Ein Gipfel in Budapest, um den Krieg in der Ukraine zu beenden? Polens Premierminister Donald Tusk lehnt das ab und verweist auf vergangene angebliche Völkerrechtsverstöße. Doch die Fakten zeigen: Die wahren Ursachen des Konflikts liegen in Entscheidungen, an denen er und sein damaliger Außenminister persönlich beteiligt waren. Ein Blick hinter die offizielle Erzählung über das Budapester Memorandum vom ungarischen Botschafter a. D. György Varga, der die Zeremonie in der ungarischen Hauptstadt 1994 diplomatisch begleitete. Aus dem Ungarischen übersetzt von Éva Péli.
Das Budapester Memorandum von 1994 wird im Rahmen des Ukraine-Krieges vom kollektiven Westen immer wieder als abschreckendes Beispiel für Russlands aggressive Außenpolitik und die Missachtung internationaler Garantien für die Ukraine angeführt. Am 20. August sprach sich der polnische Premierminister Donald Tusk in einer Nachricht auf dem Kanal X gegen die Wahl Budapests als Austragungsort für einen Gipfel zwischen Donald Trump, Wladimir Putin und Wolodymyr Selenskyj aus.[1] Er deutete dabei an, dass die Stadt für eine Verletzung des Völkerrechts stehe. In einem am 5. Januar veröffentlichten Interview mit dem US-amerikanischen Podcaster Lex Fridman sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, dass „jeder, der die Ukraine gezwungen hat, das sogenannte Budapester Memorandum zu unterzeichnen, ins Gefängnis gehört“.[2] Tusks Äußerungen übersehen die Mitschuld der polnischen Außenpolitik an den Ereignissen, die zur Verletzung des Memorandums und zur Entstehung des Krieges führten – eine Verantwortung, die auch er und sein damaliger Außenminister Radosław Sikorski persönlich tragen.
Die Verantwortung für den Krieg
Der Zusammenhang zwischen dem Budapester Memorandum, dem Krieg und der Frage der Verantwortung ist durchaus begründet. Der Hilferuf des polnischen Premierministers angesichts des begangenen Fehlers ist absolut verständlich: Wenn internationale Verträge und Resolutionen des UN-Sicherheitsrates nicht eingehalten werden, fallen später Bomben. So ist es heute auch in der Ukraine. Der ukrainische Präsident hält die Unterzeichnung des Budapester Memorandums für einen Fehler, und die ukrainische Diplomatie vertritt entschieden seine kritische Haltung, wonach die Verantwortung bei Russland liege.
Dieses Narrativ versucht Premierminister Tusk – irrtümlicherweise – für sich zu nutzen. Sein ohnehin ablehnendes Verhältnis zur ungarischen Außenpolitik veranlasst ihn, sich gegen die Wahl Budapests als Austragungsort für einen Gipfel zur Beendigung des Krieges auszusprechen. Die Grundlage des Problems ist, dass die Ukraine im Budapester Memorandum auf ihre Atomwaffen verzichtete, während die Unterzeichnerstaaten im Gegenzug versicherten, ihre Souveränität und bestehenden Grenzen zu respektieren.
Da ich in meiner Einleitung die Verantwortung der polnischen Außenpolitik im Zusammenhang mit dem Budapester Memorandum erwähnt habe, formuliere ich meine Argumentation ebenfalls anhand dieser Aussage und stütze mich dabei auf Fakten. Bereits am Anfang meines Textes möchte ich als Tatsache festhalten:
- Am 18. März 2014, nach dem Referendum vom 16. März, unterzeichnete der russische Präsident Putin das Gesetz über den Beitritt der Krim zu Russland, was als Verletzung des Budapester Memorandums von 1994 interpretiert werden kann. Russland respektierte damit die territoriale Integrität und die bestehenden Grenzen der Ukraine nicht.
- Allerdings verletzten die NATO und ihre Mitgliedstaaten die staatliche Souveränität der Ukraine, die ebenfalls durch das Budapester Memorandum garantiert wurde, bereits zweimal zuvor: im April 2008 und im Februar 2014. Der russische Schritt vom März 2014 kann somit als direkte Folge dieser Ereignisse bewertet werden.
Mit der am 3. April 2008 in Bukarest verabschiedeten Erklärung, in der es heißt: „Die Ukraine und Georgien werden NATO-Mitglieder“, verletzte die NATO die staatliche Souveränität der Ukraine. An dieser historisch falschen Entscheidung waren der polnische Premierminister Tusk und Außenminister Sikorski persönlich und aktiv beteiligt, indem sie ihr Land auf dem Bukarester Gipfel der Organisation im April 2008 vertraten. Wie kommen wir zu dieser Schlussfolgerung?
- Das ukrainische Parlament verabschiedete am 16. Juli 1990 die Erklärung über die staatliche Souveränität der Ukraine.[3] In ihr heißt es, die Ukraine werde ein dauerhaft neutraler Staat sein, der nicht an Militärblöcken teilnimmt und sich an drei Prinzipien zur Atomwaffenfreiheit hält: keine Atomwaffen zu akzeptieren, zu produzieren oder zu erwerben.
- Am 24. August 1991 verabschiedete das ukrainische Parlament die Unabhängigkeitserklärung der Ukraine.[4] Die Präambel der Erklärung legt als Grundvoraussetzung fest, dass die Unabhängigkeitserklärung die in der Erklärung von 1990 formulierte staatliche Souveränität der Ukraine in die Praxis umsetzt. Das bedeutet, dass der dauerhafte Neutralitäts- und Blockfreiheitsstatus der Ukraine als Hauptmerkmale der eigenständigen, souveränen Staatlichkeit bekräftigt wurde.
- Am 1. Dezember 1991 bestätigte ein Referendum in der Ukraine die in der Unabhängigkeitserklärung enthaltenen Punkte.[5] Nach Angaben der OSZE (ihre Vorgängerin war die KSZE) nahmen 84 Prozent der Wahlberechtigten teil und stimmten zu über 90 Prozent für die in den früheren Erklärungen beschriebene unabhängige Staatlichkeit. Somit bestätigte auch das Referendum den dauerhaften Neutralitäts- und Blockfreiheitsstatus der Ukraine.
- Für die Ukraine, deren neutraler und blockfreier Status mehrfach bekräftigt wurde, sah die Erklärung von 1990 über die staatliche Souveränität den atomwaffenfreien Status als freiwillige Verpflichtung vor. Diesem Weg folgend unterzeichneten am 5. Dezember 1994 in Budapest die Präsidenten der USA, Russlands und der Ukraine sowie der britische Premierminister das Budapester Memorandum.[6] Im Memorandum verzichtet die Ukraine auf ihre Atomwaffen, und im Gegenzug bekräftigen die Unterzeichnerstaaten, dass sie ihre Unabhängigkeit, Souveränität und die bestehenden Grenzen respektieren werden.
- Das ukrainische Parlament verabschiedete am 28. Juni 1996 die Verfassung des Landes. Die Präambel des Grundgesetzes besagt, dass das Parlament die Verfassung auf der Grundlage der Unabhängigkeitserklärung von 1991 und der Ergebnisse des Referendums vom 1. Dezember 1991 aufgebaut hat. Somit bestätigte die ukrainische Verfassung sowohl die dauerhafte Neutralität als auch den blockfreien Status.
Das ukrainische Volk und seine Vertreter haben wiederholt erklärt, dass sie in einem neutralen und blockfreien Land leben wollen. Der polnische Premierminister sollte auch wissen, dass die Unterzeichner des Budapester Memorandums im Jahr 1994 ein Abkommen mit einer neutralen und blockfreien Ukraine unterzeichneten, um „ihre Unabhängigkeit, Souveränität und die bestehenden Grenzen zu respektieren“. Tusk sollte ebenfalls wissen, dass die NATO im Jahr 2008 die oben genannten verfassungsrechtlichen und völkerrechtlichen Hindernisse nicht interessierten. Er und sein Außenminister hätten in Bukarest signalisieren können: „Tut das der Ukraine nicht an, das will das ukrainische Volk nicht!“
Die NATO – mit der persönlichen Mitwirkung von Premierminister Tusk und Außenminister Sikorski – respektierte nicht:
- die in den Jahren 1990, 1991 und 1996 verabschiedeten Erklärungen über die Neutralität und den blockfreien Status der Ukraine sowie die geltende ukrainische Verfassung.
- den Willen des damals noch 52 Millionen Einwohner zählenden ukrainischen Volkes, der auch im Referendum vom 1. Dezember 1991 bezüglich der Neutralität und Blockfreiheit bestätigt wurde (mit über 90 Prozent „Ja“-Stimmen).
- die Souveränität der Ukraine, ihr Recht, ihre Zukunft als neutraler und blockfreier Staat in der sehr komplizierten geopolitischen Umgebung zwischen Ost und West zu bestimmen.
Der ungarische Historiker und Russlandexperte Zoltán Sz. Bíró schrieb sechs Monate nach der NATO-Entscheidung im November 2008 in seiner Publikation „Russlands Rückkehr“[7], dass die Entscheidung der NATO ohne die Unterstützung der ukrainischen Gesellschaft getroffen wurde:
„Bezeichnend ist, dass Anfang 2008 höchstens ein Viertel bis ein Drittel der ukrainischen Bevölkerung die NATO-Mitgliedschaft des Landes unterstützt. … Und diese Zurückhaltung ist größtenteils eine Folge der Tatsache, dass die Mehrheit der ukrainischen Gesellschaft befürchtet, der Beitritt zur Militärorganisation der westlichen Welt werde die russisch-ukrainischen Beziehungen schwer belasten, mit direkten Folgen für das tägliche Leben.“
Putsch und Bürgerkrieg
Die NATO respektierte die Souveränität der Ukraine nicht im Jahr 2008, als sie die Ukraine als zukünftiges NATO-Mitglied bezeichnete[8], und auch nicht 2014, als NATO-Länder an der Machtübernahme gegen den demokratisch gewählten Staatschef und die Regierung beteiligt waren.
Im Jahr 2014 unterstützten EU/NATO-Länder – unter US-amerikanischer Koordination, mit persönlicher Beteiligung von Staatssekretärin Victoria Nuland – einen verfassungswidrigen Machtwechsel in der neutralen Ukraine, die ein Gleichgewicht zwischen Ost und West anstrebte. Die polnische Diplomatie mit dem damaligen Premierminister Tusk und Außenminister Sikorski spielte dabei eine aktive Rolle.
Der damalige Präsident Wiktor Janukowitsch und die Oppositionsführer, die mit aus dem Ausland unterstützten Protesten kämpften, unterzeichneten am 21. Februar 2014 eine Vereinbarung zur politischen Regelung. Außenminister von EU/NATO-Ländern, darunter der polnische Außenminister Sikorski und der damalige deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier, unterschrieben das Dokument freiwillig als Garanten.[9] Der Putsch, der am nächsten Tag folgte, wurde weder von den Garantiemächten (DE, FR, PL) noch von der NATO beziehungsweise der EU verurteilt.
Dieser Putsch führte zu einem Bürgerkrieg, woraufhin die „wertebasierte“ EU und NATO die Rollen vertauschten. Laut dem westlichen Narrativ wurden diejenigen zu Kriminellen, die die Putschisten-Führung nicht anerkannten. Die Bevölkerung der Ostukraine hingegen sieht die Schuldigen bei denjenigen, die die verfassungswidrige, gewaltsame Absetzung eines demokratisch gewählten Staatschefs stimulierten, koordinierten und anerkannten und ein souveränes, neutrales Land ins Chaos stürzten. Einen Monat nach dem Putsch löste sich die Krim in einem Referendum von der Ukraine und schloss sich Russland an. In der Ostukraine beendeten die separatistischen Prozesse endgültig die Möglichkeit Kiews, Teile der Regionen Luhansk und Donezk zu kontrollieren.
Die Regierungen Deutschlands, Polens und Frankreichs (die „Weimarer Gruppe“) verletzten ihre Garantenpflichten massiv, was nach dem 22. Februar 2014 zum Ausbruch eines Bürgerkriegs in der Ukraine führte. Die Garantiemächte täuschten den amtierenden ukrainischen Staatschef, der unbegründet an die Zusicherung der EU/NATO-Außenminister glaubte. Nachdem er unter diesen beruhigenden internationalen Bedingungen ein politisches Abkommen mit der Opposition geschlossen hatte, versetzte er die Sicherheitsbehörden in einen Ruhezustand.
Der polnische Premierminister Tusk hat offensichtlich nicht über diese Zusammenhänge nachgedacht, als er sich gegen die Wahl Budapests als Austragungsort für einen Gipfel zur potenziellen Beendigung des Krieges in der Ukraine aussprach. Die aufgeführten polnischen Bezüge könnten ihm Anlass geben, seine Haltung sowohl zur NATO-Entscheidung von 2008 als auch zur leicht vergessenen Unterschrift von Außenminister Sikorski als Garant im Jahr 2014 zu überdenken.
Wenn Premierminister Tusk zu diesen Schlussfolgerungen gelangt, wird er leicht einsehen, dass sein Protest gegen den Austragungsort Budapest unbegründet war.
Die wahren Verantwortlichen für den Ukraine-Krieg
Weder die Urheber und Unterzeichner des Budapester Memorandums noch der Ort Budapest sollten für den Ukraine-Krieg und die Missachtung dieses internationalen Dokuments verantwortlich gemacht werden. Die Ursachen des Krieges liegen nicht im Budapester Memorandum, der ukrainischen Unabhängigkeitserklärung, der ukrainischen Verfassung oder den vom UN-Sicherheitsrat gebilligten Minsker Abkommen. Sie sind vielmehr bei den Politikern zu finden, die diese Dokumente und den mehrfach geäußerten Willen des ukrainischen Volkes ignoriert haben. Zu diesen Politikern zählen auch aktive Mitglieder der polnischen Regierung, angeführt von Premierminister Tusk.
Tusk könnte Präsident Selenskyj eine große Hilfe sein, indem sie bei ihrem nächsten Treffen oder der nächsten Sitzung des Europäischen Rates die engen Zusammenhänge zwischen der ukrainischen Unabhängigkeitserklärung, dem Referendum von 1991, der Verfassung von 1996 und dem Budapester Memorandum wieder aufgreifen. Anhand dieser Zusammenhänge würden sie schnell erkennen, was die heutige Lage der neutralen und blockfreien Ukraine verursacht hat und wo die wahren Verantwortlichen für die Zerstörung eines europäischen Landes und seiner Nation zu suchen sind.
Titelbild: Der US-amerikanische Präsident Bill Clinton, der russische Präsident Boris Jelzin und der ukrainische Präsident Leonid Krawtschuk nach der Unterzeichnung der Trilateralen Erklärung vom 14. Januar 1994 zur Vorbereitung des Memorandums – gemeinfrei
[«1] kettner-edelmetalle.ch/news/budapest-als-friedensgipfel-ort-polens-premier-tusk-warnt-vor-historischer-wiederholung-21-08-2025
[«2] kyivindependent.com/zelensky-rebukes-budapest-memorandum-signatories/
[«3] static.rada.gov.ua/site/postanova_eng/Declaration_of_State_Sovereignty_of_Ukraine_rev1.htm
[«4] static.rada.gov.ua/site/postanova_eng/Rres_Declaration_Independence_rev12.htm
[«5] csce.gov/wp-content/uploads/2016/06/120191UkraineReferendum.pdf
[«6] 30 Jahre Budapester Memorandum: Die nukleare Abrüstung der Ukraine im Rückblick
[«7] russianstudies.hu/docs/biroz.vissz.pdf
[«8] nato.int/cps/en/natolive/official_texts_8443.htm
[«9] dw.com/de/regierung-und-opposition-unterzeichnen-vereinbarung-zur-krisenl%C3%B6sung/a-17449594