Phase 2 des israelischen Völkermords: Besetzung von 53 Prozent des Gazastreifens, Morde, Segregation und gelbe Linie

Phase 2 des israelischen Völkermords: Besetzung von 53 Prozent des Gazastreifens, Morde, Segregation und gelbe Linie

Phase 2 des israelischen Völkermords: Besetzung von 53 Prozent des Gazastreifens, Morde, Segregation und gelbe Linie

Ein Artikel von Olga Rodríguez

Im Folgenden die Einschätzung von Olga Rodríguez, bekannte spanische Menschenrechtsaktivistin und Vor-Ort-Kennerin des Geschehens im Nahen Osten, insbesondere im Gazastreifen. Der Artikel erschien am 19. Oktober 2025 in der reichweitenstarken digitalen Zeitung elDiario.es, deren Mitbegründerin sie ist. Deutsche Übersetzung und Veröffentlichung durch Eckart Leiser mit dem Einverständnis der Autorin.

In einer Woche Waffenstillstand hat Israel 38 Menschen getötet, darunter mehrere Kinder, den Grenzübergang Rafah weiterhin blockiert und seine Besetzung von mehr als der Hälfte des Gazastreifens durch die Markierung einer Trennungslinie gefestigt.

In nur einer Woche seit der Ankündigung des Waffenstillstands hat die israelische Armee Dutzende Male gegen die Waffenruhe verstoßen, 38 Menschen getötet und mehr als hundert im Gazastreifen verletzt. Am Freitag tötete sie elf Mitglieder der Familie Abu Shaaban, die in einem Fahrzeug in Gaza-Stadt unterwegs waren: sieben Kinder, zwei Frauen und zwei Männer. Sie wollten zu ihrem Haus fahren, um zu sehen, ob es noch stand, und die Schäden zu begutachten. Das gelang ihnen nicht.

Israel besteht darauf, dass auf alle Personen geschossen wird, die die unsichtbare Trennungslinie – die sogenannte „gelbe Linie” – überqueren, die den Gazastreifen in zwei Teile teilt und im Rahmen des Plans von Donald Trump festgelegt wurde. Die palästinensische Reporterin Hind Khoudary erklärt aus Gaza, dass die Mehrheit der Bevölkerung keinen Zugang zum Internet und keine genaueren Informationen über den genauen Verlauf dieser Demarkationslinie hat.

Der israelische Verteidigungsminister hat angekündigt, dass die neue Grenze nun „mit speziellen durchgehenden Markierungen” vor Ort gekennzeichnet wird, was auf die offizielle Aneignung von mindestens 53 Prozent des Gebiets des Gazastreifens hinausläuft, und das ohne Ablaufdatum. Er bezeichnet diese als „politische und der Sicherheit dienende Trennlinie”.

Diese gelbe Grenze erscheint bereits auf den israelischen Karten, die derzeit von der Regierung veröffentlicht werden. Das ist wie 1949, als die sogenannte „Grüne Linie” gezogen wurde, um das von Israel während der Nakba von 1948 besetzte Gebiet zu markieren. Die grüne Linie sollte, ebenso wie heute die gelbe, nur vorübergehend sein, eine „Waffenstillstandslinie”, wurde aber zur De-facto-Grenze, bis die israelische Armee 1967 weiteres palästinensisches Gebiet eroberte.

Mit dieser neuen Markierung besiegelt Israel einen Teil seiner Kriegsziele: Gaza territorial zerreißen, die Bevölkerung in einem begrenzten Ghetto halten und einen weiteren Schritt in Richtung auf seine illegale Besetzung vollziehen.

Der Direktor der Forschungsgruppe „Forensic Architecture“, Eyal Weizman, hat ein Luftbild aus den 1960er-Jahren gezeigt, auf dem zu sehen ist, dass die jetzt von Israel gezogene „gelbe Linie” „in etwa mit der Grenze der Küstendüne des Gebiets übereinstimmt, wodurch Gaza den größten Teil seiner landwirtschaftlichen Flächen auf den fruchtbaren Böden im Osten verliert”.

Regelmäßige Verstöße

„Seit 2008/09 wiederholt Israel das gleiche Muster: Der israelische Waffenstillstand lautet: Du hältst still und ich schieße”, kritisierte die UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese diese Woche im Blick auf die Verstöße Israels gegen die Waffenruhe. Die Vorgehensweise ist nicht überraschend. Seit dem vor einem Jahr im Libanon vereinbarten Waffenstillstand hat Israel diesen mehr als 4.500-mal gebrochen, „Hunderte von Menschen, darunter auch Minderjährige, getötet, Zehntausende von Häusern zerstört und fünf Gebiete des Landes annektiert“, so der ehemalige britische Botschafter Craig Murray. Am gestrigen Freitag hat die israelische Armee erneut libanesisches Gebiet bombardiert.

Auch die illegale Besetzung des Westjordanlands wurde nicht gelockert, wo Israel weitere Gebiete annektiert hat und bereits den Bau von 22 neuen Siedlungen plant, den größten Landraub der letzten Jahrzehnte in dieser Region. Dort, in einem Dorf in der Nähe von Hebron, tötete die israelische Armee diese Woche ein weiteres Kind, den zehnjährigen Muhammad al Hallaq.

Damit sind seit Oktober 2023 im Westjordanland bisher 1.001 Menschen durch israelische Truppen und Siedler ums Leben gekommen. Ein Fünftel der Getöteten sind laut Zahlen der Vereinten Nationen Kinder. „Die Annexion des Westjordanlands muss rückgängig gemacht werden, und über alle Verstöße gegen das Völkerrecht muss Rechenschaft abgelegt werden“, betonte der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte, Volker Türk.

Der Waffenstillstand ist auf die Interessen Israels zugeschnitten. Er gibt grünes Licht für die Besetzung weiterer palästinensischer Gebiete im Gazastreifen, errichtet eine koloniale Kontrolle, sieht keine Rechenschaftspflicht vor und öffnet die Tür für einen langsamen Völkermord.

Der Waffenstillstand ändert den Ablauf, das Tempo und einige Methoden, schafft einen Rahmen, der besser auf die narrativen Zwänge der westlichen Regierungen abgestimmt ist, die mit den USA und Israel verbündet sind und ihn bereits als Vorwand nutzen, um keine Sanktionen gegen Tel Aviv zu verhängen. Mit ihm hören jedoch nicht die Verbrechen, die Segregation und die fortschreitende Enteignung des palästinensischen Volkes auf.

Mit ihm verzichtet die israelische Regierung aber nicht auf ihre Ziele: Vertreibung oder Zwangsumsiedlung der Bevölkerung des Gazastreifens, Kontrolle des Territoriums und endgültige Gestaltung des „Großisraels”, welches Gaza, das Westjordanland, Ostjerusalem, die syrischen Golanhöhen und Gebiete im Südlibanon einschließt. Am Montag verteidigte Premierminister Benjamin Netanjahu erneut die „israelische Souveränität” über Jerusalem, das Westjordanland und die syrischen Golanhöhen, alles illegal besetzte Gebiete.

Blockade

Diese Woche hat Israel erneut die Lieferung von lebensnotwendigen Gütern in den Gazastreifen blockiert und beschränkt diese nun auf etwa 300 Lastwagen pro Tag, was nicht ausreicht. Darüber hinaus hält es mehrere Grenzübergänge geschlossen, darunter den wichtigen Grenzübergang Rafah. Der Großteil der Bevölkerung lebt in Zelten oder anderen provisorischen Unterkünften, bei fallenden Temperaturen, und die Krankenhäuser verfügen weiterhin nicht über das Nötigste.

„Kinder und Babys ringen nach wie vor mit der Unterernährung; wir sehen einen Anstieg der Fälle von Durchfall, Krätze und Lungenentzündung in unseren Gesundheitszentren“, berichtet Save the Children. Hinzu kommen die zerstörten Familienstrukturen durch die Massaker.

In den letzten zwei Jahren wurden laut Angaben der Vereinten Nationen durch israelische Angriffe stündlich zwei Frauen und Mädchen getötet, insgesamt mehr als 33.000. „Heute fehlen mehr als einer Million Frauen und Mädchen Nahrungsmittel und 250.000 benötigen dringend Nahrungshilfe. Jede siebte Familie in Gaza wird von einer Frau geführt“, heißt es bei UN Women.

Luftaufnahmen des Gazastreifens zeigen ein von Bomben verwüstetes Gebiet, in dem ein Großteil der Gebäude beschädigt, zerstört oder einsturzgefährdet ist.

„Es gibt fünfzig Millionen Tonnen Schutt, vermischt mit menschlichen Knochen von Kindern und Erwachsenen, mit nicht detonierten Sprengstoffen und mit chemischen Rückständen und anderen Schadstoffen aus Waffen. Was soll damit geschehen?“, fragt die US-amerikanische Forscherin Phyllis Bennis vom „Transnational Institute“ und „Institute for Policy Studies“. „Hinter dem Begriff Wiederaufbau verbirgt sich eine neu gestaltete Besatzung durch wirtschaftliche Kontrolle und ausländische Verwaltung“, warnt sie.

Koloniale Hierarchie

Was vorangetrieben wird, ist nicht Frieden, sondern ein System der Festigung kolonialer Macht, das von den Vereinigten Staaten und Israel mit der Unterschrift Ägyptens, der Türkei und Katars und mit der Unterstützung anderer arabischer und europäischer Länder entworfen wurde. Der aufgezwungene Plan schafft einen Rahmen für die Kontrolle des Territoriums und der dort lebenden palästinensischen Bevölkerung. Der Waffenstillstand stoppt nicht die Herrschaftsstrukturen. Diese bestimmen, wer Gaza regieren, wer die Hilfe verwalten und wer vom Wiederaufbau profitieren soll.

Das Projekt des US-Präsidenten, Beschützer von Netanjahu, schließt die Palästinenser von den wichtigsten Entscheidungsebenen aus. Sein Entwurf sieht eine hierarchische Organisationsstruktur vor, an deren Spitze eine Regierungsbehörde namens „Internationale Übergangsbehörde für Gaza” steht, ein Begriff, der dem der „Provisorischen Koalitionsbehörde für den Irak” ähnelt, dem Namen der illegalen Besatzungsregierung des Irak im Jahr 2003.

Unterhalb dieser sollen wirtschaftliche Agenturen geschaffen werden, die Investitionen und Geschäfte im Bereich Stadtentwicklung und Wiederaufbau kontrollieren sollen, mit Konsortien internationaler Unternehmen an der Spitze. Außerdem sollen Sicherheitsteams und auf einer niedrigeren Ebene Komitees für humanitäre Hilfe eingerichtet werden. „Auf der untersten Ebene wird das Koordinierungsteam aus palästinensischen Technokraten stehen, von denen niemand weiß, wer sie sein werden und wie sie ausgewählt werden“, erklärt Bennis.

Die Überwachung der Palästinenser ist das Rückgrat des Plans, der auf derselben rassistischen Idee basiert, die vor mehr als einem Jahrhundert die britischen Mandate und französischen Protektorate in der gesamten arabischen Welt stützte, als der Kolonialismus noch nicht durch das Völkerrecht verboten war. Damals besetzten die Kolonialherren Gebiete mit der Begründung, sie müssten die „barbarischen Völker” zivilisieren, weil man denen nicht zutrauen könne, sich selbst zu regieren.

„Früher taten sie dies im Namen der Zivilisation. Heute nennen sie es Frieden”, kritisiert der palästinensisch-amerikanische Journalist Ahmed El Din.

Folter

Im Rahmen von Trumps Plan ist die dringendste Maßnahme weder die Beseitigung der riesigen Trümmermassen noch die Bergung der Leichen Tausender in Gaza verschütteter Palästinenser, sondern die Suche nach den Leichen der 18 vermissten israelischen Geiseln. Viele palästinensische Familien müssen warten, bis sie an der Reihe sind, ihre Toten zu suchen.

Diese Woche übergab Israel im Rahmen der getroffenen Vereinbarung Dutzende Leichen von verhafteten Palästinensern. Die meisten waren nicht mehr zu erkennen, wiesen Spuren von Misshandlung, Folter und summarischen Hinrichtungen auf, hatten gefesselte Arme und Beine und zeigten Anzeichen von Schlägen, Schnitten, Schnittwunden und Schussverletzungen.

Die Aussagen der mehr als 1.900 Palästinenser, die am Montag im Austausch gegen die letzten 20 lebenden israelischen Geiseln freigelassen wurden, berichten ebenfalls von Misshandlungen oder Folter. Dies gilt beispielsweise für Dr. Ahmad Mhanna, Direktor des Al-Awda-Krankenhauses in Gaza, der vor einem Jahr und zehn Monaten verhaftet wurde, oder für den 28-jährigen Mahmoud Abu Foul, der mit zerstörten Augen freigelassen wurde. „Sie haben mich durch wiederholte Elektroschocks erblinden lassen und mir dann die notwendige medizinische Behandlung verweigert“, klagt er.

Die meisten der aus israelischen Gefängnissen freigelassenen Palästinenser waren weder angeklagt noch verurteilt worden. Willkürliche Verhaftungen ohne Garantien und oft ohne Besuchsrecht sind in Israel gängige Praxis, wie Berichte von UN-Sonderberichterstattern und internationalen Menschenrechtsorganisationen belegen. Ein israelisches Gesetz erlaubt es, jeden Palästinenser, auch Minderjährige, ohne Anklage und ohne Gerichtsverfahren zu verhaften, wobei die Haft alle sechs Monate verlängert werden kann, was die Menschen de facto zu Geiseln macht.

Derzeit befinden sich von den 9.000 Palästinensern, die in israelischen Gefängnissen sitzen, mindestens 3.500 in dieser Situation: ohne Anklage und ohne Gerichtsverfahren. Unter ihnen sind etwa 400 Minderjährige, 52 Frauen und Dutzende von Ärzten und Gesundheitspersonal, die aus ihren eigenen Krankenhäusern entführt wurden.

Rassenhierarchie

Die Entmenschlichung der palästinensischen Bevölkerung ist normalisiert worden, und die pro-israelische Propaganda versucht nun, noch einen Schritt weiter zu gehen. Dies prangert die UN-Sonderberichterstatterin für Palästina, Francesca Albanese, an: „Die Welt weiß von keinen palästinensischen GEISELN [sic] aufgrund einer ‚Barriere hinsichtlich ihrer Spezies‘: In der Hierarchie des menschlichen Wertes werden Palästinenser nicht als vollwertige Menschen angesehen und können daher keine ‚Geiseln‘ in den Händen von vollwertigen Menschen sein. Wir sind immer noch dort: Barbarei, getarnt als Ordnung.“

Die rassistische Hierarchie, die das israelische Apartheid-System gegen die Palästinenser anwendet, wurde auch in den Plan von Trump und anderen internationalen Politikern, die ihn unterstützen, übernommen. Man schaut weg, wenn es um Beweise für Folter und Massenverbrechen geht. Man unterstützt weiterhin den Urheber des Völkermords und unterdrückt seine Opfer.

In diesem Sinne hat die israelische Organisation B’Tselem diese Woche darauf hingewiesen, dass „die Grundlage, die Israels Verbrechen in Gaza und im Westjordanland in den letzten zwei Jahren ermöglicht hat, nach wie vor intakt ist: die völlige Missachtung des Lebens und der Würde der Palästinenser im Namen der jüdischen Vorherrschaft. Die Besatzung und die Apartheid dauern mit voller Kraft an; die ständige Leugnung der Menschlichkeit und Identität der Palästinenser, die den Völkermord ermöglicht hat, dauert bis heute an.”

Die Direktorin von Amnesty International, Agnès Callamard, hat ebenfalls darauf hingewiesen, dass die Verbrechen weitergehen, und bedauert, dass die Europäische Union die Abstimmung über die Aussetzung einiger Punkte des Präferenzhandelsabkommens mit Israel aufgrund des „veränderten Kontextes“ zurückgezogen hat: „Ein Waffenstillstand bedeutet nicht das Ende des Völkermords, der illegalen Besatzung oder der Apartheid. Das Abkommen zwischen der EU und Israel muss ausgesetzt werden“, schrieb sie.

Nach zwei Jahren voller Massaker, Zwangsumsiedlungen und Hunger, aus denen es für den Großteil der Bevölkerung kein Entkommen gibt, verlangsamen sich in der zweiten Phase des israelischen Völkermords zwar das Tempo und die Zahl der Morde, doch sie hören nicht auf. Israel zerstört nach wie vor das palästinensische Volk durch Besatzung, Segregation, Einkerkerung hinter Mauern und Zäunen, Morde und Zwangsvertreibung. Trumps Plan verschleiert dieses neue Szenario, um weiterhin Apartheid und eine de facto militärische Besatzung zu ermöglichen, die den Palästinensern zusätzliches Territorium raubt.

Titelbild: tayifmukta/shutterstock.com