Die EU hat kein Zensurministerium. Sie braucht auch keines mehr. Die Arbeit übernehmen inzwischen Algorithmen, Compliance-Abteilungen und Gesetze, die sich so harmlos anhören, dass man kaum glauben mag, wie tief sie in die Öffentlichkeit eingreifen. Wer heute eine Website betreibt, die unbequem ist, spürt diese Veränderung nicht sofort. Es gibt keine Hausdurchsuchung, kein Verbot, keinen Gerichtsbeschluss. Stattdessen sinken die Aufrufzahlen. Von Günther Burbach.
Seit dem Inkrafttreten des Digital Services Act (DSA) 2024 und dem parallel laufenden European Media Freedom Act (EMFA) ist die Sichtbarkeit für kritische Medien in EU-Europa zu einer staatlich beeinflussten Währung geworden. Beide Gesetze sind offiziell dazu gedacht, Desinformation zu bekämpfen und den Medienpluralismus zu sichern. Doch hinter der Fassade eines „Schutzgesetzes“ entsteht ein Mechanismus, der genau das Gegenteil bewirkt: eine schleichende Vereinheitlichung des Sagbaren. Wer aus der Linie fällt, wird nicht bestraft, sondern mit Algorithmen aus der Wahrnehmung gedrängt: Beiträge erscheinen seltener in den Feeds. Suchmaschinen listen sie weiter hinten. Videos werden kaum noch empfohlen. Und irgendwann ist der Kanal leer. Nicht, weil jemand ihn geschlossen hätte, sondern weil niemand mehr dort ankommt.
Der DSA verpflichtet große Plattformen wie Meta, Google, X oder TikTok, „Risiken für den demokratischen Diskurs“ zu mindern. Diese Formulierung ist so offen, dass sie alles umfassen kann, vom Aufruf zu Gewalt bis zum Zweifel an Regierungspolitik. Um sich vor Milliardenstrafen zu schützen, filtern die Konzerne automatisch alles, was als potenziell heikel gelten könnte. Laut einem Bericht von Reuters hat die EU-Kommission allein im zweiten Quartal 2025 mehr als 29 Millionen Beiträge registriert, die von den Plattformen gelöscht oder in ihrer Reichweite „angepasst“ wurden. Die meisten davon waren keine Fake-News-Kampagnen aus Russland, sondern normale Beiträge europäischer Nutzer, Kommentare, Reportagen, Analysen, die in Themenfelder fielen, die als „empfindlich“ gelten: Ukrainekrieg, Energiekrise, Impfpolitik, Migration. Die Inhalte sind nicht weg, sie sind nur nicht mehr da.
Die Betreiber nennen das „Reichweitenoptimierung“ oder „Content Governance“. Dahinter steckt ein einfaches Prinzip: Alles, was als konfliktträchtig oder kontrovers gilt, wird automatisch herabgestuft. Wer nach einem Thema sucht, bekommt dann nur noch Treffer von „vertrauenswürdigen Quellen“. Und wer bestimmt, wer vertrauenswürdig ist? Die Europäische Kommission. Der EMFA hat dafür eine Klassifizierung eingeführt: sogenannte „Trusted Media Providers“. Diese Medien werden bevorzugt gelistet, erhalten Fördermittel, Priorität bei Suchmaschinen und Zugang zu öffentlichen Werbekampagnen. Für alle anderen gilt: keine Zertifizierung, keine Sichtbarkeit.
Das ist kein Nebeneffekt, sondern Teil der neuen Architektur. Der „European Board for Media Services“, ein Gremium aus nationalen Aufsichtsbehörden, das direkt der Kommission unterstellt ist, darf Empfehlungen aussprechen, Warnungen erteilen und Plattformen auffordern, „Kooperationsmaßnahmen“ gegen Medien mit angeblich systemischer Desinformation zu ergreifen. Was „systemisch“ heißt, legt das Board selbst fest. Und weil es keine unabhängige Kontrolle gibt, kann jede unbequeme Redaktion, ob in Berlin, Rom oder Paris, plötzlich als Risiko gelten. Das ist keine Zensur per Federstrich, das ist die Verwaltung der Meinungsfreiheit durch Statistik.
Massive Reichweitenverluste für kleinere Redaktionen
Die Folgen sind messbar. Seit Frühjahr 2025 berichten zahlreiche kleine Redaktionen über massive Reichweitenverluste. Die European Federation of Journalists dokumentierte über 80 Fälle, in denen unabhängige Online-Magazine in Europa ihren Betrieb einstellen mussten, weil ihre Inhalte kaum noch auffindbar waren. In Deutschland traf es vor allem spendenfinanzierte Projekte, die keine Werbung schalten. In Frankreich, Italien und den Niederlanden betrifft es zunehmend Investigativ-Blogs, die über Lobbyismus oder Energiepolitik berichten. Sie wurden nicht verklagt, nicht verboten, nicht bedroht, sie sind einfach weg. Unsichtbarkeit ist die effizienteste Form der Ausschaltung, weil sie keine Gegner hinterlässt.
Die EU verweist auf Transparenzberichte der Plattformen, die belegen sollen, dass alles rechtsstaatlich abläuft. Doch diese Berichte sind kaum etwas wert. Sie enthalten nur Zahlen, keine Belege. Niemand erfährt, welche Beiträge betroffen waren oder nach welchen Kriterien sie als gefährlich eingestuft wurden. Wenn eine Redaktion wissen will, warum ihr Artikel plötzlich keine Reichweite mehr hat, bekommt sie eine Antwort aus der Support-Abteilung: „Automatisches Risikofiltering gemäß DSA-Anforderungen“. Das ist keine Erklärung, das ist digitale Bürokratie. Und diese Bürokratie ist mittlerweile mächtiger als jedes Pressegesetz.
Wirtschaftlicher Druck wird zum Ersatz für offene Zensur
Mit dem European Media Freedom Act kommt eine zweite Ebene hinzu. Dort steht, dass die Kommission im Falle einer „Bedrohung des Medienpluralismus“ koordinierte Maßnahmen ergreifen kann. Was als Bedrohung gilt, entscheidet sie selbst. Das ist eine Verschiebung, die historisch ist: Erstmals kann die EU-Kommission – eine Exekutive ohne direkte demokratische Legitimation – in nationale Medienmärkte eingreifen. Offiziell, um Freiheit zu sichern. Faktisch, um Kontrolle zu behalten.
Die großen Verlagshäuser und Rundfunkanstalten profitieren davon. Sie werden in den neuen Strukturen als „reliable sources“ geführt und sind damit algorithmisch bevorzugt. Ihre Artikel erscheinen zuerst, ihre Videos werden empfohlen, ihre Reichweite wächst. Die unabhängigen Medien hingegen geraten in einen ökonomischen Strudel. Wenn Spenden und Klickzahlen einbrechen, bricht das Geschäftsmodell zusammen. So wird wirtschaftlicher Druck zum Ersatz für offene Zensur. Niemand muss etwas verbieten, wenn man die Grundlagen der Sichtbarkeit entzieht.
Die Mechanismen sind längst in Betrieb. Ein interner Bericht der European Digital Media Observatory (EDMO), veröffentlicht im September 2025, beschreibt, wie „koordiniertes Fact-Checking“ mit den DSA-Algorithmen verknüpft wird. Wenn ein Faktenprüfer eine Veröffentlichung als „irreführend“ markiert, wird deren Sichtbarkeit automatisch reduziert, europaweit, ohne Anhörung, ohne Verfahren. Betroffene können nicht widersprechen, weil es keine offizielle Beschwerdestelle gibt. Die Entscheidung fällt in Sekunden und ist technisch nicht reversibel. In Brüssel nennt man das „automatisierte Integritätssicherung“. Für unabhängige Journalisten ist es das digitale Todesurteil.
Verantwortung wird entpolitisiert
Diese Entwicklungen haben einen gemeinsamen Nenner: Sie entpolitisieren Verantwortung. Die Politik verweist auf Plattformen, die Plattformen auf Algorithmen, und die Algorithmen auf „Regeln“. Niemand entscheidet, aber alle profitieren. Die EU kann sagen, sie bekämpfe Desinformation. Die Plattformen behaupten, sie handelten gesetzestreu. Und die großen Medien genießen die Früchte einer bereinigten Konkurrenz. Das Ergebnis ist ein Diskursraum, in dem formell jeder sprechen darf, aber nicht mehr alle gehört werden.
Zensur war früher sichtbar, heute ist sie messbar. Sichtbarkeit wird zur Währung politischer Akzeptanz. Wer in den Suchergebnissen auftaucht, gehört dazu. Wer verschwindet, ist irrelevant. Das verändert das Denken, auch in den Redaktionen selbst. Viele Journalisten sagen heute off the record, dass sie Themen meiden, die zu „negativer Sichtbarkeit“ führen könnten. NATO-Kritik, Energiekrisenpolitik, Pharmalobbys, das alles gilt als riskant. Nicht, weil es verboten wäre, sondern weil es den Algorithmus reizt. So entsteht Selbstzensur, nicht aus Angst vor Strafe, sondern aus Angst vor Unsichtbarkeit.
Neue Form des Schweigens
Die EU verteidigt das als Schutz der Demokratie. Aber wer Demokratie so versteht, verwechselt sie mit Verwaltung. Die freie Presse soll nicht harmonisch sein, sie soll streiten, kritisieren, bohren. Wenn sie das nicht mehr kann, weil jede Abweichung algorithmisch bestraft wird, verliert sie ihren Sinn. Europa steht damit vor einem Paradox: Es will sich vor Desinformation schützen und zerstört dabei genau das System, das Wahrheit durch Vielfalt ermöglicht.
Das Ergebnis ist eine neue Form von Schweigen. Sie ist nicht autoritär, sondern effizient. Kein Politiker befiehlt sie, kein Polizist überwacht sie, kein Richter verkündet sie. Sie entsteht durch technische Konformität, durch Systeme, die „neutral“ wirken, aber politisch strukturiert sind. Diese Neutralität ist der gefährlichste Mythos unserer Zeit. Denn sie verdeckt, dass die Kontrolle längst in der Infrastruktur selbst steckt.
Was Europa gerade baut, ist kein offenes Informationsnetz, sondern eine vernetzte Aufsicht über die Wahrnehmung. Eine Sphäre, in der Wahrheit das Ergebnis von Berechnungen ist und Öffentlichkeit eine Funktion der Sichtbarkeit. Man kann das Fortschritt nennen oder Sicherung. In Wirklichkeit ist es der Rückzug aus der Freiheit: leise, sauber, regelkonform.
Quellen:
- European Commission: How the Digital Services Act enhances transparency online
- European Commission: DSA Transparency Database
- European Parliament: Media Freedom Act enters into application to support democracy and journalism
- European Commission: European Media Freedom Act – New rules to protect media pluralism and independence
- European Commission: Commission harmonises transparency reporting rules under the Digital Services Act
- European Commission/Media Board: A new era for media regulation in Europe as the European Media Freedom Act’s main obligations become applicable
Titelbild: shutterstock / Elnur