entlarvt).

Dutertes Inhaftierung

Die Verhaftung des ehemaligen Präsidenten Rodrigo Roa Duterte am 11. März 2025 beherrschte die Schlagzeilen internationaler Massenmedien. Er wurde von Interpol aufgrund eines Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) wegen mutmaßlicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhaftet (Khan 2024). Obwohl sich die Philippinen bereits aus dem IStGH zurückgezogen hatten, beansprucht dieser die Zuständigkeit, da die Verbrechen angeblich in den Jahren 2011 bis 2019 begangen wurden, als die Philippinen noch dem Römischen Statut, der Gründungsurkunde des IStGH, angehörten. Die Debatte dreht sich nun um die vermeintliche Verletzung der Rechtsstaatlichkeit gegenüber Duterte, abgesehen von der Verletzung der Souveränität und der richterlichen Gewalt, als Marcos Jr. die Verhaftung und sofortige Überstellung Dutertes in die Obhut des IStGH im niederländischen Den Haag genehmigte.

Als Dutertes Amtszeit als Präsident 2022 endete, wurde er von Marcos Jr. abgelöst, der dank seiner Allianz mit Sara Duterte, der Vizepräsidentin, die Wahl gewann. Um Duterte zu verurteilen, muss die Staatsanwaltschaft beweisen, dass die 12.000 bis 30.000 Menschen, die während des von Duterte geführten „Antidrogenkriegs“ getötet wurden, Teil eines kriminellen Plans waren, eines weit verbreiteten und systematischen Angriffs auf Zivilisten (Wee & Edemia 2025). Der Prozess gegen Duterte, der offiziell Ende September beginnen soll, wird von seinen unzähligen Opfern mit größter Spannung erwartet.

Die umfassendste Dokumentation von Dutertes „Verbrechen gegen die Menschlichkeit” ist Patricia Evangelistas Some People Need Killing (2023). Evangelistas Journalismus ist für seine akribische Dokumentation lobenswert. Ihre Perspektive stützt sich jedoch auf grobe empirische Aufzeichnungen, denen eine angemessene kulturell-ideologische Kontextualisierung fehlt, weshalb sie selbst zugibt, dass das Buch „eine persönliche Geschichte ist, geschrieben (…) als Bürgerin einer Nation, die ich nicht als meine eigene erkennen kann. Die Tausenden, die starben, wurden mit der Erlaubnis meines Volkes getötet“ (2023, xvi). Diese leichtfertige Bemerkung widerspricht jedoch ihrer gesamten Darstellung und untergräbt sie, da die Menschen sich gewehrt und unermüdlich Widerstand geleistet und nun (mit Hilfe organisierter Anwälte und Menschenrechtsaktivisten) Duterte vor den IStGH gebracht haben. Wir brauchen eine ernsthafte Untersuchung, wer wirklich verantwortlich und rechenschaftspflichtig ist.

Noch ungeheuerlicher, wenn nicht gar unverantwortlich ist das Fehlen des Drahtziehers hinter den Verbrechen. Können wir davon ausgehen, dass Evangelistas Leser so naiv und uninformiert sind? Wir dürfen nicht die Augen davor verschließen, dass die Journalistin es versäumt hat, die massiven Morde mit der erheblichen materiellen und politischen Unterstützung in Verbindung zu bringen, die die USA den für die Drogenbekämpfungskampagnen verantwortlichen Polizei-, Militär- und Sicherheitsbehörden gewährt haben. Unter der Regierung von Marcos Jr. sind sie nun raffiniert, selbstgerecht und moralistisch geworden (Pardo 2025). Werfen wir einen Blick auf die Jahre vor diesem Massaker, um ein vollständigeres Bild der soziopolitischen Landschaft, der Ereignisse und Faktoren sowie der schrecklichen Folgen des Zusammentreffens verschiedener, komplexer und unvorhersehbarer Kräfte in diesem Winkel Ozeaniens zu erhalten.

Rückblickende Überlegungen

Die Covid-19-Pandemie von 2020 ist weniger ein Omen als vielmehr ein Symptom einer tiefgreifenden Krise der neoliberalen kapitalistischen Weltordnung. Weltweit sind über vier Millionen Menschen gestorben, 609.000 in den USA, 539.000 in Brasilien und 413.000 in Indien (Stand: 15. Juli 2021). Die Varianten vermehren sich, ein Ende ist nicht in Sicht. Wie immer leiden Menschen mit anderer Hautfarbe, Arme und Marginalisierte überall mehr als die Besitzenden. Wir sind von der „Katastrophe” des 11. September und dem „globalen Krieg gegen den Terrorismus” zum Zusammenbruch des Casino- und Finanzkapitals im Jahr 2008 übergegangen, ohne dass es nennenswerte Vergeltungsmaßnahmen gab – abgesehen vom Elend der verarmten Millionen. Vielleicht formieren sich die Überlebenden jetzt neu und planen ihre nächsten Schritte, um das räuberische, ungerechte System zu stürzen, wie wir es in Kolumbien, Brasilien, Burkina Faso, Mali, Niger und Myanmar beobachten können.

Krisen sind für den Kapitalismus unverzichtbar, da sie, wie Marx es nannte, „die gewaltsame Anpassung aller Widersprüche des Kapitalismus” bewirken (Harvey 2014, xiii). Enteignung als Kapitalakkumulation, kreative Zerstörung, profitable Verschwendung – das sind die Paradoxien, Antinomien und Aporien, die die postmoderne Landschaft prägen. Der Antagonismus zwischen den wenigen plutokratischen Managern des Sicherheits-/Überwachungsstaates und der „überflüssigen“ Mehrheit wird sich angesichts der weltweiten Unzufriedenheit zwangsläufig verschärfen – man denke nur an die Massenmobilisierung nach der Tötung von George Floyd und die Campus-Proteste gegen die summarische Abschiebung von Migranten in den Gulag von El Salvador. Abgesehen von der Pandemie sind wir verzweifelt angesichts von Dürren, Bränden, Überschwemmungen und allen möglichen Naturkatastrophen, die die Wirtschaft und das Leben auf den Kontinenten verwüsten, ganz zu schweigen von den internen und multilateralen Konflikten um die Kontrolle über Märkte, Ressourcen, Territorien, Hoffnungen, Träume usw.

Was wir derzeit erleben, ist beispiellos. Es handelt sich nicht um eine Rebellion der ausgebeuteten Massen, sondern um eine ökologische Katastrophe, die die kapitalistische Globalisierung nicht aufhalten, geschweige denn verhindern kann, da sie den Zerfallsprozess noch verschärft hat. Der Warenfetischismus regiert unangefochten. Mike Davis hat unsere derzeitige Lage prägnant diagnostiziert: „Wir sehen ein weltweites System der Akkumulation, das überall traditionelle Grenzen zwischen Tierkrankheiten und Menschen aufbricht, die Macht der Pharmamonopole stärkt, krebserregende Abfälle vermehrt, Oligarchien subventioniert und fortschrittliche Regierungen untergräbt, die sich für die öffentliche Gesundheit einsetzen, traditionelle Gemeinschaften (sowohl industrielle als auch vorindustrielle) zerstört und die Ozeane in Kloaken verwandelt. Marktorientierte Lösungen lassen die sozialistischen Verhältnisse von Dickens bestehen und perpetuieren die globale Schande des eingeschränkten Zugangs zu sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen.“ Davis fasst die konvergierenden Krisen unserer Zivilisation wie folgt zusammen: „Sie sind definiert durch die Unfähigkeit des Kapitalismus, Einkommen für die Mehrheit der Menschheit zu generieren, Arbeitsplätze und sinnvolle soziale Rollen zu schaffen, die Emissionen fossiler Brennstoffe zu beenden und revolutionäre biologische Fortschritte in die öffentliche Gesundheit umzusetzen. Der Superkapitalismus von heute ist zu einem absoluten Hemmschuh für die Entwicklung der für das Überleben unserer Spezies notwendigen Produktivkräfte geworden.“ (2020)

Die Auswirkungen dieser globalen Umwälzungen wurden kürzlich vom US-amerikanischen National Intelligence Council in seinem Bericht „Global Trends 2040“ dargelegt. Dies würde nicht nur zu einer Störung des internationalen Handels führen, sondern auch zu einer Erosion der Weltordnung, zu Fragmentierung und Polarisierung. Misstrauen und Skepsis gegenüber hegemonialen Institutionen würden zunehmen und nach „alternativen Anbietern von Governance“ verlangen (Barnes 2021). Rassen-, ethnische und nationale Spaltungen würden sich vervielfachen und vertiefen. Die Weltpolitik würde volatiler und konfliktreicher werden, wie die verschärfte Konfrontation zwischen China und den Vereinigten Staaten zeigt. Leider appelliert der Bericht jedoch an die Unternehmenselite und die Technokraten des Staates, „vorausschauend statt reaktiv” zu handeln und die Krisen zu lösen (Leitartikel, The New York Times, 2021). Was ist mit der Rebellion der Grünen und der Koalition indigener Gemeinschaften, die sich der Gier der Unternehmen widersetzen?

Rumoren im „Bauch des Ungeheuers“

In allen Berichten über die öffentliche Reaktion auf die Pandemie wurden die Menschen an vorderster Front, die Ärzte, Krankenschwestern und Pflegekräfte in den Krankenhäusern, für ihren Einsatz gelobt. Der Ökonom Joseph A. Lim fasste die Auswirkungen der Pandemie im Jahr 2020 zusammen, auf die die Regierung mit einem strengen dreimonatigen Lockdown namens „Enhanced Community Quarantine“ reagierte. Dies führte zu „der höchsten Arbeitslosigkeit und dem größten Rückgang des BIP im zweiten Quartal 2020” (Lim 2020). Außerdem trug sie laut Umfragedaten des Meinungsforschungsinstituts Social Weather Stations (IBON 2025) zum Anstieg der Zahl der Familien, die von Hunger betroffen sind, von 2,9 Millionen im Juni 2022 auf 7,5 Millionen im März 2025 bei – eine Krise, die auf anhaltend niedrige Einkommen, niedrige Löhne und exorbitant gestiegene Lebensmittelpreise zurückzuführen ist.

Die Folgen der Pandemie für philippinische Krankenschwestern in den Vereinigten Staaten verdeutlichten jedoch die rassistische und ungleiche Belastung dieser Gruppe. Bis September 2020 waren 67 philippinische Krankenschwestern an Covid-19 gestorben, ein Drittel aller landesweit registrierten Krankenschwestern, obwohl sie nur vier Prozent der gesamten Krankenschwestern ausmachten. Warum ist das so? Weil in den kolonialisierten Randgebieten „bereits 1907 ein amerikanischer Lehrplan eingeführt wurde, der englischsprachigen Krankenschwestern, die sich leicht in amerikanische Krankenhäuser integrieren konnten, Abschlüsse verlieh“ und so die Unterprivilegierten auf solche Notfälle vorbereitete (Powell 2021). Angesichts des gravierenden Personalmangels in den 1980er-Jahren aufgrund der AIDS-Epidemie ermöglichte die Anwerbung philippinischer Krankenschwestern für Krankenhäuser in New York und San Francisco Tausenden von Menschen, ein Visum zu erhalten. Seitdem verdient diese Gruppe jedoch weniger als die Mehrheit der Amerikaner mit dem gleichen Bildungsniveau (Catholic Institute 1987, 44-48), was typisch für ein rassistisches System der Umverteilung und sozialen Anerkennung ist.

Mit etwa 3,4 Millionen Menschen bilden die Filipino-Amerikaner die zweitgrößte asiatische Gruppe in den USA, darunter über 310.000 Menschen ohne Papiere (Aquino 2017). 60 Prozent der Filipino-Amerikaner sind Frauen, was auf die Feminisierung der exportierten Arbeitskräfte als Teil der Wachstumsstrategie der Philippinen zurückzuführen ist. Im Jahr 2008 waren 666.000 in den Philippinen geborene Arbeitnehmerinnen in der Zivilwirtschaft beschäftigt, wobei 22,9 Prozent als Beruf examinierte Krankenschwester angaben. Die Notlage der Frauen ist ein Indikator für die Prostitution der globalisierten philippinischen Arbeitskräfte (Aguilar 2024; zu Bäuerinnen siehe Lindio-McGovern 1997). Nach über hundert Jahren der Verbindung zwischen der Neokolonie und ihrem imperialen Vormund sind Wissenschaftler zu dem Schluss gekommen, dass die Filipinos Diskriminierung, rassistisch motivierte Gewalt und eine Reihe restriktiver Bundesgesetze erdulden mussten, die sich auf die Bürgerrechte und die Einwanderung auswirkten. Angesichts der Diskriminierung und Ausgrenzung, denen ethnische Wanderarbeiter aus Asien und anderen unterentwickelten Ländern ausgesetzt waren, ist dies nicht verwunderlich.

Philippinische Wanderarbeiter in den Vereinigten Staaten trugen kurz nach der „Befriedung” der Inseln durch die USA im Philippinisch-Amerikanischen Krieg von 1899 bis 1913 zur Kapitalakkumulation in Hawaii und an der Westküste bei. Doch statt sozialer Anerkennung wurden sie mit Vorurteilen und Ausgrenzung konfrontiert. Historiker verweisen oft auf die berüchtigten viertägigen Unruhen in Watsonville, Kalifornien im Dezember 1929, als weiße Bürgerwehren philippinische Landarbeiter angriffen und einen von ihnen ungestraft töteten. Der ermordete Arbeiter Fermin Tobera wurde als Held gefeiert, als sein Leichnam in seiner Heimat beigesetzt wurde. Dies ist nur einer von vielen gewalttätigen Vorfällen, die die militante Präsenz der Filipinos im imperialen Kernland prägten, wo ihre Führung multiethnischer Gewerkschaftsstreiks – von den Zuckerplantagen Hawaiis bis zu den Weingütern Kaliforniens in den 1960er-Jahren – die multiethnische Bürgerrechtsbewegung des letzten Viertels des 20. Jahrhunderts vorwegnahm.

Mit ironischer Tragik ist der Aufstand von Watsonville von den Filipinos vergessen worden, die heute ihre Assimilation als Koch im Weißen Haus, Entertainer in Disneyland, Rockstars in den sozialen Medien usw. feiern. Mit Trumps rassistischer Lüge vom „Kung-Flu” (der Präsident verglich das Coronavirus entgegen der Einschätzung von Experten wiederholt mit einer Grippe – auf Englisch „flu” –, die überdies einzig von Chinesen übertragen worden sei — Anm.: RW), die alle asiatisch aussehenden Menschen stigmatisiert, sind Filipinos nun als einfache Sündenböcke ins Visier geraten. Vilma Kari, eine 65-jährige Filipina, wurde auf einer Straße in der Nähe des Times Square in Midtown Manhattan, New York City, angegriffen. Drei Umstehende drehten ihr den Rücken zu (Hong et al., 2021, A15). Zuvor wurden philippinische Einwohner sowie chinesischstämmige Amerikanerinnen in New York City und Kalifornien als fremd aussehende Migranten und Überträger des tödlichen Virus aus Wuhan, China, angegriffen. Asiaten und Pazifikinsulaner haben plötzlich ihre „Aura der vorbildlichen Minderheit“ verloren und rufen nun voller Angst und Zittern zu Solidarität über Klassen-, ethnische oder religiöse Unterschiede hinweg auf. Sie brauchen Triage und Zuflucht vor Verletzungen und Morddrohungen durch weiße Suprematisten.

Angesichts der landesweiten Besorgnis über die Zunahme von Hassverbrechen verbreitete sich der Hashtag #StopAsianHate wie ein Lauffeuer auf Twitter. Der preisgekrönte Schriftsteller Viet Thanh Nguyen forderte 2021 eine gemeinsame politische Identität für schwarze Amerikaner, Muslime, Latinos und LGBTQ-Personen, um sich für eine Dekolonialisierungsagenda zu vereinen. Ohne Vorwarnung löste das Massaker an sechs Frauen asiatischer Herkunft in einem Spa in Atlanta/Georgia eine weltweite Empörung aus und veranlasste das Weiße Haus und den Kongress zum Handeln. Aber wie realistisch ist es, dass die Dekolonisierung der asiatischstämmigen Amerikaner und Pazifikinsulaner die rassistische imperiale Aggression weltweit stoppen kann, wenn die Biden-Regierung China als Hauptfeind betrachtete, der kontrolliert oder eingedämmt werden muss? Auf jeden Fall sind fromme, tränenreiche Wölfe, die Schafe hüten, kaum beruhigend.

Imperiale Expansion der USA in Asien

Vor dem Hintergrund des Endes der neoliberalen Globalisierung berichte ich in meinem Buch „U.S. Imperialism and Revolution in the Philippines“ von der Eroberung der Inseln durch die USA mittels blutiger Unterwerfung. Über eine Million tote Filipinos konnten leider nicht in den Genuss von US-Präsident William McKinleys „wohlwollender Assimilation” (1898) kommen. Das als „erstes Vietnam“ bezeichnete Kolonial„abenteuer“ läutete den Beginn der imperialen Expansion der USA in Asien, insbesondere in China, ein (San Juan 2007, 1-66). Es war ein ernsthafter Schritt zur Erfüllung der „zivilisatorischen Mission“ oder „Last des weißen Mannes“, um Kiplings Gedicht zu zitieren, das ausdrücklich als Verteidigung der US-Aggression auf den Philippinen aus der Sicht der weißen Vorherrschaft geschrieben wurde.

Lenin bemerkte, dass „die Vereinigten Staaten bei der Annexion der Philippinen den philippinischen Führer Aguinaldo betrogen haben, indem sie dem Land Unabhängigkeit versprachen“. In Bezug auf Wilsons „Vierzehn Punkte“ von 1918, in denen er das Selbstbestimmungsrecht aller Nationen bekräftigte, bemerkte Lenin: „Seltsamerweise sagen Ihre Forderungen nichts über die Befreiung der Philippinen aus.“ Lenins Bemerkung sowie die von Rosa Luxemburg waren nur Fußnoten zu Mark Twains Kritik an der Massakrierung widerspenstiger Einheimischer durch die USA, darunter 900 Moro-Männer, -Frauen und -Kinder am Mount Dajo am 9. März 1906 (1992, 168-78; zu den Gräueltaten der USA auf Samar, Philippinen). Das Gemetzel geht weiter mit Hilfe von US-Drohnen, Raketen, Logistik und US-Spezialeinheiten bei der vollständigen Zerstörung der südphilippinischen Stadt Marawi im Mai-Juni 2017, einer der bedeutendsten „Errungenschaften“ Dutertes.

Nach dem Zweiten Weltkrieg dienten die Philippinen als günstiger Ausgangspunkt für Interventionen im Korea- und Indochina-Krieg auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges. 1957 lobte die US-Außenpolitikexpertin Vera Micheles Dean den westlichen Kolonialismus als Geburtshelfer einer „pluralistischen Gesellschaft”, während sie den Tod des von der CIA unterstützten Antikommunisten Ramon Magsaysay (philippinischer Präsident von 1953 bis zu seinem Tod am 17. März 1957 infolge eines Flugzeugabsturzes – Anm.: RW) beklagte. Der Prozess der Neokolonialisierung wurde von Daniel B. Schirmer (1987) und Jonathan Fast (1973) ausführlich beschrieben, wobei Letzterer die vollständige Kooptierung der Kompradoren-Elite als Satrapen der US-Oberhoheit bis heute aufzeigt. Dies sollte alle absurden Behauptungen über die Postkolonialität der Philippinen widerlegen. Nach dem Indochina-Konflikt pries ein weiterer Experte, William McCord, Fukuyamas apokalyptischen Triumph des Marktliberalismus. Gleichzeitig beklagte er, dass der Autokrat Ferdinand Marcos das große Potenzial der Inseln verschwendet und sie zum „wirtschaftlichen Sanierungsfall des asiatisch-pazifischen Raums” gemacht habe (1991, 57), während die industrialisierten Nachbarländer einen enormen Aufschwung erlebten. Der wirtschaftliche Ruin ist heute wohl nicht mehr zu retten, da das Land in noch schlimmere Verhältnisse geschlittert ist.

Die „People Power”-Revolte vom Februar 1986 kann eher als warnende Farce denn als Tragikomödie betrachtet werden. Nach Marcos kehrte das Aquino-Regime zu der neofeudalen, von Caciques geführten Demokratie zurück, die der US-Neokolonialismus hinterlassen hatte (O’Brien 1990; Bauzon 1991; Sison 2015) und von ihren Nachfolgern – von General Fidel Ramos über die habgierige Arroyo bis hin zum wankelmütigen, skrupellosen Duterte – neu aufgelegt wurde. Das einst gepriesene „Schaufenster der Demokratie” für die freie Welt dient nun wieder dazu, die Macht der USA zu demonstrieren, während Washington seinen Fokus auf den asiatisch-pazifischen Raum verlagert. China ist nun der neue aufstrebende Leviathan, den es zu bekämpfen und einzudämmen gilt, daher der strategische Wert des Archipels, insbesondere der Seewege neben den umstrittenen Riffen und Inseln des Westphilippinischen Meeres. Diese neue Rolle des Archipels, die mit der Ernennung der Philippinen zur „zweiten Front“ nach Afghanistan/Irak im Kampf gegen den islamischen Extremismus begann, wurde durch den Besuch des damaligen Präsidenten Trump in Manila und auf dem Militärstützpunkt Clark Air Field im Februar 2017 bekräftigt. Trump prahlte mit der Zerstörung Japans durch die USA im Zweiten Weltkrieg und drohte der Demokratischen Volksrepublik Korea (Nordkorea) mit „Feuer und Zorn”, einer noch brutaleren Version der Völkermordkampagne gegen die Filipinos im Rahmen des ohnehin brutalen „Manifest Destiny”.

Passage durch unbekannte Gewässer

Von entscheidender Bedeutung ist die Kontroverse um verstreute Inseln im Westphilippinischen Meer, die China für sich beansprucht und auf denen es vermutlich zum Schutz der Schifffahrtswege militärische Anlagen errichtet.

Dieser Schritt ist eine eklatante Missachtung des Urteils des Ständigen Schiedshofs in Den Haag aus dem Jahr 2016, das die Zuständigkeit der Philippinen für das umstrittene Gebiet bestätigte. Die Fischgründe um das Scarborough-Riff (Panatag-Insel), die Spratly-Inseln und verschiedene Riffe liegen alle innerhalb der ausschließlichen Wirtschaftszone der Philippinen. Dennoch hat China seine Küstenwache und bewaffnete Milizen angewiesen, philippinische Fischerboote einzuschüchtern und zu vertreiben. Duterte hatte öffentlich den Schutz der territorialen Integrität der Nation aufgegeben, die er zu verteidigen geschworen hatte – ein eklatanter Verrat, der in anderen souveränen Staaten ohne großes Aufsehen zum Tod durch Erschießen geführt hätte. Die jüngste „Hinwendung zu Asien” der USA hat diese Region in ein Pulverfass verwandelt, einen wahren Zündstoff für einen Showdown zwischen zwei Atommächten (die sich bereits gegenseitig mit kriegerischen Vorwürfen überziehen), in dem die Philippinen lediglich als „Kollateralschaden” enden könnten (zur geopolitischen Bedeutung des Indopazifiks siehe Bellamy und Clark 2024).

Anmerkung & Quellen

  • Von Epifanio San Juan, Jr. erscheinen auch zwei Aufsätze über die philippinische Diaspora und das (Aus-)Bildungswesen auf den Inseln in dem Band: Rainer Werning/Jörg Schwieger (Hrsg.): Von Marcos zu Marcos: Die Philippinen seit 1965. Wien: Promedia Verlag, September 2025
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